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Schon um eines effektiven Auslieferungsverkehrs Willen dürfen die rechtsstaatlichen Anforderungen an den ersuchenden Staat nicht überspitzt werden.
Auch die Rechtsprechung gelangt letztlich entgegen der „Einheits- und Mischformel“ zu einer stärker einzelfallbezogenen Sichtweise, allerdings erst auf verfahrensrechtlicher Ebene, nämlich bei der Frage, welche Anforderungen sie an die Annahme von drohenden Grundrechtsverletzungen im ersuchenden Staat stellt. Auf
dieser Ebene heilt sie somit zu einem gewissen Teil die Wunden, die sie mit ihrer
Einheitsbetrachtung auf der Ebene materiellen Rechts schlägt.
Die Nähe des Ergebnisses zur Einheits- und Mischformel verleiht den methodisch-dogmatischen Vorzügen der hier vertretenen flexiblen Konzeption besonderes
Gewicht. Ein Vorteil liegt zunächst darin, dass sie zumindest gedanklich Grundrechten und verfassungsrechtlichen Interessen zu optimaler Geltung verhilft, und keine
überschießenden Grundrechtsbeschränkungen mit sich bringt, wie sie die Einheitsund Mischformel nicht ausschließen kann. Grund dafür ist auch, dass sie zu einer
Auseinandersetzung mit den von der Auslieferung verfolgten Zwecken und deren
verfassungsrechtlichem Gewicht anregt, statt sie unter Hinweis auf die Völkerrechtsfreundlichkeit zu kaschieren.
B) Grundrechte als Anerkennungsverweigerungsgründe nach dem
Europäischen Haftbefehl
Droht eine Auslieferung aus Deutschland in vorhersehbarer Weise Grundrechte zu
verletzen, so muss sie nach dem Grundgesetz verweigert werden, unabhängig davon,
ob dem Ersuchen ein völkerrechtlicher Auslieferungsvertrag zu Grunde liegt oder
nicht,549 unabhängig somit auch davon, ob der völkerrechtlich zu qualifizierende
Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl die EU-Mitgliedstaaten zu einer Vollstreckungsverweigerung im Fall drohender Grundrechtsverletzungen berechtigt.550 Noch nicht beantwortet ist damit aber die Frage, ob eine solche Auslieferung auch nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses verweigert werden darf, oder aber
Deutschland mit einer Verweigerung Unionspflichten verletzen würde, ob also insoweit ein Konflikt zwischen grundgesetzlichen und unionsrechtlichen Vorgaben
besteht. Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob der Rahmenbeschluss
überhaupt einen zur Anerkennungs- bzw. Vollstreckungsverweigerung berechtigenden Grundrechtsvorbehalt enthält (I. und II.), und ob dieser mitgliedstaatliche oder
europäische Grundrechte zum Maßstab erhebt (III.). Die Antwort gestattet zugleich
eine Aussage dazu, inwieweit der Anerkennungsgedanke im Europäischen Haftbefehl verwirklicht wurde, inwieweit somit die Kritik an einem Übergabeautomatis-
549 Oben A VIII.
550 Zur völkerrechtlichen Einordnung des Rahmenbeschlusses oben Kapitel 1 B I 3 d.
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mus – gestützt auf ein umfassendes Verständnis des Anerkennungsgedankens –551
berechtigt ist.552
I. Unklarheiten nach Art. 1 Abs. 3 RbEuHb
Gem. Art. 1 Abs. 3 RbEuHb berührt der Rahmenbeschluss „nicht die Pflicht, die
Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 des Vertrages
über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“ Blekxtoon meint, die Vorschrift lese sich wie ein Mantra.553 Soweit nach Art. 1 Abs. 3 RbEuHb mit Art. 6 EU
höherrangiges Unionsprimärrecht zu beachten ist, besagt die Regelung Selbstverständliches. Die eigentliche Frage ist, ob die Pflicht zur Achtung so weit reicht, dass
aus ihr ein umfassender Anerkennungsverweigerungsgrund abgeleitet werden kann.
Da ein so umfassend verstandenes Achtungsgebot des Art. 1 Abs. 3 RbEuHb den
Anerkennungs- und Vertrauensgedanken in weitem Umfang in Frage stellen würde,554 erscheint eine Interpretation des Art. 1 Abs. 3 RbEuHb als Vollstreckungsverweigerungsgrund keinesfalls selbstverständlich.555
1. Unklarheiten im Spiegel der Umsetzungsgesetze der Mitgliedstaaten …
Die Umsetzungsgesetze der Mitgliedstaaten zeichnen ein uneinheitliches Bild. Unterschiede bestehen zunächst darin, dass manche den Anerkennungsgedanken akzentuiert haben, indem sie, wie etwa Österreich und Portugal,556 nicht aber Deutschland,
in Übereinstimmung mit Art. 1 Abs. 2 RbEuHb ausdrücklich auf den Grundsatz ge-
551 Nalewajko, in Joerden/Szwarc, S. 297, 302; Pernice, FS-Meyer, S. 359, 362; Vogel, in:
Grützner/Pötz, IRG, § 73 Rdrn. 133 ff.; Wessels/Hillenkamp, Rdn. 8 b; vgl. ferner die Hinweise bei van Ooijen, S. 11; Weigend, in: Schorkopf, S. 411.
552 Und wie sie insoweit etwa Herdegen, in: Schorkopf, S. 432, äußert.
553 In: Ders./van Ballegooij, S. 227; Unklarheiten machen auch Apap/Carerra, S. 13, und Weigend, in: Schorkopf, S. 411, aus.
554 Weswegen sich vor allem Vogel, in: Grützner/Pötz, IRG, § 73 Rdn. 138, gegen einen aus Art.
1 Abs. 3 RbEuHb abgeleiteten Anerkennungsverweigerungsgrund ausspricht; so im Ergebnis
auch Asp/von Hirsch/Frände, ZIS 2006, 512, 517; Zeder, FS-Miklau, S. 635, 646; Gleiches
müsste konsequenter Weise für all diejenigen gelten, für die mit dem Grundsatz gegenseitiger
Anerkennung ein Vollzugsautomatismus einhergeht, so etwa Abetz, S. 320; Kotzurek, ZIS
2006, 123, 124; Ligeti, S. 181 f.; Rosenthal, ZRP 2006, 105.
555 Wird so gleichwohl von weiten Teilen des Schrifttums verstanden: Böse, in:
Vogler/Wilkitzki, IRG, § 78 Rdn. 9; ders., in: Schorkopf, S. 203; Plachta, European Journal
of Crime 2003, 178, 184 Manacorda, in: Giudicelli-Delage/Manacorda, S. 33, 83; Zypries,
Grunwald, Krämer, Hailbronner, Weigend, Wasmeier, in: Schorkopf, S. 169, 210, 268, 397,
411, 422.
556 Exemplarisch § 3 Abs. 1 des österreichischen Bundesgesetzes über die justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-JZG), österreich.
BGBl. Teil 1 vom 30.4.2004 Nr. 36.
