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VI. Reaktionen auf den Europäischen Haftbefehl
1. Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 3. Mai 2005, Rs. C-303/05
Im Rahmen eines von der belgischen Menschenrechtsvereinigung Advocaten voor
de Wereld eingeleiteten Verfahrens mit dem Ziel völliger oder teilweiser Nichtigerklärung des belgischen Umsetzungsgesetzes legte der belgische Schiedshof dem
EuGH zwei Fragen betreffend die Gültigkeit des Rahmenbeschlusses zur Vorabentscheidung vor:293 Ist der Rahmenbeschluss vereinbar mit Art. 34 Abs. 2 lit. b EU,
dem zufolge Rahmenbeschlüsse nur zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten angenommen werden können; Ist Art. 2 Abs. 2
RbEuHb insofern, als er bei den darin aufgeführten Straftaten die Überprüfung des
Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit abschafft, vereinbar mit Art. 6 Abs. 2 EU,
und zwar insbesondere mit dem durch diese Bestimmung gewährleisteten Gesetzlichkeitsprinzip in Strafsachen sowie mit dem Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung?
Der EuGH hat im Rahmen der Prüfung der vorgelegten Fragen keine Hinweise
auf eine Ungültigkeit des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl
und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten entdeckt.
Hinsichtlich der ersten Vorlagefrage steht es nach Ansicht des EuGH entgegen
dem Vorbringen von Advocaten voor de Wereld, wonach die die Materie des Europäischen Haftbefehls durch ein Übereinkommen hätte geregelt werden müssen, im
Ermessen des Rates, welcher der Handlungsformen des Art. 34 EU er den Vorrang
gibt (Rdn. 41). Insbesondere enthält Art. 31 Abs. 1 lit. a und b EU keine Angabe dazu, welcher Instrumente sich der Rat zur Beschleunigung einer solchen Zusammenarbeit der Justizbehörden bedienen muss, wie sie auch der Europäische Haftbefehl
bezwecken soll (Rdn. 34). Auch stelle Art. 34 Abs. 2 EU keine Rangfolge der in
dieser Bestimmung aufgezählten unterschiedlichen Rechtsinstrumente auf (Rdn. 37).
Für die vorliegende Untersuchung relevanter ist die Antwort des EuGH auf die
zweite Vorlagefrage. Advocaten voor de Wereld hatte in der Abschaffung der Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit für die Listendelikte des Art.
2 Abs. 2 RbEuHb einen Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip in Strafsachen erblickt. Dem tritt der EuGH entgegen. Der Rahmenbeschluss sei nicht auf eine Angleichung der fraglichen Straftaten hinsichtlich ihrer Tatbestandsmerkmale oder der
angedrohten Strafen gerichtet. Damit sei für die Definition der Straftaten weiterhin
das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats maßgeblich – selbst wenn diese „die Auflistung der Arten von Straftaten in dessen Art. 2 Abs. 2 wörtlich übernehmen.“ Der
Ausstellungsmitgliedstaat wiederum habe im Rahmen seines materiellen Strafrechts
die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, und somit den strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz zu achten, Art. 1 Abs. 3 RbEuHb 6 EU (Rdrn. 49 f.,
53).
293 Slg. 2007, I-0000.
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Auch verletzt der Rahmenbeschluss nicht deswegen den Grundsatz der Gleichheit
und Nichtdiskriminierung, weil die Unterscheidung zwischen den der Liste des Art.
2 Abs. 2 RbEuHb angehörigen Kategorien und den verblieben, das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit erfordernden nicht objektiv gerechtfertigt sei. Vielmehr durfte nach Ansicht des EuGH der Rat „auf der Grundlage des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung und angesichts des hohen Maßes an Vertrauen und Solidarität
zwischen den Mitgliedstaaten davon ausgehen“, dass die betroffenen Arten von
Straftaten entweder bereits auf Grund ihrer Natur oder auf Grund der Mindesthöchststrafe wegen der Schwere der Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit
und Ordnung ein Absehen von der beiderseitigen Strafbarkeit rechtfertigen (Rdn.
57).
Sofern die Mitgliedstaaten wegen der mangelnden Bestimmtheit des Art. 2 Abs. 2
RbEuHb den Rahmenbeschluss unterschiedlich durchführen würden, sei das aus
Perspektive des Gleichheitssatzes unproblematisch, weil der Rahmenbeschluss gerade nicht eine Angleichung des materiellen Strafrechts der Mitgliedstaaten bezwecke
(Rdn. 59).
Die Entscheidung folgt im Wesentlichen den Schlussanträgen des Generalanwaltes Colomer.294 Der Generalanwalt hatte zunächst die mit dem Europäischen Haftbefehl einhergehende „kopernikanische Wende“ betont (Rdrn. 43 ff.): „Es gibt keine
souveränen Staaten mehr, die in Einzelfällen zusammenarbeiten, sondern Mitglieder
der Europäischen Union, die verpflichtet sind, sich gegenseitig Hilfe zu leisten,
wenn Straftaten begangen werden, deren Verfolgung im allgemeinen Interessen
liegt.“ (Rdn. 45).295 . Ferner betonte Colomer, dass auch der dritte Pfeiler die im Urteil Pupino aufgezeigte „gemeinschaftliche Wirkung“ aufweise (Rdn. 43). Den
Rahmenbeschluss sieht er nicht nur durch das Anliegen gekennzeichnet, den Auslieferungsverkehr effektiver zu gestalten (Rdn. 65), sondern auch durch den umfassenden, vom ihm in Bezug genommenen Grundrechtsschutz: „Artikel 1 Absatz 3 enthält hierzu eine feierliche Erklärung, die, wenn sie nicht in den Text aufgenommen
worden wäre, sich von selbst verstünde“ (Rdn. 60).296 Demgegenüber hat der EuGH
in der Entscheidung selbst zumindest ausdrücklich in Art. 1 Abs. 3 RbEuHb nur eine
an den Ausstellungsstaat gerichtete Bestimmung erblickt (Rdn. 53). Einen Konflikt
mit dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz verneint Colomer schließlich bereits unter Hinweis auf den fehlenden Sanktionscharakter der Auslieferung (Rdn.
105).
294 Vom 12.9.2006.
295 Ders. in Fn. 40 weiter: „Niemand würde die Rechtshilfe bei der Übergabe eines Angeschuldigten zwischen einem Richter im Land Bayern und einem Richter in Niedersachsen oder
zwischen einem Richter in der Autonomen Gemeinschaft Katalonien und einem anderen in
Andalusien der Kategorie Auslieferung zuweisen, so dass sie auch nicht anzuwenden ist,
wenn die Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union erfolgt.“
296 Zum Grundrechtsschutz auch Rdn. 18.
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2. Schrifttum: Revolution oder Evolution
Der Europäische Haftbefehl hat im deutschen und internationalen Schrifttum eine
überaus lebhafte, in der Tendenz allerdings negative Resonanz erfahren,297 deren
Hauptströmungen hier kurz skizziert werden, bevor sie im Rahmen der Untersuchung der Veränderungen bei Grundrechtsvorbehalt, Erfordernis beiderseitiger
Strafbarkeit und Auslieferung eigener Staatsangehöriger näher berücksichtigt werden.298
In einem ersten Schritt wird bereits die Reichweite der mit dem Rahmenbeschluss
einhergehenden Veränderungen unterschiedlich beurteilt. Umstritten ist insbesondere, inwieweit das Prinzip gegenseitiger Anerkennung zu einem der Überprüfung an
Grundrechten entzogenen Auslieferungsautomatismus führt.299 Wer einen solchen
Automatismus, wie vor allem Vertreter der Auslieferungspraxis, auch weiterhin verneint, betont eher das evolutionäre Herkommen des Rahmenbeschlusses aus dem
schon bis dato geltenden multilateral europäischen Auslieferungsrecht;300 wer ihn
bejaht, wird im Europäischen Haftbefehl eher einen revolutionären Paradigmenwechsel sehen.301
In einem zweiten Schritt führen die unterschiedlichen Einschätzungen zur Reichweite der mit dem Rahmenbeschluss einhergehenden Veränderungen zu unterschiedlichen Bewertungen des Rahmenbeschlusses: Während die „Traditionalisten“
ihm aufgeschlossen gegenüberstehen,302 begegnen ihm die Anhänger einer ‚revolutionären’ Sichtweise mit einer zum Teil vehementen Ablehnung.303 Diese bezieht
