199
III. Der maßgebliche Zeitpunkt – Prinzip und Rezeption durch die Richtlinie
In Bezug auf den für die Bewertung der Sachbeschaffenheit maßgeblichen Zeitpunkt
lässt sich ebenfalls feststellen, dass sowohl länder- als auch vertragstypenübergreifend eine weitgehende Übereinstimmung bestand. Zwar verknüpften nicht alle
Rechtsordnungen den maßgeblichen Augenblick so eindeutig mit dem Gefahrübergang wie die deutsche Rechtsordnung. Die Untersuchung hat aber gezeigt, dass auch
für die Rechtsordnungen Frankreichs und Englands überwiegend ein Zeitpunkt
maßgeblich war, der mit dem Gefahrübergang korrelierte.885 Nach der hier vertretenen Ansicht ist für das Sachleistungsvertragskonzept der Richtlinie der Zeitpunkt
des Gefahrübergangs ebenfalls maßgeblich. Die Richtlinie übernimmt insoweit ein
länder- und vertragstypenübergreifendes Prinzip der Herstellungs- und Veräußerungsverträge.
IV. Ergebnis zu den Haftungsvoraussetzungen
Für die Bestimmung des sachschuldnerischen Solls galten vertragstypen- und länderübergreifend einheitliche Prinzipien. Diese Einheit macht sich die Richtlinie in
erfreulicher Weise zunutze, indem sie zur Inhaltsbestimmung des sachschuldnerischen Solls primär subjektive Kriterien heranzieht und grundsätzlich eine Konsentierung voraussetzt.886 Unterschiede zeigten sich zwar in konzeptioneller Hinsicht,
weil einige Haftungsregime für bestimmte Situationen die Abschwächung des Konsenserfordernisses vorsahen.887 Eine funktionale Betrachtung verdeutlichte jedoch,
dass die Divergenzen geringfügiger Natur waren und sich tatsächlich kaum auswirkten.888 Abweichungen gegenüber der Richtlinie haben sich insoweit gezeigt, als dass
einige Haftungsregime das Bestehen einer tatbestandlichen Geringfügigkeitsschwelle vorsahen.889 Doch die nähere Betrachtung der Rechtspraxis verdeutlichte, dass die
Abweichungen tatsächlich weit weniger ausgeprägt waren, als es auf den ersten
Blick erschien. So tendierte das jeweils gelebte Vertragsrecht auch bei den abweichenden Haftungsregimen deutlich in Richtung der Regelung, die auch das Sachleistungsvertragskonzept vorsieht: Überwiegend musste der Sachschuldner eine „perfekte“ Leistung erbringen, um einer Haftung zu entgehen.890 Die Untersuchung zeigte ferner, dass eine einheitliche Pflicht des Sachschuldners zur „Perfektion“ vorzugswürdig ist.891 Durch das Abstellen auf den Zeitpunkt des Gefahrübergangs für
die Bewertung der Sachbeschaffenheit übernimmt das Sachleistungsvertragskonzept
885 S. Kap. 2, 3 u. 4, jeweils B. II. 2. und C. II. 3.
886 S. o. unter I. 1. a), 2.
887 S. o. unter I. 1. c).
888 S. o. unter I. 2. a), b).
889 S. o. unter II. 1., 2.
890 S. o. unter II. 2. a).
891 S. o. unter II. 2. b), c).
200
der Richtlinie ein überwiegend bestehendes europäisches Haftungsprinzip.892 In der
Gesamtbewertung ergibt sich, dass das vereinfachende Konzept eines Sachleistungsvertrags in der Fassung der Richtlinie eine ebenso moderne wie erfreuliche
Vereinheitlichung der Haftungsvoraussetzungen darstellt.
892 S. o. unter III.
201
C. Rechtsvergleich der Haftungsfolgen
Nachdem sich die Tragfähigkeit des Sachleistungsvertragskonzepts in Bezug auf die
Haftungsvoraussetzungen festgestellt werden konnte, ist zu prüfen, ob sich eine
gleichlautende Aussage auch für die Ausgestaltung der Haftungsfolgen treffen lässt.
I. Das Recht zur Auswahl des Rechtsbehelfs
Es stellt sich zunächst die Frage, ob die untersuchten Rechtsordnungen im Falle der
Haftung des Sachschuldners wegen einer Beschaffenheitsabweichung dem Sachschuldner, dem Sachgläubiger oder einer weiteren Partei das Recht über die Auswahl des Rechtsbehelfs zugestanden.
1. Bestehende Haftungsprinzipien
Bei vergleichender Betrachtung aller untersuchten Haftungsregime ergibt sich als
vertragstypen- und länderübergreifendes Prinzip, dass die Auswahl des Rechtsbehelfs im Grundsatz dem Sachgläubiger zuerkannt wurde.893 Es hat sich aber gezeigt,
dass einige Rechtsordnungen diese grundsätzliche Entscheidung in ihrer Wirkung
beschränkten, indem sie die Bindung der Gerichte an die Wahl des Sachgläubigers
nicht vorschrieben.894 In Deutschland und England existierten zwar jeweils vertragstypenübergreifend auf nationaler Ebene einheitliche Prinzipien, denn die Bindung
der Gerichte an die Wahl des Sachgläubigers richtete sich nicht nach dem Vertragstypus. Jedoch sah die englische Rechtsordnung für die Nacherfüllung („specific performance“) eine „discretion of the court“ vor.895 Das englische Recht differenzierte
also hinsichtlich der Bindung der Gerichte an die Wahl des Sachgläubigers nach der
Art des Rechtsbehelfs. Die deutschen Gerichte hingegen waren bei Vorliegen der
Tatbestandsvoraussetzungen an die Wahl des Sachgläubigers gebunden.896 Das französische Recht zeichnete ein verwirrendes Bild. Nach welchen Kriterien sich die unterschiedliche Bindung der Gerichtete richtete, ergab sich nicht eindeutig. Zum einen schien es sich auszuwirken, welchem Vertragstypus der jeweilige Lebenssachverhalt zuzuordnen war. Aus der umfassenden Anwendung des „droit commun“ im
Herstellungsvertragsrecht folgte die umfangreiche Eröffnung der „discrétion“ der
Gerichte. Zum anderen schien auch die Art der Abweichung die Bindungswirkung
zu beeinflussen.897 Eine Bindung der Gerichte an die Wahl des Sachgläubigers be-
893 S. Kap. 2 B. III. 1. u. C. III. 1.; Kap. 3 B. III. 2. u. C. III. 1.; Kap. 4 B. III. 2. u. C. III. 2.
894 Sivesand, S. 239.
895 S. Kap. 3 B. III. 2. u. C. III. 2.
896 S. Kap. 2 B. III. 1. u. C. III. 1.
897 Gegen die Annahme, dass auch die Art des Rechtsbehelfs von Bedeutung war, spricht die
Tatsache, dass eine Vertragsauflösung aufgrund eines „vice caché“ nicht im Ermessen des
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Herstellungs- und Veräußerungsverträge spielen im Wirtschaftsalltag eine überragende Rolle. Mithilfe der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie hat der europäische Gesetzgeber starken Einfluss auf den Kernbereich der mitgliedstaatlichen Zivilrechtsordnungen ausgeübt und bisher überwiegend eigenständige Vertragstypen einheitlichen Regelungen unterworfen.
Der Autor setzt sich rechtsvergleichend mit der Frage auseinander, inwiefern die vorgesehene Gleichbehandlung der Verträge rechtlich und wirtschaftlich möglich ist und ob die Umsetzung der Richtlinie einen Gleichlauf des Vertragsrechts tatsächlich bewirkt hat. Dazu untersucht er die Gewährleistung bei Herstellungs- und Veräußerungsverträgen in den Rechtsordnungen Deutschlands, Englands und Frankreichs vor und nach der Umsetzung der Richtlinie. Abweichungen und Unterschiede hinterfragt er in ihrem wirtschaftlichen Kontext, wobei er sich auch mit Aspekten der ökonomischen Analyse des Zivilrechts auseinandersetzt.