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genseitiger Anerkennung verwiesen haben. Auch haben die Mitgliedstaaten Art. 1
Abs. 3 RbEuHb in unterschiedlicher Weise Rechnung getragen. 11 Mitgliedstaaten,
darunter Deutschland, haben Art. 1 Abs. 3 RbEuHb ausdrücklich aufgegriffen, während sechs Staaten, darunter z.B. Luxemburg,557 dies unterlassen haben, angeblich,
weil sie eine entsprechende Bindung für selbstverständlich hielten.558 Die in den
Erwägungsgründen Nrn. 12 und 13 genannten Diskriminierungen haben verschiedene Umsetzungsgesetze in unterschiedlichem Umfang ausdrücklich zu Verweigerungsvorbehalten ausgestaltet,559 teilweise sogar spezielle, im Rahmenbeschluss
nicht angelegte Grundrechtsvorbehalte geschaffen – so etwa in England und Zypern
für den Fall der Diskriminierung wegen freiheitlichen Handelns.560
Bemerkenswert sind schließlich das irische und italienische Umsetzungsgesetz,
weil beide die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht nur im Fall einer
drohenden Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, sondern auch
bei Verletzung ihrer Verfassung verweigern.561
2. … und der Aussagen europäischer Institutionen
Mit ihrem Bericht zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses von Anfang 2006 trägt
die Europäische Kommission zur Verwirrung bei.562 Einerseits hält sie es „zwar für
legitim“, wenn Mitgliedstaaten sich die Verweigerung der Vollstreckung für den
557 Loi du 17 mars 2004 relative au mandat d'arrêt européen et aux procédures de remise entre
Etats membres de l'Union européenne (Luxemburgisches Umsetzungsgesetz), online abrufbar
unter www.eurowarrant.net (5.9.2008).
558 Die Kommission zählt in ihrem Annex to the Report from the Commission based on Article
34 of the Council Framework Decision of 13 June 2002 on the European arrest warrant and
the surrender procedures between Member States (revised version), COM(2006)8 final, S. 5,
hierzu u.a. Tschechien, Spanien, Ungarn und Polen. Nach Ansicht der Kommission halten
diese Mitgliedstaaten eine Bindung an die EMRK für selbstverständlich.
559 Näher hierzu Annex to the Report from the Commission based on Article 34 of the Council
Framework Decision of 13 June 2002 on the European arrest warrant and the surrender procedures between Member States (revised version), COM(2006)8 final, S. 5: Tschechien, Spanien, Ungarn, Polen.
560 Z.B. Art. 13 lit. d des zyprischen Umsetzungsgesetzes, Gesetz Nr. 133(I)/2004, Amtsblatt
Annex I(I) Nr. 3850, vom 30.4.2004, in Englisch online abrufbar bei www.eurowarrant.net
(5.9.2008).
561 Z.B. Art. 2 Abs. 1 lit. b Legge 22 aprile 2005, n. 69 (Italienisches Haftbefehlsgesetz), online
abrufbar unter www.eurowarrant.net (5.9.2008); hierzu Impalà, S. 38, und kritisch Annex to
the Report from the Commission based on Article 34 of the Council Framework Decision of
13 June 2002 on the European arrest warrant and the surrender procedures between Member
States (revised version), COM(2006)8 final, S. 6.
562 Überarbeiteter Bericht der Kommission vom 24.01.2006 auf der Grundlage von Artikel 34 des
Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die
Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, KOM(2006)8 endg., S. 6. Der Bericht ist
von dem Kommissionsvorschlag für den Rahmenbeschluss, auf den im Zusammenhang der
historischen Auslegung einzugehen sein wird, zu unterscheiden.
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Fall drohender Grundrechtsverletzungen vorbehalten. Andererseits rät sie, hiervon
nur „in Ausnahmefällen“ Gebrauch zu machen.563 Zudem kritisiert sie Großbritannien und Zypern,564 mit ihrem Vorbehalt für den Fall der Diskriminierung wegen
freiheitlichen Handelns Verweigerungsgründe geschaffen zu haben,565 die im Rahmenbeschluss nicht angelegt seien. Sähe die Kommission in Art. 1 Abs. 3 jedoch
einen umfassenden Grundrechtsvorbehalt, so dürfte sie die Erwägungsgründe Nrn.
12 und 13 nicht für abschließend erachten, und könnte Art. 1 Abs. 3 RbEuHb dann
auch Vorbehalte zur Vermeidung von Diskriminierungen wegen freiheitlichen Handelns decken.
Uneinheitlich erweisen sich auch die Aussagen des EuGH in seiner Entscheidung
zum Europäischen Haftbefehl einerseits, und des GA Colomer in den entsprechenden Schlussanträgen andererseits. Während der Generalnwalt Art. 1 Abs. 3
RbEuHb umfassend zu verstehen scheint,566 erblickt der EuGH in der Regelung –
zumindest ausdrücklich – nur eine an den Ausstellungsstaat gerichtete Bestimmung.567 Hieraus könnte die Schlussfolgerung gezogen werden, dass es dem Vollstreckungsstaat verwehrt sein könnte, sich auf Art. 1 Abs. 3 RbEuHb zu berufen.
II. Auslegung von Art. 1 Abs. 3 RbEuHb
Da der Wortlaut des Art. 1 Abs. 3 RbEuHb keine abschließende Aussage über die
Reichweite der Regelung gestattet, die Regelung jedenfalls nicht explizit ausdrücklich die Ausstellungsmitgliedstaaten adressiert, ferner auch ein Blick in andere
Sprachfassungen des Rahmenbeschlusses nicht für Klarheit sorgt,568 muss die Antwort auf die Frage nach dem Ordre-Public-Vorbehalt des Rahmenbeschlusses in teleologischer (1.) systematischer (2.) und historischer (3.) Perspektive gesucht werden.569 Neben Art. 1 Abs. 3 RbEuHb kommt auch den Erwägungsgründen Nrn. 12
und 13 RbEuHb als Auslegungsregeln Gewicht zu.570
563 Überarbeiteter Bericht der Kommission vom 24.01.2006 auf der Grundlage von Artikel 34 des
Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die
Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, KOM(2006)8 endg., S. 6.
564 Annex to the Report from the Commission based on Article 34 of the Council Framework
Decision of 13 June 2002 on the European arrest warrant and the surrender procedures between Member States (revised version), COM(2006)8 final, 5.
565 Oben Kapitel 1 B VII 2.
566 Schlussanträge zu EuGH, C-303/05, Europäischer Haftbefehl, Rdn. 60 f.
567 C-303/05, Europäischer Haftbefehl, Rdn. 53.
568 Art. 1 Abs. 3 RbEuHb – Englische Fassung: “This Framework Decision shall not have the
effect of modifying the obligation to respect fundamental rights and fundamental legal principles as enshrined in Article 6 of the Treaty on European Union. Französisch: “La présente décision-cadre ne saurait avoir pour effet de modifier l'obligation de respecter les droits fondamentaux…”; zur Relevanz der unterschiedlichen Sprachfassungen bei Auslegung völkerrechtlicher Vereinbarungen oben Kapitel 1 B I 3 d.
569 Zu Art und Weise der Auslegung von Rahmenbeschlüssen oben Kapitel 1 B I 3 d.
570 Apap/Carrera, S. 13.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Trotz seiner Eingriffsintensität hat die Europäische Kommission den Europäischen Haftbefehl zum Symbol einer EU-Strafrechtszusammenarbeit erhoben, die auf dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung beruht. Der Preis für den Anerkennungsgedanken ist der Abbau traditioneller Auslieferungsgrenzen wie des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit und der Nicht-Auslieferung eigener Staatsangehöriger. Stehen damit die Anforderungen des Europäischen Haftbefehls und der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes in Widerspruch zueinander? Um diese Frage zu beantworten, präzisiert der Autor die Reichweite der Einschränkungen traditioneller Auslieferungsgrenzen sowie deren grundrechtsschützenden Gehalt. So gelangt er zu einem differenzierten Befund: Das traditionelle Auslieferungsrecht mit seinen grundrechtsdogmatischen Ungereimtheiten war nicht so gut, der neue Anerkennungsmechanismus umgekehrt nicht so weit reichend, wie es in der Diskussion weithin den Anschein hat. Gleichwohl: Der unabgestimmte, kumulative Abbau von Auslieferungsgrenzen bestätigt letztlich die Sorge vor grundrechtswidrigen Verwerfungen in Folge des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung.