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Einleitung
1. Themenstellung
In der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie1 ist eine nichtverbraucherschützende Vorschrift enthalten, die als „Fremdkörper“ in ihrem Rahmen bezeichnet wird. Das
ist Art. 4, der den Titel „Rückgriffsrechte“ trägt und besagt, dass dem Letztverkäufer, der von einem Verbraucher aufgrund einer Vertragswidrigkeit infolge
eines Handelns oder Unterlassens des Herstellers, eines früheren Verkäufers der
Lieferkette oder einer anderen Zwischenperson in Anspruch genommen wurde,
ein Regressrecht zustehen muss. Durch diese Vorschrift trägt die Richtlinie dem
Rechtsproblem des Warenvertriebs über Absatzketten Rechnung und will vermeiden, dass der Letztverkäufer – also derjenige, der die Sache an den Verbraucher
veräußert – die Folgen der Mangelhaftigkeit der Sache endgültig trägt, obwohl er
für sie nicht verantwortlich ist. Diese Problematik ist natürlich nicht neu, wurde
aber durch die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie verschärft, da der Preis für den besseren Schutz des Verbauchers eine strengere Haftung des Letztverkäufers ist. In
Art. 4 wird jedoch die Regressfrage nicht im Detail behandelt; die Richtlinie beschränkt sich fast ausschließlich darauf, festzuhalten, dass die Mitgliedstaaten
eine Lösung finden müssen, ohne zu entscheiden, wie diese rechtsdogmatisch
konstruiert werden soll. Dies reizt zu einer rechtsvergleichenden Untersuchung.
Es ist besonders interessant, wie die nationalen Gesetzgeber diese Freiheit genutzt haben. Fraglich ist jedoch, wie weit diese Freiheit in der Ausgestaltung des
Regresses geht und ob sie eines Tages nicht zu einer Falle wird, in dem Sinne dass
– vom EuGH – judiziert wird, die nationalen Regressvorschriften seien „mit den
sich aus Art. 4 oder aus seinem effet utile ergebenden Anforderungen“ nicht vereinbar. Deswegen wird in dieser Arbeit auch versucht, die unklare Tragweite des
Umsetzungsspielraums von Art. 4 zu konkretisieren.
Die nationalen Gesetzgeber hatten bei der Umsetzung von Art. 4 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie eine Reihe von Grundentscheidungen zu treffen. Der
Regress ist ein von brisanten Spannungsverhältnissen geprägter Fragenkomplex.
Die Interessen der Industrie stehen denjenigen der Händler entgegen; die Notwendigkeit einer Regresssicherstellung kollidiert mit den im Handelsverkehr sehr
wichtigen Grundsätzen der Vertragsfreiheit und der Selbstverantwortlichkeit.
Wie der griechische und der deutsche Gesetzgeber diese Interessen ausgeglichen
haben bzw. welchem sie den Vorrang eingeräumt haben, wird in dieser Abhandlung u.a. erforscht.
1 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu
bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter,
Abl. der EG vom 7.7.1999, Nr. L 171, S. 12.
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Sowohl der deutsche als auch der griechische Gesetzgeber haben zur Umsetzung von Art. 4 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie jeweils zwei neue Vorschriften
in ihre Zivilgesetzbücher (BGB und AK2) eingefügt. Bis zur Reform des Kaufrechts erfolgte der Regress des Verkäufers in beiden Staaten ausschließlich nach
den für jeden Käufer geltenden Gewährleistungsvorschriften und war von vielen
„Regressfallen“ (nämlich Gefahren, an denen der Regress scheitern konnte)
bedroht. Die Regressvorschriften stellen demnach sowohl in der deutschen als
auch in der griechischen Rechtsordnung eine Neuheit dar. Beide Gesetzgeber
haben sich für einen Regress innerhalb der bestehenden Vertragsverhältnisse
(sog. „Stufenregress“) und gegen einen Direktanspruch (sog. „Duchgriffsmodell“) entschieden. Außer dieser gemeinsamen Grundentscheidung sowie der
Tatsache, dass sowohl die deutschen als auch die griechischen Regressvorschriften sich nicht auf die Erleichterung des Regresses lediglich des Letztverkäufers beschränken, sondern das Aufrollen der Haftung bis zum Urheber des
Mangels ermöglichen wollen, weisen das deutsche und das griechische Regresskonzept viele Unterschiede auf. Mehrere der im Rahmen des Regresses auftauchenden Fragen (Abdingbarkeit, Beweislast, Untersuchungsverpflichtungen der
Kettenglieder) haben der deutsche und der griechische Gesetzgeber unterschiedlich beantwortet, was wegen des von der Richtlinie überlassenen weiten Umsetzungsspielraums möglich – und auch unvermeidlich – war.
