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„Die vertraglichen Grundlagen, die wir haben, müssen
den veränderten Rahmenbedingungen angepasst werden,
wenn die Europäische Union in der Welt von morgen bestehen will.“
(Angela Merkel, Rede vor dem Europäischen Parlament
am 17. Januar 2007 in Straßburg)
A. Einleitung und Gang der Untersuchung
Die europäische Integration steht und fällt mit der Harmonisierung des Rechts der
Mitgliedstaaten. Doch wie lässt sich eine solche am besten bewerkstelligen? Welche
Harmonisierungskonzepte existieren in Europa und welche Risiken bergen sie? Vor
dem Hintergrund dieser Fragestellungen untersucht die vorliegende Dissertation die
Berufsaufsicht der Ärzte und Psychotherapeuten in Deutschland und Großbritannien. Von besonderem Interesse ist dabei die Einflussnahme der am 20. Oktober
2005 in Kraft getretenen Berufsanerkennungsrichtlinie 2005/36/EG1 auf die nationale Aufsichtsarbeit. Fokus der Betrachtung bilden die deutschen Aufsichtssysteme.
Insgesamt soll ein Beitrag zur Diskussion um die europaweite Harmonisierung einzelner Berufs- und Standesrechte geleistet werden.
Die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, dass mittelbar die Grundfreiheiten
zu einer Aufweichung der nationalen Berufsregeln führen können, will man Inländern nicht Rechte vorbehalten, die EG-Ausländern gemeinschaftsrechtlich garantiert
sind.2 Im Zuge dessen wächst allgemein die Sorge um die Qualitätserhaltung der
beruflichen Leistungen. Insbesondere mit dem sog. „Bologna-Prozess“3 wird die
1 Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7.9.2005 über die
Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. EU Nr. L 255 vom 30.9.2005, S. 22). Nachfolgend nur noch „Richtlinie“ oder „Berufsanerkennungsrichtlinie“ genannt. Nicht näher bezeichnete Artikel sind solche der Richtlinie.
2 Vgl. z. B. EuGH, Urt. vom 11.12.2003, Rs. C-322/01, Doc Morris, Slg. 2003, S. I-14887. Das
Urteil führte zu einer Aufweichung der Werbeverbote. Bei Apotheken wird Werbung mittlerweile akzeptiert, weil diese sich im Wettbewerb als Einzelhandelsunternehmen behaupten
müssen. Die Berufsordnungen verbieten daher nur bestimmte, als wettbewerbswidrig angesehene Handlungen, z. B. den Verzicht auf Zuzahlungen (z. B. § 12 Nr. 5 Berufsordnung Apotheker Hessen) oder die kostenlose Abgabe von Medikamenten (z. B. § 12 Nr. 6 Berufsordnung Apotheker Hessen).
3 Dem Bologna-Prozess liegt eine Deklaration 29 europäischer Bildungsminister auf einem
Treffen 1999 in Bologna zugrunde. Demnach wurden folgende Zielsetzungen deklariert: Ein
System leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse und ein zweistufiges System von
Studienabschlüssen („undergraduate/graduate“) zu schaffen; ein Leistungspunktesystem
[nach dem European Credit Transfer System („ECTS-Modell“)] einzuführen; die Mobilität
durch Beseitigung von Mobilitätshemmnissen und die europäische Zusammenarbeit im Be-
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Besorgnis eines Qualitätsverlusts nationaler Ausbildungssysteme in Verbindung
gebracht. Befürchtet wird, eine über die Berufsqualifikation geschaffene Definition
von Mindeststandards könne die bezweckte Stärkung der Freizügigkeitsrechte in ihr
Gegenteil umkehren, wenn nicht gleichzeitig eine Harmonisierung der Ausbildungssysteme erfolge. Die Gefahr wird in der Förderung unterschiedlicher Ausbildungsstandards und Leistungsprofile von Migranten gesehen.4 Eine Harmonisierung der
Ausbildungssysteme strebt auch die in Deutschland und Großbritannien begrüßte
Berufsanerkennungsrichtlinie an.5
Die Harmonisierung von Berufsqualifikationen kann jedoch nicht ohne gleichzeitige Harmonisierung der nationalen Aufsichtsmechanismen erfolgen. So muss zur
Gewährleistung von Sicherheit und öffentlichem Wohl auch im Binnenmarkt eine
Wirtschaftsüberwachung gewährleistet sein.6
Nur durch eine effektive Aufsicht können Berufs- und Ausbildungsstandards in
Europa gesichert werden. Die Harmonisierung mitgliedstaatlicher Berufsrechte als
Grundlage der Aufsichtsarbeit wird dabei als aktiver Beitrag zur weiteren Binnenmarktintegration und Mobilität der Berufsangehörigen angesehen.7 In diesem Zusammenhang stellt sich die vorliegende Arbeit der Frage, ob die der Richtlinie
zugrunde liegende Konzeption eine Chance für eine einheitliche, „europäische Berufsaufsicht“ bietet.
Prägend für die untersuchten Heilberufe sind vor allem die therapeutische Verantwortung für Patienten und ihre grundsätzlich nicht gewerbliche Eigenschaft. Sie
verstehen sich deshalb auch als „freie Berufe“.8 Während der Arztberuf eine lange
Tradition der Reglementierung aufweist, ist die europaweite Reglementierung des
noch jungen Psychotherapeutenberufs nicht abgeschlossen. Von der Berufsanerkennungsrichtlinie wird letzterer deshalb auch nicht ausdrücklich benannt.
Die Vorgehensweise der Untersuchung ist folgende: Konzept und Hintergrund
der Berufsanerkennungsrichtlinie werden vorgestellt und erläutert (B.). Im Rahmen
dessen erfolgt eine Auseinandersetzung mit den europäischen Harmonisierungskonzepten und dem der Richtlinie zu Grunde liegenden Konzept. Danach werden die
reich der Qualitätssicherung sowie die europäische Dimension in der Hochschulausbildung zu
fördern. Vgl. auch Oppermann, Europarecht, § 28, Rn. 29 mit weiteren Nachweisen.
4 Vgl. Henssler, EuZW 2003, S. 229 (233).
5 Vgl. Scottish Parliament, Health Committee 19th Meeting, 2006 (Session 2) Tuesday 12
September, Bericht, S. 77/78, abrufbar unter http://scottish.parliament.uk, Stand: 15.1.2007;
Pressemitteilung vom 28.3.2007 des Bundesministerium für Gesundheit, abrufbar auf der
Homepage des Ministeriums unter http://www.bmg.bund.de, Stand: 6.4.2007.
6 Vgl. Winkelmüller, Verwaltungskooperation bei der Wirtschaftsaufsicht im EG-Binnenmarkt,
S. 72; Möstl EuR 2002, S. 318 (325), der darauf hinweist, dass die Gemeinschaft, wenn sie
Materien mitgliedstaatlicher Normsetzung vergemeinschaftet und damit den Mitgliedstaaten
die Möglichkeit zur eigenständigen Erfüllung anerkannter Staatsaufgaben (wie Sicherheitsgewährleistung, Gesundheitsschutz etc.) aus der Hand nimmt, selbst an die Stelle der Mitgliedstaaten treten müsse, um die Einlösung der vormals staatlichen Aufgaben zu garantieren.
Vgl. auch Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2000, Art. 14 EG, Rn. 11.
7 Vgl. Stumpf, in Dauses, Handbuch EU-Wirtschaftsrecht, E/II, Rn. 120.
8 Vgl. Lippert, in Ratzel/Lippert, Kommentar zur MBO der deutschen Ärzte, § 1, Rn. 5.
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Aufsichtssysteme für Ärzte und Psychotherapeuten in Deutschland und Großbritannien aufgezeigt und verglichen (C.). Es folgt eine Darstellung der gemeinschaftsrechtlichen Ansätze einer einheitlichen Berufsaufsicht sowie der diesbezüglichen
Ansätze der Berufsanerkennungsrichtlinie (D.). Die Einflussnahme einzelner Richtlinienvorschriften auf die nationalen Aufsichtssysteme nach ihrer Umsetzung wird
erörtert (E.). Von Interesse wird dabei vor allem die Auswirkung der von der Richtlinie vorgesehenen Amtshilfe und Verwaltungszusammenarbeit sein. Schwerpunkt
bildet die Untersuchung der haftungsrechtlichen Aspekte der Richtlinienumsetzung
für die Arbeit der deutschen Heilberufekammern.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Arbeit widmet sich der Einflussnahme der Berufsanerkennungsrichtlinie 2005/36/EG auf die Berufsaufsicht über Ärzte und Psychotherapeuten in Deutschland und Großbritannien. Im Rahmen dessen erfolgt eine Auseinandersetzung mit den europäischen Harmonisierungskonzepten und dem Rechtskonzept der Berufsanerkennungsrichtlinie. Die Autorin erörtert die Auswirkungen einzelner Richtlinienvorschriften nach ihrer Umsetzung, insbesondere auf die deutschen Heilberufekammern. Sie analysiert dabei insbesondere die von der Richtlinie vorgegebene Verwaltungszusammenarbeit im Bereich der Berufsaufsicht sowie amtshaftungsrechtliche Aspekte, die sich im Rahmen der Aufsichtsarbeit der Berufskammern stellen.