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Kapitel IX:
Die Verpflichtungen zur Untersuchung der Sache
1. Im deutschen Recht
a. Die Kettenglieder als Käufer bei beiderseitigen Handelskäufen
aa. Die Untersuchungs- und Rügeobliegenheit nach § 377 HGB
§ 478 Abs. 6 BGB sieht vor, dass § 377 HGB unberührt bleibt. Nach dieser Vorschrift hat der Käufer bei beiderseitigen Handelskäufen1058 (vgl. §§ 343 f. HGB)
die Ware unverzüglich zu untersuchen, soweit dies nach ordnungsgemäßem Geschäftsgang tunlich ist, und entdeckte Mängel dem Verkäufer unverzüglich anzuzeigen. Dasselbe gilt auch für erst später entdeckte Mängel (§ 377 Abs. 3 HGB).
Unterbleibt die Mängelrüge, dann gilt die Ware als genehmigt (§ 377 Abs. 2 und
Abs. 3, 2. HS HGB)1059, sofern der Verkäufer den Mangel nicht arglistig verschwiegen hat (§ 377 Abs. 5 HGB). Die ratio dieser Regelung liegt im Bedürfnis
nach zügiger Abwicklung der Rechtsverhältnisse und Rechtssicherheit im Handelsverkehr sowie nach einer sachgerechten Risikoverteilung zwischen Verkäufer und Käufer. 1060 Je mehr Zeit vergeht, desto größer wird die Beweisnot für jeden Verkäufer.1061 Vor allem für den Hersteller der Sache am oberen Ende der Lieferkette ist eine schnelle Information über die Mangelhaftigkeit der Ware von
großer Bedeutung, da er sich dann rechtzeitig gegen seine Zulieferer wenden
kann. Wie gesagt, finden die Erleichterungen von § 478 f. BGB (und damit auch
1058 Ein solcher liegt vor, wenn es sich für beide Vertragsparteien um ein Handelsgeschäft handelt. Dies setzt wiederum voraus, dass sowohl der Verkäufer als auch der Käufer Kaufleute
sind. Ausführlich zum persönlichen Anwendungsbereich von § 377 HGB Janssen, Die
Untersuchungs- und Rügepflichten, S. 49. Der Unternehmer im Sinne von § 14 BGB unterscheidet sich vom Kaufmann. Fraglich ist, ob § 377 HGB auch auf nichtkaufmännische
Unternehmer ausgedehnt werden soll. Im Rahmen der Lieferkette sind aber die Unternehmer zumeist Kaufleute. Vgl. zu diesem Problem Höpker, Verkäuferregress, S. 305 f.;
MüKo HGB-Grunewald, § 377, Rn. 8 ff.
1059 Zur Genehmigungsfiktion s. Janssen, Die Untersuchungs- und Rügepflichten, S. 183 ff.
1060 MüKo HGB-Grunewald, § 377, Rn. 3; Janssen, Die Untersuchungs- und Rügepflichten,
S. 29 und eingehend 41 ff.; Magnus, in: FS Siehr, S. 429 (435); vgl. auch Karampatzos,
in: Papanikolaou u.a., Das neue Recht der Verkäuferhaftung, Rn. 456 zu den unterschiedlichen Wertentscheidungen der Regelungen über den „normalen“ Kauf und den Handelskauf (im Zusammenhang mit Artt. 38, 39 CISG). Im zweiten wird der zügigen und endgültigen Klärung der Rechtsverhältnisse beim Mängelfall Vorrang gegeben.
1061 BGH BB 1978, 1489.
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§ 479 Abs. 2 BGB) auf die Zulieferbeziehungen der Warenhersteller keine Anwendung.1062
Die in § 478 Abs. 6 BGB enthaltene Klarstellung, die eine Selbstverständlichkeit zu sein erscheint, hat ihre Gründe in dem vorangegangenen Gesetzgebungsverfahren. In dessen Rahmen wurde erwogen, durch eine Änderung von § 378
HGB1063 die Rügeobliegenheit der Unternehmer für den Fall der Regressnahme
auszuschalten. § 378 HGB-RegE lautete: „Hat der Käufer die Ware vor Entdeckung oder Erkennbarkeit des Mangels ganz oder teilweise im normalen
Geschäftsverkehr verkauft oder der normalen Verwendung entsprechend verbraucht oder verändert, bleiben seine Rechte wegen des Mangels der Ware erhalten.“ Durch diese Regelung sollte vermieden werden, dass der Händler seine
Rechte im „Rückweg“1064 der Ware verliert, wenn er auf deren „Hinweg“ eine
Rüge oder Anzeige unterlassen habe.1065 Der Regress wäre auch bei unterlassener
Mängelrüge nicht ausgeschlossen, wenn der Händler die Sache vor Entdeckung
oder Erkennbarkeit des Mangels im normalen Geschäftsverkehr weiterverkauft
hätte. Ein Weiterverkauf an Verbraucher war nicht erfordert; § 378 HGB-RE hätte
praktisch zur Abschaffung der kaufmännischen Rügeobliegenheit für jeden Verkäuferrückgriff geführt. Diese Regelung stieß im Schrifttum auf heftige Kritik.1066
Sie wurde als eine ungerechtfertigte Privilegierung des Letztverkäufers und eine
Verletzung der Interessen der vorgelagerten Kettenglieder angesehen. Außerdem
werde durch § 377 HGB vermieden, dass die Händler verspätet als mangelhaft
erkannte Waren zur Sicherung ihrer eigenen Ansprüche an Verbraucher weiterverkaufen.1067 Deswegen wurde § 378 HGB-RegE auf Vorschlag des Bundesrates1068 aus dem Gesetzesentwurf gestrichen. Für die Änderung gebe es keinen
Regelungsbedarf, denn die Genehmigungsfiktion des § 377 Abs. 2 HGB trete
schließlich nur dann ein, wenn der Mangel erkennbar gewesen, aber dennoch
nicht gerügt worden sei.
1062 s. dazu oben unter IV.2.f.
1063 Die Gleichstellung von Aliud- und Zuweniglieferung zu dem Sachmangel im § 434 Abs.
3 BGB hat § 378 HGB a.F. überflüssig gemacht.
1064 Kritisch zu diesem Begriff Jud, ZfRV 2001, 201 (218).
1065 RegBegr zu § 478 Abs. 4 des RegE, in: Canaris, Schuldrechtsreform 2002, S. 879.
1066 s. Ernst/Gsell, ZIP 2001, 1389 (1393); Jud, ZfRV 2001, 201 (218); von Sachsen Gessaphe,
RIW 2001, 721 (732); Schubel, JZ 2001, 1113 (1118 f.); vgl. auch Böhle, Der Rückgriff,
S. 173 f., der eine Reihe von Vorteilen aus der Geltung der Rügeobliegenheit auch im
Regressfall anführt. Eine europarechtliche Verpflichtung zur Streichung der Rügeobliegenheit sehen aber Kircher, ZRP 1997, 290 (294); Reich, NJW 1999, 2397 (2400); Janssen,
Die Untersuchungs- und Rügepflichten, S. 229 und 236 („Zutreffend geht § 378 HGB-
DiskE von einer Unanwendbarkeit des § 377 HGB aus, sofern die Ware im normalen
Geschäftsverkehr verkauft wurde. Nur so kann der Regress des Letztverkäufers gegen seinen Vorverkäufer ermöglicht bzw. erhalten werden.“); im Ergebnis ebenso Kelwing, Die
Mängelhaftung des Letztverkäufers, S. 228 f.
1067 Wind, Der Lieferanten- und Herstellerregress, S. 150; Mankowski, NJW 2006, 865 (865);
Kölmel, Das Regressrecht bei internationalen Lieferketten, S. 101.
1068 s. Stellungnahme des Bundesrates vom 13.07.2001, Beschluss-Drucks. 338/01, S. 85.
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Nach § 377 HGB ist jeder Händler – also auch der Letztverkäufer und jedes
Kettenglied – verpflichtet, die Ware unverzüglich nach Ablieferung zu untersuchen und dem Lieferanten erkennbare Mängel unverzüglich zu rügen, um die
Genehmigungsfiktion zu vermeiden. Den Gliedern der Lieferkette – als Käufern
bei beiderseitigen Handelskäufen – wird also eine doppelte Last auferlegt. Einerseits müssen sie die Sache prüfen und andererseits ihrem Verkäufer das Vorliegen
des Mangels mitteilen, indem sie zum Ausdruck bringen, dass sie die gelieferte
Ware aus den von ihnen genannten Gründen nicht als erfüllungstauglich ansehen
und sich die ihnen zustehenden Rechte vorbehalten wollen.1069
„Unverzüglich“ wird in Anlehnung an § 121 Abs. 1 S. 1 BGB mit „ohne
schuldhaftes Zögern“ definiert. Die konkrete Länge der Frist ist stark einzelfallbezogen und kann auch durch Parteivereinbarungen oder Handelsbräuche näher
bestimmt werden.1070 Welche Maßnahmen der Käufer genau zu ergreifen hat, wird
auch auf der Grundlage des Einzelfalls nach objektiven Gesichtspunkten
bestimmt.1071 Maßstab ist die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns in der Situation des Käufers (vgl. § 347 HGB). Dabei sind auch die Branchenüblichkeit, die
Handelsbräuche (s. § 346 HGB) und die allgemeine Verkehrsanschauung zu
berücksichtigen.1072 Bei originalverpackten Sachen genügt in der Regel eine Kontrolle auf äußere Beschädigungen.1073 Dies gilt insbesondere, wenn die Sache
durch die Prüfung unverkäuflich wird, einen Wertverlust erleidet oder wenn der
Käufer nur kleinere Mengen von der Ware gekauft hat.1074 Bei Massenlieferungen
1069 Janssen, Die Untersuchungs- und Rügepflichten, S. 154 f.
1070 s. MüKo HGB-Grunewald, § 377, Rn. 29 ff.; vgl. OLG Sachsen-Anhalt 3. Zivilsenat, Urteil
vom 4.10.2004, Az 3 U 34/01 (Die Deutschen Kartoffelgeschäftsbedingungen sehen eine
Rügefrist von spätestens 5 Werktagen nach Feststellung des Mangels, jedenfalls unterhalb
von 5 Werktagen vor); s. Emmerich, JuS 1997, 98 (101); Haberkorn, MDR 1966, 642
(643); Janssen, Die Untersuchungs- und Rügepflichten, S. 129 sowie 135 ff. über die Kriterien zur näheren Bestimmung der Länge der Untersuchungsfrist (z.B. Art und Umfang
der Ware: die Frist reduziert sich erheblich bei schnell verderblichen Sachen, ist aber in
aller Regel länger bei komplizierten technischen Gütern)
1071 Janssen, Die Untersuchungs- und Rügepflichten, S. 106 m.w.N.; MüKo HGB-Grunewald,
§ 377, Rn. 32 ff.
1072 Zu beachten ist aber, dass weder ein bestehender Handelsbrauch bzw. eine Branchenüblichkeit noch die Zusicherung einer Eigenschaft durch den Lieferanten von jeder Untersuchungspflicht entbinden kann; s. BGH BGH Report 2003, 285 („Ein bestehender Handelsbrauch kann die Art und den Umfang der Rügepflicht beeinflussen. Auch ein bestehender Handelsbrauch kann aber nicht von jeder Untersuchungspflicht entbinden. Gäbe
es einen solchen, so wäre dies ein unbeachtlicher Missbrauch.“) mit Nachweisen auf BGH
NJW 1976, 625; ebenso LG Gera MDR 2005, 101.
1073 s. Büchel, in: Zwischen Markt und Staat, S. 33 (46) m.w.N.
1074 s. Janssen, Die Untersuchungs- und Rügepflichten, S. 110 m.w.N.
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gleichartiger Sachen reichen Stichproben aus.1075 Im Einzelfall können die Untersuchungsanforderungen verschärft werden, z.B. wenn wegen früherer problematischer Lieferpartien der Verdacht der Mangelhaftigkeit der Sache besteht. In diesem Fall müssen eher die bekannten Schwachstellen der Ware geprüft werden als
das Vorliegen von Eigenschaften, die bislang nie gefehlt haben.1076
In der Lieferkette kommt dem § 377 Abs. 3 HGB1077 große Bedeutung zu. Ist
ein Mangel auch bei ordnungsgemäßer Untersuchung nicht erkennbar und zeigt
er sich erst später, hat der Käufer (also der Letztverkäufer und die übrigen Kettenglieder) ihn nach dieser Vorschrift unverzüglich nach der Entdeckung anzuzeigen. Vor allem technisch komplizierte Sachen werden als „Erfahrungsgüter“
bezeichnet1078, da ihre Mängel bei einfacher Untersuchung nicht erkennbar sind,
sondern erst bei ihrer Ingebrauchnahme oder noch später in Erscheinung treten.
Die Mängel dieser Sachen zeigen sich also in der Regel nicht beim Letztverkäufer
oder einem der Zwischenhändler, sondern erst beim Verbraucher.1079 In diesen
Fällen reicht es aus, wenn der Letztverkäufer seinem Lieferanten den Mangel
unverzüglich mitteilt, nachdem er selbst durch seinen Abnehmer Kenntnis davon
erlangt hat.1080 Erst dann liegt eine „Entdeckung des Mangels“ vom Letztverkäufer vor.1081 Dies muss unabhängig davon angenommen werden, ob der Verbraucher die Sache rechtzeitig untersucht und den Mangel gerügt hat. Den Verbraucher trifft im deutschen Recht – trotz der in Art. 5 Abs. 2 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie gewährten Möglichkeit – keine Untersuchungs- und Rügeobliegenheit, und die von ihm verspätete Mängelrüge darf sich nicht zu Lasten des Letztverkäufers auswirken, indem er sogar bei unverzüglicher Weiterleitung der Mängelrüge seine Regressmöglichkeit verliert.1082 Dieses Ergebnis wäre mit Art. 4 der
Verbrauchsgüterkaufrichtlinie unvereinbar.
Die Folge der Verletzung der Rügeobliegenheit ist, dass die Sache als genehmigt gilt. Durch die Genehmigungsfiktion velieren die – weiterverkaufenden –
Käufer der Lierferkette die Rechte, die ihnen bei Mangelhaftigkeit der Sache
1075 OLG Frankfurt NJW-RR 1986, 839; OLG Köln NJW-RR 1999, 565. Die Stichproben müssen aber für den Gesamtbefund repräsentativ sein. Dies ist nur dann anzunehmen, wenn
sie sich auf mehrere Kartons, Dosen, Kisten usw. oder innerhalb einer Verpackungseinheit
auf mehrere Stellen und nicht auf die zuoberst liegenden Waren erstecken; so OLG München BB 1955, 749; OLG München BB 1954, 144; bei einer Lieferung von 2400 Dosen
Champignons hielt der BGH DB 1977, 1408 eine Entnahme von 5-6 Stichproben für ausreichend.
1076 BGH BGH Report 2003, 285; BGH NJW 1991, 2623; BGH BB 1977, 1408.
1077 § 377 Abs. 3 HGB: „Zeigt sich später ein solcher Mangel, so muss die Anzeige unverzüglich nach der Entdeckung gemacht werden; anderenfalls gilt die Ware auch in Ansehung
dieses Mangels als genehmigt.“
1078 s. Schumacher, Der Lieferantenregress, S. 188.
1079 Vgl. Roth, in: FS Canaris, S. 365 (366), nach dem der Lieferant vom Zwischenhändler
nicht erwarten kann, dass dieser eine eingehende Funktionsprüfung vornimmt.
1080 s. MüKo HGB-Grunewald, § 377, Rn. 71; Büchel, in: Zwischen Markt und Staat, S. 33
(47).
1081 Ebenso Roth, in: FS Canaris, S. 365 (373 f.); so schon BGHZ 132, 175 (179).
1082 Schumacher, Der Lieferantenregress, S. 190.
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gegen ihre Lieferanten normalerweise zustehen – also die Rechte aus § 437 und
den für den Regressfall bestimmten Aufwendungsersatzanspruch aus § 478 Abs.
2 BGB.1083
bb. Die Abdingbarkeit von § 377 HGB
Die Vorschrift von § 377 HGB ist in § 478 Abs. 4 BGB nicht erwähnt. Von § 377
HGB abweichende Vereinbarungen bleiben also grundsätzlich in den bisher anerkannten Grenzen zulässig. Die Rügepflicht kann daher in Individualvereinbarungen auch ohne Gewährung eines „gleichwertigen Ausgleichs“ verschärft werden; in Individualabreden kann sie auch gemildert oder gänzlich aufgehoben werden.1084
Bei AGB-Klauseln sind jedoch die Schranken des AGB-Rechts zu beachten.
Bisher hielt der BGH AGB-Klauseln, die eine Anzeige aller Mängel (offener wie
verdeckter) nur innerhalb einer kurzen Rügefrist gestatteten, nach § 9 AGBG für
unwirksam.1085 Umgekehrt scheitern Einkaufs-AGB, die von vornherein jegliche
Untersuchungs- und Rügelast sogar bei offenbaren Mängeln abbedingen, wegen
Unvereinbarkeit mit den wesentlichen Grundgedanken des § 377 HGB an § 307
Abs. 2 Nr. 1 BGB (vormals § 9 Abs. 2 Nr. 1 AGBG).1086 Nunmehr sollen Klauseln,
die eine zu kurze Untersuchungs- und Rügefrist für jede Art von Mängeln vorsehen, als unzulässig gelten; sonst kann die Rügeobliegenheit zu einem Instrument
zur Aushebelung des Regresses werden, was mit den Zielen von Art. 4 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie und der §§ 478 f. BGB unvereinbar wäre. Vor allem
bei verborgenen Mängeln wirkt sich eine ausnahmslose Rügefrist wie eine Verkürzung der Verjährungsfrist aus und stellt eine – nach § 478 Abs. 4 S. 3 BGB
verbotene – Umgehung der Regressvorschriften dar.
cc. Die Richtlinienkonformität der Untersuchungs- und Rügeobliegenheit
Die Untersuchungs- und Rügeobliegenheit ist mit Art. 4 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie prinzipiell vereinbar. Dort wird ausdrücklich vorgesehen, dass das
Verfahren und die Modalitäten des Regresses den Mitgliedstaaten überlassen
sind. Hinzu kommt, dass der Richtliniengeber die Einführung oder Beibehaltung
einer Rügefrist sogar für Verbraucherkäufe zulässt (Art. 5 Abs. 2 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie). De maiore ad minus kann daraus geschlossen werden, dass
eine Rügelast im Handelskauf erlaubt ist.1087 Außerdem gebietet die Richtlinien-
1083 s. auch Matthes, NJW 2002, 2505 (2508).
1084 s. MüKo HGB-Grunewald, § 377, Rn. 108 und 120.
1085 BGHZ 115, 326 (drei Tage für versteckte Mängel wurde als eine zu kurze Zeit betrachtet).
1086 BGH NJW 1991, 2633; LG Gera MDR 2005, 101. Hierzu auch MüKo HGB-Grunewald,
§ 377, Rn. 124.
1087 Ebenso Schumacher, Der Lieferantenregress, S. 191.
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vorgabe eines effektiven Regresses nicht, dass der professionelle Rückgriffsgläubiger dem Verbraucher in jeder Hinsicht gleichgestellt wird. Von den Händlern
darf deshalb durchaus erwartet werden, mit derjenigen Sorgfalt und Professionalität zu agieren, die in den entsprechenden Verkehrskreisen gefordert wird.1088
§ 377 HGB darf jedoch nicht so ausgelegt werden, dass dem Letztverkäufer die
ihm durch § 478 BGB eingeräumten Rechte wieder genommen werden.1089 Insbesondere bei Fällen, in denen der Lieferant die Vertragswidrigkeit zu vertreten
hat, ist der Verlust aller Rückgriffsrechte des Letztverkäufers wegen einer „blo-
ßen“ Obliegenheitsverletzung eine wohl zu harte Rechtsfolge1090, die nach einer
Meinung im Schrifttum durch eine großzügigere Handhabung der „Unverzüglichkeit“ in § 377 HGB vermieden werden kann.1091
b. Die Kettenglieder als Verkäufer
Das bereits Erläuterte betrifft die Rechtsverhältnisse der Kettenglieder zu ihren
Lieferanten, m.a.W. ihre Rolle als Käufer. Hier trifft sie die Untersuchungs- und
Rügelast von § 377 HGB, deren Verletzung die Geltendmachung von Mängeln
der Kaufsache ausschließt. Die Kettenglieder sind jedoch nicht nur Käufer, sondern auch Verkäufer. Sie kaufen ein, um weiterzuverkaufen. Fraglich ist also, ob
sie eine Untersuchungspflicht auch gegenüber ihren Abnehmern trifft. Wenn sie
den Mangel nicht selbst herbeigeführt haben und ihn auch nicht positiv gekannt
haben, kommt ein Schadensersatzanspruch ihrer Käufer insbesondere dann in
Frage, wenn sie den Mangel hätten kennen müssen. Und dieses „Kennenmüssen“
liegt nur dann vor, wenn der Verkäufer zu einer Untersuchung der Sache verpflichtet ist.1092 Ein Verschulden des Lieferanten ist dem Händler nicht nach § 278
BGB zuzurechnen, da der Lieferant kein Erfüllungsgehilfe des Verkäufers ist.
Nach ständiger Rechtsprechung besteht keine generelle Pflicht der Verkäufers,
die Sache auf Mängel zu untersuchen.1093 § 377 HGB kann nicht als Grundlage
für eine Untersuchungspflicht des Verkäufers herangezogen werden, weil diese
Vorschrift lediglich das Verhältnis des Verkäufers zu seinem Lieferanten regelt
und keine Verpflichtung gegenüber seinem Abnehmer vorsieht.1094
1088 Vgl. Ernst/Gsell, ZIP 2001, 1389 (1401).
1089 s. Kompaktkommentar-Tonner, § 478, Rn. 38.
1090 a.A. MüKo HGB-Grunewald, § 377 HGB, Rn. 5 (kritisch zu der Meinung von Müller, den
Anwendungsbereich von § 377 HGB auf Fälle einzuschränken, in denen den Verkäufer
kein Verschulden trifft).
1091 Vgl. Kompaktkommentar-Tonner, § 478, Rn. 38; Höpker, Verkäuferregress, S. 311 f.
1092 s. Stoppel, ZGS 2006, 49 (49).
1093 RGZ 125, 76 (78); BGHZ 63, 382 (386); BGH NJW 1983, 217 (218); in der Theorie wird
jedoch vereinzelt eine generelle Untersuchungspflicht des Verkäufers befürwortet, s. die
Darstellung der verschiedenen Meinungen: Stoppel, ZGS 2006, 49 (52).
1094 BGH NJW 1977, 1055 (1056).
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Die Rechtsprechung nimmt allerdings eine Untersuchungspflicht des Verkäufers an, wenn „besondere Umstände“ vorliegen.1095 Es wird im Schrifttum versucht, diese „konturlose Begrifflichkeit“ (der „besonderen Umstände“) durch die
Bildung von Fallgruppen zu konkretisieren.1096 Die zu diesem Problem ergangene
Rechtsprechung nimmt eine Untersuchungspflicht des Verkäufers zunächst an,
wenn für den Verkäufer konkrete Anhaltspunkte für Mängel bestehen, die nach
Treu und Glauben eine Untersuchung der Sache erforderlich machen.1097 Außerdem kann sich die Untersuchungspflicht des Verkäufers aus einer von ihm übernommenen Beratungsverpflichtung, aus einer entsprechenden Verkehrssitte oder
einem Handelsbrauch ergeben.1098
Auch der Umfang dieser sich aus „besonderen Umständen“ ergebenden Untersuchungspflicht des Verkäufers hängt von den im konkreten Fall vorliegenden
Umständen ab. Dies bedeutet, dass sich die Sorgfalt des Verkäufers an der konkreten Ursache für die Entstehung der Untersuchungspflicht orientiert.1099 Die
sich aus einer Beratungspflicht ergebende Untersuchungspflicht erstreckt sich
also auf den Inhalt der Beratung.1100 Wenn Anlass zu Misstrauen besteht, muss der
Verkäufer die Sache auf die Mängel untersuchen, auf deren Vorliegen die
Anhaltspunkte hindeuten.
Wird eine wegen besonderer Umstände bestehende Untersuchungspflicht des
Verkäufers von ihm nicht beachtet oder die Untersuchung nicht in ausreichendem
Umfang durchgefürt, wird er gegenüber dem Käufer schadensersatzpflichtig.
c. Kollision der Verpflichtungen auf Käufer- und Verkäuferseite
Fraglich ist, wie sich die eventuell bestehende Untersuchungspflicht des Verkäufers und die Obliegeneit des Händlerkäufers aus § 377 HGB zueinander verhalten. Dies ist vor allem dann interessant, wenn beide Parteien ihrer Pflicht oder
Obliegenheit nicht nachgekommen sind. Nach der Rechtsprechung schließt die
gesetzliche Fiktion des § 377 Abs. 2 HGB alle Gewährleistungsrechte des Käufers aus; die Leistung des Verkäufers ist nach Ablauf der Rügefrist als vertragsgemäß zu beurteilen, so dass auch kein Schadensersatzanspruch wegen Nichtbeachtung der Untersuchungspflicht des Verkäufers geltend gemacht werden
kann.1101 Der Vorrang wird insoweit der raschen Abwicklung von Handelsgeschäften eingeräumt. Eine Ausnahme wird von der Rechtsprechung nur bezüglich
Mangelfolgeschäden gemacht, wenn zugleich eine Nebenpflicht aus dem Kauf-
1095 RGZ 125, 76 (78); BGH NJW 1983, 217 (218).
1096 s. Stoppel, ZGS 2006, 49 (50 ff.).
1097 BGH NJW 1980, 2184 (2186); BGH ZIP 1994, 1863 (1867).
1098 BGH NJW 1968, 2238 (2239); BGH NJW 1977, 1055 (1056).
1099 Ebenso Stoppel, ZGS 2006, 49 (52).
1100 BGH NJW 1968, 2238 (2239).
1101 BGH NJW 1959, 1081 (1082).
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vertrag (wie z.B. zur sachgemäßen Verpackung und Versendung1102) verletzt
wurde.
Da aber § 377 HGB nicht nur der raschen Abwicklung des Handelsverkehrs
dient, sondern auch eine sachgerechte Risikoverteilung zwischen den Parteien
des Kaufvertrags bezweckt, ist es geboten, je nach der Ursache der Untersuchungspflicht des Verkäufers zu unterscheiden. Im Falle von Arglist des Verkäufers greift § 377 Abs. 2 HGB nach § 377 Abs. 5 HGB ohnehin nicht ein. Aber auch
wenn keine Arglist, sondern „lediglich“ Fahrlässigkeit des Verkäufers wegen der
Verletzung seiner nach den Umständen des Falles bestehenden Untersuchungspflicht vorliegt, ist zu erwägen, ob die Nichtuntersuchung der Sache durch den
Käufer für den Bestand seiner Mängelansprüche unschädlich bleibt. Dies ist vor
allem dann denkbar, wenn der Verkäufer eine Beratung über bestimmte Eigenschaften der Ware übernommen hat.1103 Der Käufer hat sich dann wohl zu Recht
auf das Bestehen dieser Eigenschaft verlassen.
Von einem Teil der Theorie wird vorgeschlagen, bei Verschulden des Verkäufers die „Unverzüglichkeit“ in § 377 Abs. 1 HGB so auszulegen, dass allzu harte
Ergebnisse zu Lasten der Käufer vermieden werden.1104 Die Annahme eines
Rechtsmissbrauchs des schuldhaften Verkäufers gemäß § 242 BGB bei dessen
Berufung auf eine verspätete bzw. fehlende Mängelrüge durch seinen Abnehmer
und die Anwendung von § 254 BGB (Mitverschulden) sollten darüber hinaus
nicht ausgeschlossen werden.
2. Im griechischen Recht
a. Die Kettenglieder als Käufer
aa. Keine ausdrückliche Untersuchungs- und Rügeobliegenheit der Händler
Der Kauf zum Weiterverkauf stellt im griechischen Recht ein Handelsgeschäft
dar, das in der im Art. 2 des königlichen Dekrets (VD) vom 2/14.5.1835 über die
Zuständigkeit der Handelsgerichte1105 enthaltenen Liste der Handelsgeschäfte
vorgesehen ist. Im Gegensatz zum deutschen Recht erlegt das griechische Handelsrecht den Händlern keine ausdrückliche Untersuchungs- und Anzeigelast auf.
Die einzige spezielle Regelung, die den Handelskauf betrifft, ist diejenige von
Art. 108 des Handelsgesetzes, die den Nachweis des Handelskaufvertrags regelt.
Ansonsten gelten für den Handelskauf die Regeln des AK.
1102 So BGHZ 66, 208.
1103 s. Stoppel, ZGS 2006, 49 (54).
1104 Vgl. Kompaktkommentar-Tonner, § 478, Rn. 38; Höpker, Verkäuferregress, S. 311 f.
1105 Die Handelsgerichte sind jedoch schon im Jahre 1887 durch das Gesetz AYNZ’ des 28
Mai/9 Juni 1887 abgeschafft worden.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Art. 4 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, der den Rückgriff des Letztverkäufers im Fall einer von ihm nicht verursachten Mangelhaftigkeit der Sache gewährleisten will, überlässt den Mitgliedstaaten einen weiten Umsetzungsspielraum. Dies reizt zu einer rechtsvergleichenden Untersuchung, da das Optionenspektrum für die Ausgestaltung des Rückgriffs sehr breit ist. Wie der deutsche und griechische Gesetzgeber die genannte Richtlinienvorschrift ins nationale Recht umsetzten, ist Gegenstand dieses Werkes. Die Verfasserin stellt die Rückgriffsregelungen des BGB und des griechischen ZGB (AK) nebeneinander und gelangt zu interessanten Ergebnissen bezüglich ihrer Richtlinienkonformität und rechtspolitischen Richtigkeit.