Dieser weite Gestaltungsspielraum führt naturgemäß zu Unterschieden der
nationalen Regressvorschriften, die der Verwirklichung der prinzipiell
gewünschten Einheitlichkeit des europäischen Rechts im Wege stehen. Die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie verfolgt zwar keine umfassende Rechtsvereinheitlichung, sondern nur eine limitierte Harmonisierung in dem von ihr erfassten
Rechtsbereich. Zu ihren Zwecken gehört aber, die den Binnenmarkt beeinträchtigenden Wettbewerbsverzerrungen wegen der unterschiedlichen nationalen
Rechte zu beseitigen.3 Durch den Vergleich zweier der nationalen Regressmodelle kann festgestellt werden, ob diese Beseitigung der Wettbewerbsverzerrungen realisiert wurde. Deutschland und Griechenland sind rechtlich nah, es
wird trotzdem gezeigt, dass ihre Regressregelungen zu unterschiedlichen wirtschaftlichen Effekten führen, so dass Wettbewerbsverzerrungen und damit auch
ein Wettbewerb der europäischen Kauf- und (konkreter) Regressrechte noch aktuell sind.
2 AK steht für „Astikos Kodikas“ (12)" ?+/?"), das griechische Zivilegesetzbuch, das
im Jahre 1946 in Kraft getreten ist. Der AK gehört zur kontinentaleuropäischen Rechtsgruppe, deren Kernbereich das deutsche, das österreichische sowie das schweizerische
Recht bilden. Zur Entstehung und Einteilung des AK s. Georgiades, AcP 200 (2000), 493
(493); Karakostas, Einführung in das griechische Privatrecht, S. 25 f.; Plagianakos, Die
Entstehung des griechischen Zivilgesetzbuches. Die deutsche Übersetzung der meisten
AK-Vorschriften in dieser Abhandlung ist der Verfasserin. Einige Vorschriften werden in
der Übersetzung von Gogos, Das Zivilgesetzbuch von Griechenland angegeben. Für die
neuen kaufrechtlichen Artikel (des Gesetzes 3043/2002) wird die Übersetzung von Eleftheriadou, in: Schermaier (Hrsg.), Verbraucherkauf in Europa herangezogen.
3 s. Erwägungsgrund 3 der RL; vgl. auch Tröger, ZEuP 2003, 525 (525).
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Dadurch kann auch die Frage beantwortet werden, warum der Vergleich gerade
zwischen dem deutschen und dem griechischen Recht erfolgt. Die Tatsache, dass
diese Rechte dem selben Kreis angehören und viele Ähnlichkeiten aufweisen,
macht die Entdeckung der trotzdem bestehenden Unterschiede interessant.
Obwohl auch im Regress prinzipiell dasselbe System (des Stufenregresses) verfolgt wurde, wird durch die gründliche Untersuchung der Regressvorschriften
festgestellt, dass erheblich unterschiedliche wirtschaftliche und wettbewerbsrelevante Konsequenzen auch hinter abweichenden Optionen bei Fragen, die auf
den ersten Blick als „Details“ erscheinen, stecken können. Das Ziel bei der Untersuchung der deutschen und griechischen Regressregelung wird sein, die jeweils
erreichten Ergebnisse hinsichtlich ihrer Richtlinienkonformität zu vergleichen
und eine Antwort auf die Fragen zu geben, ob die detaillierte deutsche Regelung
tatsächlich ein gerechteres Regresssystem geschaffen hat und ob die moderate,
nur den Verjährungsbeginn berührende griechische Regressvorschrift eine adäquate Lösung der Regressproblematik bietet.
In der griechischen Theorie wurde dem Regressrecht nicht die Aufmerksamkeit zuteil, die es verdient hätte. Das griechische Schrifttum zu diesem Bereich
ist noch etwas spärlich. Dies ist ein zusätzlicher Reiz, sich mit der griechischen
Regressregelung zu befassen und zu ihrer Untersuchung die Überlegungen heranzuziehen, die in Deutschland in sehr großem Umfang geäußert wurden.4 Ihre
Übertragbarkeit auf die griechische Rechtslage ist natürlich keineswegs sicher,
andererseits auch nicht ausgeschlossen. Die griechischen Juristen, die traditionell
nach Deutschland blicken, könnten jedenfalls von der ihre Perspektive berücksichtigenden Darstellung des deutschen Regressrechts in dieser Arbeit profitieren. Die vorliegende Arbeit könnte aber auch für das deutsche Recht interessante
Einblicke in eine andersartige, aber demselben Problem gewidmete Lösungsmethode, die des griechischen Rechtes, geben. Neben der Verwandtschaft des deutschen und griechischen Privatrechts bietet sich der Vergleich ihrer Regressregelungen auch deshalb an, weil Deutschland und Griechenland bedeutende Handelspartner sind und zahlreiche grenzüberschreitende Verträge zwischen deutschen und griechischen Unternehmen abgeschlossen werden.5
Hierbei soll auch berücksichtigt werden, dass richtlinienkonforme Auslegung
zunächst Auslegung der Richtlinie selbst bedeutet, diese erfolgt aber auch im
4 s. Büchel, in: Zwischen Markt und Staat, S. 33 (35 und 50), der von einem deutlichen Missverhältnis zwischen der Diskussion, die die Umsetzung von Art. 4 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie in Deutschland begleitet hat, und der praktischen Relevanz der §§ 478, 479
BGB spricht.
5 Deutschland ist neben Italien Griechenlands wichtigster Handelspartner. 2005 erreichten
die deutschen Warenausfuhren einen Wert von knapp 5,8 Mrd. Euro; das entspricht einem
Anteil von fast 14% aller Einfuhren nach Griechenland. Zugleich ist Deutschland der eindeutig wichtigste Kunde der griechischen Exporteure; annähernd 10% aller griechischen
Produkte gingen 2005 nach Deutschland. Nähere Angaben dazu gibt es auf den Internetseiten des deutschen Auswärtigen Amts (www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/Griechenland/Bilateral.html) und der griechischen Botschaft in Berlin
(www.griechische-botschaft.de/ueber_gr/wirtschaft/Handelspartner.html).
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Rahmen wertender Rechtsvergleichung. Dies bedeutet wiederum Berücksichtigung auch der anderen europäischen Rechte und ihrer Positionen im Verständnis
der jeweiligen Richtlinie.6 Auf diesem Weg kann die richtlinienkonforme Auslegung zu einer harmonisierenden Auslegung werden. Die Überzeugung, dass der
Richter berechtigt ist, eine aus einer anderen Rechtsordnung stammende Lösung
im Rahmen der Auslegung des nationalen Rechts mit heranzuziehen, setzt sich
trotz der Zurückhaltung der nationalen Gerichte bei der Interpretation europäischen Privatrechts im Schrifttum allmählich durch.7 Auch in dieser Hinsicht
könnte die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten.
2. Der Gang der Untersuchung
In der vorliegenden Abhandlung werden die deutschen und griechischen Regressregelungen nicht als Blöcke nacheinander abgehandelt, sondern die Lösungen des
deutschen und griechischen Rechts in jeder einzelnen Frage (z.B. Voraussetzungen und Inhalt des Regresses, Verjährung, Abdingbarkeit usw.) werden nebeneinander gestellt. Diese Vorgehensweise ist bei einer vielschichtigen Frage –
wie die des Regresses – übersichtlicher und wird einen sinvollen Vergleich jedes
einzelnen Aspekts ermöglichen.
Die Arbeit beginnt mit der Erörterung der Regressmöglichkeiten im deutschen
und griechischen Recht vor der Umsetzung von Art. 4 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie sowie der diesbezüglichen Diskussion im Schrifttum beider Staaten.
Das nächste Kapitel umfasst die Entstehungsgeschichte von Art. 4 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie und setzt sich anschließend mit den Zielen dieser
Regelung auseinander. Es wird versucht den Inhalt dieser als „sibyllinisch“
betrachteten Vorschrift zu klären und sich ein Verständnis von ihr zu verschaffen,
das auch bei der Befassung mit ihrer Umsetzung im deutschen und griechischen
Recht von Bedeutung sein wird.
Der Diskussion von Art. 4 der Verbauchsgüterkaufrlichtlinie folgt die detaillierte Untersuchung ihrer Umsetzung im deutschen und griechischen Recht.
Zunächst werden die Regressvoraussetzungen dargelegt.
Dann wird auf den Inhalt und den Umfang des Regresses eingegangen. Während das griechische Recht ausschließlich an die allgemeinen Gewährleistungsregeln anknüpft, sieht das deutsche Recht in § 478 Abs. 2 BGB auch einen speziellen Ersatzanspruch für die Nacherfüllungsaufwendungen des Letztverkäufers
vor, so dass in Deutschland von einem „zweispurigen Regresssystem“ die Rede
ist.
Nach dem Inhalt des Regresses werden die Beweisregeln hinsichtlich des Entstehungszeitpunktes des Mangels behandelt. Im deutschen Recht wurde die für
6 Pouliadis, in: FS Georgiades, S. 889 (902 f.) m.N. auf Lutter, JZ 1992, 593 (599 ff.).
7 Zur Ansicht, dass der Richter das eigene Recht harmonisierend im Lichte der anderen europäischen Rechtsordnungen auslegen muss oder soll, s. Odersky, ZEuP 1994, 1 (2 ff.);
Hommelhoff, in: 50 Jahre BGH, Bd. II, S. 889 (924), Fn. 157.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Art. 4 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, der den Rückgriff des Letztverkäufers im Fall einer von ihm nicht verursachten Mangelhaftigkeit der Sache gewährleisten will, überlässt den Mitgliedstaaten einen weiten Umsetzungsspielraum. Dies reizt zu einer rechtsvergleichenden Untersuchung, da das Optionenspektrum für die Ausgestaltung des Rückgriffs sehr breit ist. Wie der deutsche und griechische Gesetzgeber die genannte Richtlinienvorschrift ins nationale Recht umsetzten, ist Gegenstand dieses Werkes. Die Verfasserin stellt die Rückgriffsregelungen des BGB und des griechischen ZGB (AK) nebeneinander und gelangt zu interessanten Ergebnissen bezüglich ihrer Richtlinienkonformität und rechtspolitischen Richtigkeit.