297 Diese Einschätzung von Heintschel-Heinegg/Rohlff, GA 2003, 45, 46.
298 Zusammenstellung einer Reihe von Einwänden gegen den Europäischen Haftbefehl zum Beispiel bei Abetz, S. 321.
299 Unten Kapitel 2 B I.
300 Seitz, NStZ 2004, 546, 549; zur Diskussion in Italien Barazetta, in: Pedrazzi, S. 91, 116 f.:
D’Angelo, in: Kalb, S. 59, 75.
301 Ahlbrecht, StV 2005, 40 ff.; Krivel, IAP Newsletter Nr. 27, 14; Nestler, ZStW 116 (2004),
332, 336; Ranft, wistra 2005, 361 f.; die beiden Sichtweisen werden besonders plastisch im
italienischen Schrifttum einander gegenübergestellt, vgl. Barazetta, in: Pedrazzi, S. 91, 114;
ähnlich D’Angelo, in: Kalb, S. 59, 72 ff.; Manacorda, in: Giudicelli-Delage/Manacorda, S.
33, 46 ff.; differenzierend Massé, in: Cartier, S. 47, 50, 53 f.; eingehend auch GA Colomer,
Schlussanträge zu EuGH, C-303/05, Europäischer Haftbefehl, Rdn. 43: „Der Schritt von der
Auslieferung zum Europäischen Haftbefehl stellt eine kopernikanische Wende dar. Es ist offenkundig, dass beide demselben Zweck, nämlich der Übergabe eines Beschuldigten oder
Verurteilten an die Behörden eines anderen Staates zum Zweck der Strafverfolgung oder der
Strafvollstreckung dienen; an dieser Stelle enden aber die Übereinstimmungen.“ Rdn. 50: „Es
wird also weder ein zuvor nicht existierendes Rechtsinstitut erfunden, noch werden die Regelungen über die Auslieferung angeglichen; es werden vielmehr die Rechtsfiguren der Festnahme und der Übergabe im Rahmen der Rechtshilfe zwischen den Justizbehörden der Mitgliedstaaten harmonisiert.“
302 Barazetta, in: Pedrazzi, S. 91, 116 f.; Böhm, Stellungnahme, S. 1; Ettenhofer, S. 1; Hackner,
NStZ 2005, 311, 315; Hügel, in: Schorkopf, S. 371; Manacorda, in: Giudicelli-
Delage/Manacorda, S. 33, 88.
303 Z.B. Schünemann, ZRP 2003, 185.
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sich allerdings nicht allein auf mit dem Europäischen Haftbefehl einhergehende
Neuerungen, sondern nimmt diese auch zum Anlass zu einer grundsätzlicheren Kritik am Auslieferungssystem, etwa wenn sogar ein traditionelles Kennzeichen des
Auslieferungsrechts wie das formale Prüfungsprinzip in die Kritik einbezogen
wird.304
Trotz aller Uneinigkeit hinsichtlich Reichweite und Bewertung des Rahmenbeschlusses werden manche der mit ihm einhergehenden Veränderungen einhellig begrüßt. Hierzu zählen vor allem solche Vereinfachungen, die offensichtlich nicht auf
Kosten der Rechte des Verfolgten gehen, so etwa die Abschaffung des administrativen Bewilligungsverfahrens,305 das Anliegen, das komplexe, durch Mutter- und
Tochterkonventionen geprägte System des Europäischen Auslieferungsübereinkommens von 1957 durch ein einheitliches Regelungswerk (Erwägungsgrund Nr. 11
und Art. 31 Abs. 1 RbEuHb) zu ersetzen306 oder der Gebrauch eines einheitlichen
Formulars, mag insoweit der Vereinfachungseffekt auch dadurch beschränkt sein,
dass für das Problem der zahlreichen Sprachen, in denen der Haftbefehl verfasst
werden kann, keine Regelung getroffen wurde.307
Kritik richtet sich gegen den Europäischen Haftbefehl vor allem aus einer rechtsstaatlichen Perspektive und kristallisiert sich materiellrechtlich in erster Linie an der
im weiteren Verlauf näher zu betrachtenden Frage des Grundrechtsvorbehaltes sowie der Einschränkung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit.308 Auch die
Listentechnik und die Unschärfe der Fallgruppen des Art. 2 Abs. 2 RbEuHb werden
immer wieder bemängelt.309 Verfahrensrechtlich wird ein eindeutiges Bekenntnis zu
dem Recht auf eine angemessene Verteidigung in jeder Verfahrenslage vermisst,310
und eine generelle Aushöhlung der Beschuldigtenrechte befürchtet.311
VII. Umsetzung des Rahmenbeschlusses in Deutschland und den anderen
Mitgliedstaaten der Europäischen Union
Seitdem in Deutschland am 2.8.2006 die Neufassung des Europäischen Haftbefehlsgesetzes in Kraft getreten ist, haben alle EU-Mitgliedstaaten den Rahmenbeschluss
über den Europäischen Haftbefehl umgesetzt.
304 Zu letzterem kritisch Broß, Sondervotum zu BVerfGE 113, 273, S. 319, 323 f.
305 Lagodny, FS-Eser, S. 777, 782; Ligeti, S. 134; Vierucci, JICL 2004, S. 275, 276; von Heintschel-Heinegg/Rohlff, GA 2003, 45, 51.
306 Massé, in: Cartier, S. 47, 49; Wehnert, StraFo 2003, 358; von Heintschel-Heinegg/Rohlff, GA
2003, 45, 51.
307 Massé, in: Cartier, S. 47, 54, 58.
308 Wehnert, StraFo 2003, S. 358;
309 Zur Listentechnik Massé, in: Cartier, S. 47, 57; zur Unschärfe Ahlbrecht, JR 2005, 400, 404;
Blekxtoon, in: Blekxtoon/van Ballegooij, S. 229; Schünemann, ZRP 2003, 185, 187; Unger,
S. 100; Wehnert, StraFo 2003, 358.
310 Nestler, ZStW 116 (2004), 332, 340; Wehnert, StraFo 2003, 358.
311 Wehnert, StraFo 2003, 358.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Trotz seiner Eingriffsintensität hat die Europäische Kommission den Europäischen Haftbefehl zum Symbol einer EU-Strafrechtszusammenarbeit erhoben, die auf dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung beruht. Der Preis für den Anerkennungsgedanken ist der Abbau traditioneller Auslieferungsgrenzen wie des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit und der Nicht-Auslieferung eigener Staatsangehöriger. Stehen damit die Anforderungen des Europäischen Haftbefehls und der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes in Widerspruch zueinander? Um diese Frage zu beantworten, präzisiert der Autor die Reichweite der Einschränkungen traditioneller Auslieferungsgrenzen sowie deren grundrechtsschützenden Gehalt. So gelangt er zu einem differenzierten Befund: Das traditionelle Auslieferungsrecht mit seinen grundrechtsdogmatischen Ungereimtheiten war nicht so gut, der neue Anerkennungsmechanismus umgekehrt nicht so weit reichend, wie es in der Diskussion weithin den Anschein hat. Gleichwohl: Der unabgestimmte, kumulative Abbau von Auslieferungsgrenzen bestätigt letztlich die Sorge vor grundrechtswidrigen Verwerfungen in Folge des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung.