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chen, darüber hinaus. Dies galt auch für die so genannte EU-Zwillingsübereinkommen,22 nämlich das Übereinkommen über vereinfachte Auslieferungsverfahren
zwischen den Mitgliedstaaten der EU von 199523 und das EU-Auslieferungsübereinkommen von 1996 (EU-AuslÜbk).24 Zwar erscheinen beide als ‚Wegweiser’ des
Europäischen Haftbefehls,25 doch blieb ihre praktische Bedeutung deswegen begrenzt, weil weder Frankreich noch Italien sie ratifizierten, und sie daher nur ein Teil
der EU-Mitgliedstaaten vorläufig anwandte (vgl. Art. 18 Abs. 4 EU-AuslÜbk).26
Ausweislich des Art. 31 RbEuHb tritt der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl an die Stelle sämtlicher der genannten multilateral-europäischen
Auslieferungsabkommen. Dennoch blieb auch nach Vereinbarung des Rahmenbeschlusses das herkömmliche Geflecht multilateral-europäischer Auslieferungsübereinkommen dort relevant, wo es an einer Umsetzung des Rahmenbeschluss fehlte,
wie etwa in Deutschland in der Zeit zwischen dem ersten und zweiten Umsetzungsgesetz.
In Deutschland kommt im vertraglichen Auslieferungsverkehr das seit 1982 gültige Gesetz über Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) nur subsidiär zur
Anwendung (§ 1 Abs. 3 IRG). Relevant wird es vor allem in verfahrensrechtlicher
Hinsicht, da die Auslieferungsübereinkommen insoweit überlicherweise nur beschränkte Vorgaben machen. Uneingeschränkt gilt das IRG ferner im vertraglosen
Auslieferungsverkehr. Hinsichtlich seiner materiellen Anforderungen entspricht es
weitgehend dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen von 1957.27
III. Auslieferungsverfahren
Die Einzelheiten des Auslieferungsverfahrens regeln in Deutschland die §§ 10 ff.
IRG.
Erreicht ein Auslieferungsersuchen Deutschland, so durchläuft es ein zweistufiges
Verfahren. Zunächst überprüft das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk der Betroffene ermittelt worden ist (§§ 13, 14 IRG), im so genannten Zulässigkeitsverfahren,
ob die Auslieferung rechtlich zulässig ist. Grundsätzlich überprüft es dabei jedoch in
kontinentaleuropäischer Tradition auf Grundlage des sog. formellen Prüfungsprinzips nicht, ob den Verfolgten ein Tatverdacht – welchen Grades auch immer –
22 Begriff bei von Bubnoff, Europäischer Haftbefehl, S. 8.
23 Übereinkommen vom 10. März 1995 auf Grund von Art. K. 3 des Vertrages über die Europäische Union über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der
Europäischen Union, ABl. 1995 C 78/2.
24 Übereinkommen vom 27. September 1996 auf Grund von Artikel K.3 des Vertrages über die
Europäische Union über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union, Abl. 1996 C 313/12.
25 So von Bubnoff, Europäischer Haftbefehl, S. 8.
26 Zur Ratifikation in Deutschland vgl. Ratifikationsgesetz vom 7.9.1998, BGBl. 1998 II, S.
2253; Bekanntmachung über die vorläufige Anwendung BGBl. 1999 II, S. 707.
27 Weigend, JuS 2000, 105, 107.
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trifft.28 Vielmehr verlässt sich das Gericht darauf, dass dem ersuchenden Staat die
notwendigen Beweismittel vorliegen. Selbständig prüfen die deutschen Behörden
das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts nach § 10 Abs. 2 IRG erst dann,
wenn sie auf Grund besonderer Umstände nicht auf die Angaben des ersuchenden
Staates vertrauen können.29
Genehmigt das Gericht die Auslieferung mit nach § 13 Abs. 1 Satz 2 IRG unanfechtbarer, und damit allein durch das Bundesverfassungsgericht angreifbarer Entscheidung,30 so trifft der Bundesjustizminister oder eine von diesem beauftragte Behörde im so genannten Bewilligungsverfahren die abschließende Entscheidung über
das Auslieferungsersuchen. Weil sich der Minister in seiner Entscheidung auf au-
ßenpolitische Ermessenerwägungen beschränkt, steht dem Verfolgten nach umstrittener, aber überwiegender Meinung gegen die Bewilligungsentscheidung kein Recht
zur Anfechtung im Wege der Verfassungsbeschwerde zu.31
Regelmäßig wird der Verfolgte zur Absicherung der Auslieferung in Auslieferungshaft genommen, § 15 IRG.32 Auf einen Anfangsverdacht oder sogar einen
dringenden Tatverdacht wie in § 112 ff StPO kommt es im Rahmen von § 15 IRG
nicht an, weil auch insoweit das formelle Prüfungsprinzip gilt.
IV. Auslieferungsgrenzen nach IRG und im System des Europäischen
Auslieferungsübereinkommens von 1957
Die vom Oberlandesgericht zu prüfenden, hier als Auslieferungsgrenzen bezeichneten Auslieferungsvoraussetzungen und -hindernisse bestimmen sich für Deutschland
grundsätzlich nach dem IRG (sogl. 1. und 2.). Im Rahmen des multilateraleuropäischen Auslieferungsrechts sind allerdings vorrangig (§ 1 Abs. 3 IRG) die
Regelungen des auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen von 1957 aufbauenden gestuften Kooperationssystems zu beachten,33 dessen Geschichte sich
zugleich als eine des Abbaus von Auslieferungsgrenzen darstellt (3.).
28 Anders als traditionell in common-law-Staaten, s. Gilbert, S. 119; Zimmermann/Tams, in:
Burgi/Friauf/Höfling, Berliner Kommentar GG, Art. 16 Rdn. 76.
29 Näher hierzu unten Kapitel 3 A II 4.
30 Dass daher relativ häufig zur Klärung von Grundrechtsfragen anlässlich des Auslieferungsverfahrens berufen ist, s. zusammenfassend Graßhof/Backhaus, EuGRZ 1996, 445, 447.
31 Graßhof/Backhaus, EuGRZ 1996, 445; Schröder, BayVBl 1979, 231 (233); Vogler, in:
Vogler/Wilkitzki, IRG, § 12 Rdn. 21; von Bubnoff, Europäischer Haftbefehl, S. 26; für ein
Recht zur Verfassungsbeschwerde Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Hackner/Gleß, IRG, §
12 Rdn. 35.
32 Graßhof/Backhaus, EuGRZ 1996, 445: „meist unumgänglich“; Schünemann, in: Wolter, S.
215, 216.
33 Oben II.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Trotz seiner Eingriffsintensität hat die Europäische Kommission den Europäischen Haftbefehl zum Symbol einer EU-Strafrechtszusammenarbeit erhoben, die auf dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung beruht. Der Preis für den Anerkennungsgedanken ist der Abbau traditioneller Auslieferungsgrenzen wie des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit und der Nicht-Auslieferung eigener Staatsangehöriger. Stehen damit die Anforderungen des Europäischen Haftbefehls und der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes in Widerspruch zueinander? Um diese Frage zu beantworten, präzisiert der Autor die Reichweite der Einschränkungen traditioneller Auslieferungsgrenzen sowie deren grundrechtsschützenden Gehalt. So gelangt er zu einem differenzierten Befund: Das traditionelle Auslieferungsrecht mit seinen grundrechtsdogmatischen Ungereimtheiten war nicht so gut, der neue Anerkennungsmechanismus umgekehrt nicht so weit reichend, wie es in der Diskussion weithin den Anschein hat. Gleichwohl: Der unabgestimmte, kumulative Abbau von Auslieferungsgrenzen bestätigt letztlich die Sorge vor grundrechtswidrigen Verwerfungen in Folge des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung.