30
trifft.28 Vielmehr verlässt sich das Gericht darauf, dass dem ersuchenden Staat die
notwendigen Beweismittel vorliegen. Selbständig prüfen die deutschen Behörden
das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts nach § 10 Abs. 2 IRG erst dann,
wenn sie auf Grund besonderer Umstände nicht auf die Angaben des ersuchenden
Staates vertrauen können.29
Genehmigt das Gericht die Auslieferung mit nach § 13 Abs. 1 Satz 2 IRG unanfechtbarer, und damit allein durch das Bundesverfassungsgericht angreifbarer Entscheidung,30 so trifft der Bundesjustizminister oder eine von diesem beauftragte Behörde im so genannten Bewilligungsverfahren die abschließende Entscheidung über
das Auslieferungsersuchen. Weil sich der Minister in seiner Entscheidung auf au-
ßenpolitische Ermessenerwägungen beschränkt, steht dem Verfolgten nach umstrittener, aber überwiegender Meinung gegen die Bewilligungsentscheidung kein Recht
zur Anfechtung im Wege der Verfassungsbeschwerde zu.31
Regelmäßig wird der Verfolgte zur Absicherung der Auslieferung in Auslieferungshaft genommen, § 15 IRG.32 Auf einen Anfangsverdacht oder sogar einen
dringenden Tatverdacht wie in § 112 ff StPO kommt es im Rahmen von § 15 IRG
nicht an, weil auch insoweit das formelle Prüfungsprinzip gilt.
IV. Auslieferungsgrenzen nach IRG und im System des Europäischen
Auslieferungsübereinkommens von 1957
Die vom Oberlandesgericht zu prüfenden, hier als Auslieferungsgrenzen bezeichneten Auslieferungsvoraussetzungen und -hindernisse bestimmen sich für Deutschland
grundsätzlich nach dem IRG (sogl. 1. und 2.). Im Rahmen des multilateraleuropäischen Auslieferungsrechts sind allerdings vorrangig (§ 1 Abs. 3 IRG) die
Regelungen des auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen von 1957 aufbauenden gestuften Kooperationssystems zu beachten,33 dessen Geschichte sich
zugleich als eine des Abbaus von Auslieferungsgrenzen darstellt (3.).
28 Anders als traditionell in common-law-Staaten, s. Gilbert, S. 119; Zimmermann/Tams, in:
Burgi/Friauf/Höfling, Berliner Kommentar GG, Art. 16 Rdn. 76.
29 Näher hierzu unten Kapitel 3 A II 4.
30 Dass daher relativ häufig zur Klärung von Grundrechtsfragen anlässlich des Auslieferungsverfahrens berufen ist, s. zusammenfassend Graßhof/Backhaus, EuGRZ 1996, 445, 447.
31 Graßhof/Backhaus, EuGRZ 1996, 445; Schröder, BayVBl 1979, 231 (233); Vogler, in:
Vogler/Wilkitzki, IRG, § 12 Rdn. 21; von Bubnoff, Europäischer Haftbefehl, S. 26; für ein
Recht zur Verfassungsbeschwerde Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Hackner/Gleß, IRG, §
12 Rdn. 35.
32 Graßhof/Backhaus, EuGRZ 1996, 445: „meist unumgänglich“; Schünemann, in: Wolter, S.
215, 216.
33 Oben II.
31
1. Auslieferungsvoraussetzungen nach dem IRG: Erfordernis beiderseitiger
Strafbarkeit, beiderseitige Verfolgbarkeit, Gegenseitigkeitserfordernis
Zentrale Voraussetzung einer Auslieferung ist das sog. Erfordernis beiderseitiger
Strafbarkeit.34 Danach muss die dem Auslieferungsersuchen zu Grunde liegende Tat
nicht nur nach dem Recht des ersuchenden Staates (§ 2 IRG) sondern auch nach
deutschem Recht mit Strafe bedroht sein (vgl. § 3 IRG),35 wobei für das einschlägige
Delikt in Deutschland eine Mindesthöchststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe vorgesehen sein muss (§ 3 IRG). Demgegenüber kommt es nicht darauf an, ob die Tat
in dem ersuchenden Staat und in Deutschland als ersuchtem Staat unter einem identischen Gesichtspunkt strafbar ist.36
Die Prüfung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit ist neben dem formellen Prüfungsprinzip vor allem dadurch gekennzeichnet,37 dass der vom ersuchenden
Staat mitgeteilte Sachverhalt sinngemäß umzustellen ist. Damit müssen die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts fingiert und gegebenenfalls verwaltungs- oder
zivilrechtliche Vorfragen auf Deutschland bezogen werden.38 Umstritten – und im
weiteren Verlauf der Darstellung näher zu betrachten – ist die Frage, ob das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit bereits dann gewahrt ist, wenn das Verhalten nach
dem Recht Deutschlands als ersuchtem Staat nur tatbestandlich und rechtswidrig
war,39 oder ob es darüber hinaus auch schuldhaft gewesen sein muss, und einer
Strafbarkeit auch keine Strafausschließungs- und -aufhebungsgründe entgegenstehen
dürfen.40 Insoweit lässt sich schlagwortartig zwischen abstrakter und konkreter beiderseitiger Strafbarkeit unterscheiden.41
In engem Zusammenhang mit dem Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit steht
das Schlagwort beiderseitige Verfolgbarkeit. Der Begriff versammelt eine Reihe von
Strafverfolgungsvoraussetzungen, die – wie etwa die Verjährung oder die Amnestie
– Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld flankieren. Das IRG formt
diese Anforderungen jedoch abgesehen von dem Fall des § 9 IRG – Verjährung plus
Vorliegen deutscher Gerichtsbarkeit – grundsätzlich nicht zu Auslieferungsgrenzen,
um dem Verfolgten keine „Flucht in die Verfahrenshindernisse“ zu gestatten.42
34 Zur Bedeutung des Erfordernisses Benz, S. 1; Oehler, ZStW 81 (1969), 142 f.; Rohlff, S. 83;
Vogler ZStW 81 (1969), 163, 171; Williams, in: Eser/Lagodny, S. 535, 550 f. ferner unten
Kapitel 3.
35 Der Tatbegriff orientiert sich an dem des § 264 StPO, vgl. von Bubnoff, Europäischer Haftbefehl, S. 26.
36 Von Bubnoff, S. 48.
37 Zum formellen Prüfungsprinzip näher unten Kapitel 3 A II 4.
38 Näher unten Kapitel 3 A II 3 .
39 So Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Hackner/Gleß, IRG, § 3 Rdrn. 11 ff., 15.
40 Dies verlangen OLG Karlaruhe, NJW 1991, 2225; von Bubnoff, S. 28; Vogler, in: Vogler/
Wilkitzki, IRG, § 3 Rdrn. 5 ff.
41 Vogler, in: Vogler/Wilkitzki, IRG, § 3 Rdn. 9, erscheint allerdings die Verwendung dieses
Begriffspaares im Schrifttum nicht ganz einheitlich.
42 Schomburg, in: Schomburg/Lagodny/Hackner/Gleß, IRG, § 9 Rdn. 28.
32
Gem. § 5 IRG müssen ein Auslieferungsvertrag oder eine Zusicherung des ersuchenden Staates im Einzelfall gewährleisten, dass auch im umgekehrten Fall der ersuchende Staat einem vergleichbaren deutschen Begehren entspricht – sog. Prinzip
der Gegenseitigkeit.
2. Auslieferungshindernisse
a) Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG, §§ 6, 8, 9, 11 IRG
Nach IRG und Grundgesetz kann der Auslieferung eine Reihe von Hindernissen entgegenstehen.
Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG verbietet die Auslieferung Deutscher.43
Als Ausdruck des Vorrangs innerstaatlicher Aburteilung ist nach § 9 IRG eine
Auslieferung unzulässig, wenn die Tat bereits durch ein deutsches Gericht abgeurteilt oder das ihretwegen in Deutschland eingeleitete Verfahren in qualifizierter
Weise eingestellt worden ist.44 Zugleich vermeidet die Norm eine eine mehrfache
Verurteilung des Täters wegen derselben Tat, auch wenn das Verbot der Doppelbestrafung nach deutschem Verständnis grundsätzlich nur innerstaatlich wirkt und daher ohne besondere Regelung und außerhalb des § 9 IRG einem Auslieferungsersuchen nicht entgegensteht.45
Der traditionelle Ausschluss der Auslieferung wegen militärischer oder politischer Straftaten gem. §§ 6 Abs. 1, 7 IRG zielt darauf, eine Einmischung in politische
Auseinandersetzungen innerhalb fremder Staaten auszuschließen.46 Das eigentliche
Problem der Regelung liegt darin, den Begriff des politischen Deliktes so zu definieren, dass er echte politische Überzeugungstäter erfasst, ohne einen Missbrauch durch
die politische Etikettierung von Gewalttaten zu gestatten. Im Lichte dieser Bemühungen ist § 6 Abs. 1 Satz 2 IRG zu sehen, der eine Berufung auf den „politischen“
Charakter einer Straftat gegenüber einem Auslieferungsbegehren ausdrücklich ausschließt, wenn dem Betroffenen die Beteiligung an Völkermord oder an einem vorsätzlichen Tötungsdelikt vorgeworfen wird.47
In engem Zusammenhang mit dem Recht auf politisches Asyl schließt § 6 Abs. 2
IRG eine Auslieferung im Fall drohender Verfolgung oder Bestrafung wegen Rasse,
Religion, Staatsangehörigkeit, politischer Anschauungen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe aus.48
43 Eingehend unten Kapitel 4 A.
44 Zur ratio des § 9 IRG Weigend, JuS 2000, 105, 108.
45 BVerfGE 75, 1; Schomburg, StV 1997, 383; Weigend, JuS 2000, 105, 108.
46 Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Hackner/Gleß, IRG, § 6 Rdn. 1; Vogler, in:
Vogler/Wilkitzki, IRG, § 6 Rdn. 5.
47 Weigend, JuS 2000, 105, 108.
48 Allerdings decken sich die Voraussetzungen des Verbotes der Auslieferung wegen politischer
Verfolgung und der Gewährung politischen Asyls nicht, BVerfGE 60, 348.
33
§ 8 IRG verbietet die Auslieferung, sofern dem Betroffenen im ersuchenden Staat
die Todesstrafe droht. Anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn der ersuchende Staat
verbindlich, und in einer strengen Anforderungen standhaltenden Weise zusichert,49
dass von der Verhängung der Todesstrafe im konkreten Fall abgesehen oder sie wenigstens nicht vollstreckt wird.50
Nach § 11 IRG darf die Auslieferung schließlich nur zum Zweck der Aburteilung
(oder Strafvollstreckung) wegen bestimmter, im Auslieferungsersuchen genannter
Taten gewährt werden – sog. Spezialitätsgrundsatz. Die Regelung bezweckt einen
Ausgleich zwischen dem Interesse des ersuchenden Staates an umfassender Strafverfolgung und dem Schutz des Verfolgten vor übermäßiger Beeinträchtigung.51 Um
die Spezialität der Auslieferung abzusichern, kann Deutschland vom ersuchenden
Staat verbindliche Zusicherungen für eine Beschränkung der Strafverfolgung bzw.
-vollstreckung auf die dem Ersuchen zu Grunde liegende Tat sowie dafür verlangen,
dass der ersuchende Staat auch nicht ohne ausdrückliche Zustimmung Deutschlands
an einen dritten Staat weiterliefert oder abschiebt. Abgerundet wird der Schutz des
Verfolgten dadurch, dass ihm nach Abschluss des Strafverfahrens und einer etwaigen Strafvollstreckung eine Frist eingeräumt werden muss, in der er den ersuchenden Staat verlassen kann, ohne den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes zu verlieren
(„Schonfrist“, § 11 Abs. 2 Nr. 2 IRG).
b) Der Ordre Public-Vorbehalt des § 73 IRG
Die §§ 6 und 7 IRG schützen unmittelbar Grundrechte des Verfolgten. Daneben ist
aber eine Reihe von weiteren Grundrechtskonflikten denkbar, die ihre Ursache in
der Auslieferung haben, zugleich aber nicht von speziellen Normen des IRG erfasst
werden.52 Eine flexible Reaktion insoweit gestattet „an unangemessen versteckter
Stelle“53 die in Anlehnung an Art. 6 EGBGB sogenannte Ordre Public-Klausel des §
73 Satz 1 IRG.54 Danach darf Rechtshilfe nicht geleistet werden, „wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde.“
49 Zu den Anforderungen OLG Celle, StV 1999, 264, 265.
50 Neben der unmittelbar nur den vertraglosen Auslieerungsverkehr betreffenden Regelung des
§ 8 IRG bereitet die Frage Schwierigkeiten, wie der Gefahr drohender Todesstrafe im ersuchenden Staat begegnet werden kann, wenn ein Auslieferungsvertrag insoweit kein Recht zur
Verweigerung der Auslieferung vorsieht, vgl. einerseits Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Hackner/Gleß, IRG, § 8 Rdrn. 11 ff., andererseits BVerfG 18, 112 ff. Die Antwort hängt letztlich von der Frage ab, inwieweit Grundrechte einer Auslieferung auf vertraglicher Grundlage auch ohne vertraglichen Grundrechtsvorbehalt entgegenstehen können.
51 Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Hackner/Gleß, IRG, § 11 Rdrn. 1; Weigend, JuS 2000,
105, 109.
52 Näher hierzu unten Kapitel 2 A.
53 Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Hackner/Gleß, IRG, § 73 Rdn. 1.
54 Vogel, in: Vogler/Wilkitzki, IRG, § 73 Rdn. 2.
34
Unmittelbar gilt § 73 IRG nur für den vertraglosen Rechtshilfeverkehr. Daneben
aber hat § 73 IRG Bedeutung als Kristallisationspunkt einer mittlerweile umfangreichen, auch den vertraglichen Auslieferungsverkehr erfassenden Rechtsprechung
zum internationalen Menschenrechtsschutz erlangt.55
3. ‚Mutter- und Tochterkonventionen’ im multilateral-europäischen
Auslieferungsverkehr: Eine Geschichte des Abbaus von Auslieferungsgrenzen
Dreh- und Angelpunkt des multilateral-europäischen Auslieferungsverkehrs ist Art.
1 EuAlÜbk. Denn diese Regelung ist es, die eine Auslieferungspflicht der Unterzeichnerstaaten bei Vorliegen der vertraglichen Voraussetzungen begründet. Die auf
dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen von 1957 aufbauenden multilateralen europäischen Abkommen haben diese Pflicht unberührt gelassen und allein
deren Voraussetzungen modifiziert. Erst der Europäische Haftbefehl hat die Auslieferung auf eine neue, das Europäische Auslieferungsübereinkommen verdrängende
Grundlage gestellt. Die an das Europäische Auslieferungsübereinkommen von 1957
anknüpfenden multilateralen Tochterübereinkommen haben die Auslieferungsgrenzen schrittweise und insgesamt eher zurückhaltend reduziert.
a) Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit und Grundsatz beiderseitiger
Verfolgbarkeit
Ausgangspunkt der Entwicklung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit im
multilateralen Auslieferungsrecht Europas ist der im weiteren Teil der Untersuchung
eingehender zu betrachtende Art. 2 EuAlÜbk. In etwa entsprechen dessen Anforderungen denen des § 2 IRG.
Während das Schengener Durchführungsübereinkommen von 1990 das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit unverändert ließ, senkte das nur vorläufig und zwischen einem Teil der Unterzeichnerstaaten zu praktischer Anwendung gelangte EU-
Auslieferungsübereinkommen die Mindeststrafdrohung im ersuchenden Staat ab
(Art. 2 Abs. 1 EU-AuslÜbk) und verzichtete erstmals gänzlich auf das Erfordernis
beiderseitiger Strafbarkeit, wenn auch nur in den Bereichen des Terrorismus und
Drogenhandels (Art. 3).56
Ferner hat das EU-Auslieferungsübereinkommen im Bereich der ‚beiderseitigen
Verfolgbarkeit’ das von Art. 10 EuAlÜbk aufgestellte Auslieferungshindernis der
Verjährung gelockert.
55 Vogel, in: Vogler/Wilkitzki, IRG, § 73 Rdn. 4.
56 Näher unten Kapitel 3 A I.
35
b) Das Verbot der Auslieferung eigener Staatsangehöriger
Art. 16 Abs. 2 GG bestimmte ausnahmslos, dass Deutsche nicht ausgeliefert werden
dürfen. Seit 2000 eröffnet nunmehr der Satz 2 des Art. 16 Abs. 2 GG die Möglichkeit, durch Gesetz eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof zu treffen, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind. Auf Grund des verfassungsrechtlichen Verbots der Auslieferung Deutscher konnte Deutschland bis zum Inkrafttreten der Neuregelung des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG solche auslieferungsvertraglichen Bestimmungen nicht umsetzen, die die Auslieferung eigener Staatsangehöriger vorsahen. Das Europäische Auslieferungsübereinkommen (1957) ging
grundsätzlich von der Auslieferung eigener Staatsangehöriger aus, räumte nach Art.
6 EuAlÜbk aber jedem Unterzeichnerstaat das Recht ein, die Auslieferung abzulehnen. Während das Schengener Durchführungsübereinkommen hinsichtlich der Frage
der Auslieferung eigener Staatsangehöriger nichts änderte, verpflichtete Art. 7 des
EU-AuslÜbk die Mitgliedstaaten erstmals im Grundsatz zur Auslieferung eigener
Staatsangehöriger, wenn dessen Absatz 2 den Mitgliedstaaten auch die zeitlich befristete (Abs. 3) Möglichkeit einräumte, sich weiterhin die Nichtauslieferung eigener
Staatsangehöriger vorzubehalten.
c) Der Abbau weiterer Auslieferungsgrenzen im multilateral europäischen
Auslieferungsrecht
Dem Grundsatz der Gegenseitigkeit (vgl. § 5 IRG) wird im vertraglichen Auslieferungsverkehr regelmäßig durch die wechselseitigen Vertragspflichten Rechnung getragen.57 Daher können sich die Unterzeichnerstaaten nach Art. 2 Abs. 7 EuAlÜbk
nur für vom Abkommen nicht erfasste Handlungen auf den Grundsatz der Gegenseitigkeit berufen.
Die in Art. 14 EuAlÜbk vorgesehenen Abweichungen vom Spezialitätserfordernis – Zustimmung des ersuchten Staates oder des Verfolgten, Verstreichen der
Schonfrist – entsprechen weitgehend Art. 11 Abs. 2 IRG. Art. 66 SDÜ lockerte das
Spezialitätsprinzip sacht dadurch, dass es den ausdrücklichen Verzicht des Verfolgten im vereinfachten Auslieferungsverfahren für unwiderruflich erklärte. Art. 9 EU-
VereinfAuslÜbk sah erstmals die Möglichkeit vor, dass die Mitgliedstaaten prinzipiell auf den Spezialitätsgrundsatz verzichteten, sofern der Verfolgte dem zustimmte. Art. 10 des EU-AuslÜbk schließlich setzte den Spezialitätsgrundsatz in verschiedenen Fällen – insbesondere wenn die weitere Handlung keine Freiheitsstrafe nach
sich zog – außer Kraft, unabhängig davon, ob der ersuchte Staat seine Zustimmung
erklärt hatte oder nicht.
57 Von Bubnoff, Europäischer Haftbefehl, S. 26.
36
Art. 2 des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen und Art. 50, 63 SDÜ reduzierten die Auslieferungsausnahme für Fiskaldelikte nach Art. 5 EuAlÜbk, bevor Art. 6 EU-AuslÜbk sie weitgehend eliminierte.
Das Auslieferungsverbot im Fall der politischen Tat in Art. 3 EuAlÜbk ähnelt
demjenigen nach § 6 IRG. Art. 1 des Terrorismus-Übereinkommens des Europarates
von 1977 schloss terroristische Taten aus dem den Kreis der politischen Taten aus.58
Darüber hinaus schnitt Art. 5 EU-AuslÜbk generell den Einwand politischer Motivation einer Straftat ab.59
Das Auslieferungsverbot bei drohender Todesstrafe des § 8 IRG findet sein völkerrechtliches Gegenstück in dem von Art. 11 EuAlÜbk eingeräumten Recht, von
einer Auslieferung in einem solchen Fall abzusehen. Allerdings setzt schon der Beitritt zum Europarat voraus, dass die Todesstrafe zuvor abgeschafft worden ist.60
B) Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und der Grundsatz
gegenseitiger Anerkennung
Neben der Darstellung des traditionellen Auslieferungsrechts dient ein Überblick
über den Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl der besseren Einordnung
der im Mittelpunkt der Untersuchung stehenden Veränderungen in den Bereichen
Grundrechtsgeltung, beiderseitige Strafbarkeit und (Nicht-)Auslieferung eigener
Staatsangehöriger. Eine knappe Darstellung der Entstehungsgeschichte des Rahmenbeschlusses (nachfolgend II.), seiner wesentlichen Regelungen (III.) und ratio
(IV.), der an ihm geübten Kritik (VI.) sowie seiner Umsetzung (VII.), vor allem in
Deutschland, ergänzen eine Auseinandersetzung mit den besonders relevanten Aspekten seiner Rechtsnatur (I.) und des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung (V.).
I. Die unionsrechtliche Handlungsform des Rahmenbeschlusses nach
Art. 34 Abs. 2 lit. b EU
Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um einen Rahmenbeschluss gem.
Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EU. Mit dem Vertrag von Amsterdam ist der Rahmenbeschluss an die Stelle der gemeinsamen Maßnahme nach Art. K.3 Abs. 2 lit. b EU
a.F. getreten. Während letztere hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist,61 hat
58 Europäisches Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus, BGBl. 1978 II 321; 1978 II
907; abgedruckt auch bei Wasmeier, S. 250 ff.
59 Hierzu auch der vom Rat der EU am 26. Mai 1997 gebilligte „Erläuternde Bericht“, ABl.
1997 C 191/13.
60 So von Bubnoff, Europäischer Haftbefehl, S. 40, unter Hinweis auf einen aus dem Protokoll
Nr. 6 zur EMRK abgeleiteten Satz des Völkergewohnheitsrechts.
61 Satzger, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 34 EU Rdn. 9.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Trotz seiner Eingriffsintensität hat die Europäische Kommission den Europäischen Haftbefehl zum Symbol einer EU-Strafrechtszusammenarbeit erhoben, die auf dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung beruht. Der Preis für den Anerkennungsgedanken ist der Abbau traditioneller Auslieferungsgrenzen wie des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit und der Nicht-Auslieferung eigener Staatsangehöriger. Stehen damit die Anforderungen des Europäischen Haftbefehls und der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes in Widerspruch zueinander? Um diese Frage zu beantworten, präzisiert der Autor die Reichweite der Einschränkungen traditioneller Auslieferungsgrenzen sowie deren grundrechtsschützenden Gehalt. So gelangt er zu einem differenzierten Befund: Das traditionelle Auslieferungsrecht mit seinen grundrechtsdogmatischen Ungereimtheiten war nicht so gut, der neue Anerkennungsmechanismus umgekehrt nicht so weit reichend, wie es in der Diskussion weithin den Anschein hat. Gleichwohl: Der unabgestimmte, kumulative Abbau von Auslieferungsgrenzen bestätigt letztlich die Sorge vor grundrechtswidrigen Verwerfungen in Folge des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung.