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der Menschenrechtsschutzsysteme in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ein.
Dabei denkbare Divergenzen sind kein Mangel als solcher. Sie beziehen sich auf
unterschiedliche Systeme, welche durchaus ihren Sinn haben. Ihnen lässt sich insoweit der Charme eines „patchworks“1340 abgewinnen. Darüber hinaus liegt das Potenzial dieses Mehrebenenschutzes in der wechselseitigen Ergänzung und Verstärkung der völkerrechtlichen und gemeinschaftlichen Instrumente, wie es an dem
Beispiel der KRK deutlich wird.
Auch wenn die konkreten Umrisse des neuen Migrationsrechts sowohl durch innerstaatliche Umsetzungsprozesse als auch (gemeinschafts-)gesetzgeberische und
gerichtliche Weiterentwicklungen erst noch geschärft werden müssen, ist das Urteil
zur Familiennachzugsrichtlinie insofern als richtungweisend zu bezeichnen, als es
den Wechsel der diesen Prozess leitenden Grundannahmen deutlich macht. Einreise
und Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen und ihren Familien sind nicht mehr allein
Gegenstand (mitglied-)staatlichen Interesses, sondern werden schrittweise von der
Perspektive der Gemeinschaft überformt. Sie geht davon aus, dass Einwanderung
und Asyl in einem funktionierenden Binnenmarkt nur gemeinschaftlich erfolgen
können. Die auf dieser Ebene gewährten Rechtspositionen befinden sich damit auf
der gleichen (rechtlichen) Ebene wie diejenigen für Unionsbürger. Dies bestimmt
die Richtung weiterer Entwicklungen hin zu einer schrittweisen Annäherung an das
ebenfalls von diesem Grundmuster getragene und weit entwickelte Freizügigkeits-
(und Assoziations-)recht.1341 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den
Rechtspositionen von Unions- und Drittstaatsangehörigen können und müssen künftig vor diesem Hintergrund erklärt und konkretisiert werden. Dass der EuGH an der
Konkretisierung des neuen Migrationsrechts ähnlich aktiv wie bei Unionsbürgern
und Assoziationsberechtigten bereit ist mitzuwirken, lässt die ausdrückliche ‚Einladung’ des Gerichtshofs zu weiteren Vorlageverfahren nach Artikel 68 EG bereits
erahnen.
Zusammenfassung: Familiennachzug zwischen Mobilität und Migration
Die Regelungen der Familiennachzugsrichtlinie über die familiäre Wanderung nach
Europa machen das bereits in ihrer Entwicklung angelegte Spannungsfeld deutlich:
Obgleich Familiennachzug mit dem Recht der Familienmitglieder, ihren Aufenthalt
in gemeinsamem Familienleben zu verbringen, aufenthalts- und damit integrationsrelevant ist, stellt es selbst zugleich eigene Migration dar. Familiäre Wanderung
unterliegt damit in doppelter Hinsicht dem Bereich der staatlichen domaine reservé
und ihrem Interesse an Kontrolle über jegliche Zuwanderung: Familiennachzug
1340 So benannt von Brun-Otto Bryde auf einer Tagung am 22.-24. Juni 2001 in Heidelberg zur
Divergenz verschiedener Menschenrechtsinstrumente.
1341 Brinkmann, G., Family Reunion, Third Country Nationals and the Community’s New Powers, in: Guild/Harlow (Hg.), Implementing Amsterdam, S. 260.
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stellt mit dem Immigrationsmotiv ‚Familie’ einerseits selbst eine unmittelbar unter
staatliche Kontrolle fallende Zuwandererkategorie dar, andererseits dient er aufgrund seiner Eigenschaft als Sekundärwanderung der mittelbaren Migrationskontrolle von primärer Wanderung.1342 Dies spiegelt sich in den neuen familienrelevanten
Bestimmungen für Drittstaatsangehörige auf Gemeinschaftsebene. Auf die Frage,
welcher Zweck dem Rechtsinstrument Familiennachzug aus europäischer Sicht
zukommt, lassen sich nach der Gegenüberstellung des Mobilitäts- bzw. Freizügigkeitsrechts für Unionsbürger mit dem Migrationsrecht für Drittstaatsangehörige
unterschiedliche Antworten geben. Infolgedessen ist auch auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene das Recht auf ein Leben in Familie für drittstaatsangehörige Migranten
nicht selbstverständlich.
Zunächst versteht sich das Recht auf Familienzusammenführung – das ist sowohl
dem Mobilitäts- als auch dem Migrationskonzept zu entnehmen – klar als ein Mittel
zur Integration. Dieses Ziel verknüpft ein rechtliches mit einem nichtrechtlichen
Konzept. Familiennachzug betrifft den Zugang in rechtlicher Hinsicht, Integration
den Aufenthalt nach erfolgtem Zugang in nichtrechtlicher Hinsicht. Wie sich dieser
gestaltet, ist grundsätzlich nicht familienspezifisch, sondern eine Frage der allgemeinen Eingliederungspolitik des Aufnahmestaates gegenüber Einwanderern aus
erwerbstechnischen, humanitären oder persönlichen Gründen. Familiennachzug ist
insofern zunächst ‚nur’ ein eigenes Wanderungsmotiv. Als ‚Nach-Wanderung’ hat
dieses Motiv jedoch die Besonderheit, dass es die Existenz einer Bezugsperson, sei
sie inländischer oder ausländischer Herkunft, voraussetzt. Diese Tatsache ist der
Anknüpfungspunkt für das nichtrechtliche Konzept der Integration. Denn die (Wieder-)Herstellung der sozialen Einheit Familie erfolgt um der Integration der (vorgewanderten) Bezugsperson willen (INTEGRATION DES ZUSAMMENFÜHRENDEN). Bestätigung findet dieses Verständnis auch durch soziologische Erkenntnisse (bezogen
auf die Bundesrepublik), nach denen Familien aufgrund ihrer Solidarpotenziale
einen elementaren Beitrag zum Erfolg von Integrationsprozessen leisten.1343 Dies
wird begründet mit der generellen Bedeutung der Familie für die Gesellschaft. Die
Integration der Familienmitglieder in die Gesellschaft ist eine besondere Entwicklungsaufgabe von allen Familien, gleich, ob sie inländischer oder ausländischer
Herkunft sind.1344 Die Familiennachzugsrichtlinie für Drittstaatsangehörige versteht
sich in diesem Sinne ebenfalls als ein ‚Instrument der Integration’. So heißt es in der
Begründung des ersten Vorschlags: „Diese Art der legalen Einwanderung ist nicht
nur zahlenmäßig relevant, sondern bildet auch eine wichtige Voraussetzung für die
Integration der rechtmäßig in einem Mitgliedstaat ansässigen Drittstaatsangehörigen.
Die Anwesenheit der Familienmitglieder ermöglicht ein normales Familienleben und
1342 Schöllhorn, H., 31, der Familienzusammenführung daher unter dem Aspekt einer effizienten
Zuwanderungssteuerung betrachtet.
1343 Bericht der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung“ vom 4. Juli 2001, sogenannte Süßmuth-Kommission, S. 194, unter Verweis auf den 6. Familienbericht über Familien ausländischer Herkunft in Deutschland vom 20. Okt. 2000, BTag-Drs. 14/4357.
1344 6. Familienbericht, S. 8.
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somit eine größere Stabilität und bessere Verwurzelung der Menschen in dem
Land.“1345 Insoweit lässt sich Familiennachzug als Mittel zur Integration begreifen.
In Widerspruch dazu steht allerdings das (ggf. jahrelange) Trennungspotenzial, wie
es mit den Wartezeiten, Altersgrenzen, wirtschaftlichen und sprachlichen Nachzugsbedingungen in die Familiennachzugsrichtlinie Eingang gefunden hat.
Der Text der Verordnung 1612/68 macht eine weitere entscheidende Dimension
dieses Verständnisses deutlich. Dort heißt es, die Mobilität des Arbeitnehmers bedarf auch der „Bedingungen für die Integration seiner Familie“ (INTEGRATION DER
FAMILIENMITGLIEDER). Das erfordert die Anwendung der gleichen ‚Technik’ und
die Erstreckung der Grundsätze der Gleichbehandlung auf die Familienangehörigen.
Die Familiennachzugsrichtlinie für Drittstaatsangehörige hat im Unterschied dazu
wiederum einen begrenzteren Ansatz: „Die Integration der Familienangehörigen ist
zu fördern; dazu muss ihnen nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer in dem Mitgliedstaat ein eigener Rechtsstatus zuerkannt und gleichermaßen wie dem Zusammenführenden der Zugang zur allgemeinen und beruflichen Bildung sowie zur Beschäftigung gewährt werden.“1346 Sie gewährt integrationsfördernd Gleichbehandlung im Aufenthaltsstatus erst am Ende einer relativ langen Zeitdauer, die durch
Aufenthaltsunsicherheit gekennzeichnet ist. Dies ist für Familien ebenfalls in integrationspolitischer Hinsicht problematisch. Denn Aufenthaltsstabilität ist bedeutsam
für familiäre Entscheidungen wie Heirat, Familiengründung oder Nachzug, aber
auch langfristige und finanzielle Investitionen oder Ausbildungsentscheidungen für
Kinder. Erst langfristige Perspektiven machen das integrative Familienpotenzial
erschließbar und können auch der Gesellschaft ‚nützlich’ sein. Dies bestätigen für
die Bundesrepublik Erkenntnisse soziologischer Untersuchungen, wonach Aufenthaltssicherheit1347 zwar nicht eine Eingliederung allein garantieren, sie jedoch erleichtern kann.1348
Das zu integrierende ‚Ganze’ ergibt sich aber nicht nur mit Blick auf die Familieneinheit, sondern auch mit Blick auf den aufnehmenden Mitgliedstaat als Adressat
der Richtlinie sowie mit Blick auf die EG als ‚Autorin’ der gemeinschaftlichen Re-
1345 S. bereits die Begründung des ursprünglichen Vorschlages der Familiennachzugs-Richtlinie
KOM (1999) 638, Rn. 2.2, Hervorhebung der Verfasserin. Der 8. Erwägungsgrund KOM
(2002) 225 (3. Vorschlag der Familiennachzugs-RL), der sich auch in Erwägungsgrund 4 der
endgültigen Fassung der Familiennachzugsrichtlinie findet, lautet: „Die Familienzusammenführung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist und
trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei, die die Integration Drittstaatsangehöriger in
den Mitgliedstaaten erleichtert.“ Eine Definition der Integration, angeregt durch das Europäische Parlament, wurde nicht aufgegriffen, da dies nach Ansicht der Kommission über den
Gegenstand des Vorschlages hinausgeht; Begründung zum geänderten 8. Erwägungsgrund,
KOM (2000) 624, S. 3.
1346 13. Erwägungsgrund KOM (2002) 225 (3. Vorschlag der Familiennachzugs-RL).
1347 Aufenthaltssicherheit wird als einer der wenigen rechtlichen Integrationsfaktoren aufgezählt.
1348 6. Familienbericht, S. XIV sowie S. 12 f. und der Bericht der Süßmuth-Kommission, S. 194.
So auch Bauböck zur Begründung einer rechtsvergleichenden Studie integrationsrelevanter
rechtlicher Regelungen, in: Waldrauch (Hg.), Integration von Einwanderern, Ein Index der
rechtlichen Diskriminierung, 2001, Bd. II, S. 40.
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gelungen (EUROPÄISCHE INTEGRATION). Aus europäischer rechtlicher Sicht wird mit
der Familieneinheit auch der Zusammenhalt des Gemeinwesens bezweckt. In einem
weiteren Sinne hat also die Schaffung von vergleichbaren Nachzugsrechten und
Pflichten für Drittstaatsangehörige und Unionsbürger gemäß dem Auftrag von Tampere auch den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt im Sinne einer europäischen Integration von allen Bewohnern der EU zum Ziel.1349
Im Hinblick auf die Erreichbarkeit dieser Ziele ist letzten Endes das ‚Wie’ des
rechtlichen Handelns, d. h. die konkrete Ausgestaltung der Rechte auf Aufenthalt
und im Aufenthalt der Familienmitglieder zentral. Die Förderung der Integration der
zusammengeführten Familie durch Gleichbehandlung der Familienmitglieder sowohl untereinander als auch mit unionsangehörigen, auf Binnenwanderung befindlichen Familien – das ist das ‚Europäische’ der Antwort, wie es im vorgeschlagenen
Konzept der Kommission zum Ausdruck kam.1350 Bei diesem dem Freizügigkeitsrecht entnommenen Konzept wird die starke, für Migranten günstige Rechtsposition
aufgrund ihrer integrativen Wirkung zugleich als dem staatlichen Gemeinwesen
nützlich und nicht als unfreiwilliger Kontrollverlust erachtet. Es wird vielmehr die
Kontrolle der Integration bewusst aufgegeben.
Das gemeinschaftliche Verständnis hat sich beim ersten Angleichungsschritt nationaler Einwanderungsregelungen für Drittstaatsangehörige indes nur begrenzt
durchsetzen können. Die Familiennachzugsrichtlinie enthält zwar ein gemeinschaftliches Recht für Drittstaatsangehörige, mit ihren Familienangehörigen in einem
Mitgliedstaat zusammenleben zu können. Hinsichtlich des ‚Ob’ des Nachzugs kann
damit künftig von einem einheitlichen Gemeinschaftsrecht für Familiennachzug
gesprochen werden. Indes gehen die Gemeinsamkeiten nach Abschluss der ersten
Harmonisierungsstufe (noch) nicht über die damit gelegten Grundlagen hinaus. Wie
in der Familiennachzugsrichtlinie deutlich wird, kann Familiennachzug auch künftig
als ein Mittel zur Migrationskontrolle verstanden werden. Sie enthält im Unterschied
zur Freizügigkeitsrichtlinie eine ganze Reihe von (nationalen) Elementen, die dem
‚alten’ Gemeinschaftsrecht fremd sind. Familienangehörige können zu jedem Zeitpunkt der Einreise und des Aufenthalts mit einem rechtlichen Begrenzungsinstrumentarium konfrontiert werden. Sie können unter erschwerten Bedingungen
weniger Rechte, deren Qualität sich in höherer Risikoanfälligkeit zeigt, wahrnehmen. Wie das niederländische Beispiel der Sprachanforderungen vor Einreise zeigt,
kann dies faktisch einem Ausschluss des Nachzugsrechts (längerfristig betrachtet
1349 Erwägungsgrund 4 RL 2003/86/EG (Familiennachzug) lautet weiter: „[Durch die Familienzusammenführung, A.W.] wird auch der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gefördert,
der als grundlegendes Ziel der Gemeinschaft im Vertrag aufgeführt wird.“
1350 Vergleiche auch die Empfehlung Nr. 841 (1978) der Parlamentarischen Versammlung des
Europarates über Migranten der zweiten Generation, die die Mitgliedstaaten dazu auffordert,
jegliche Diskriminierung in ihrer Gesetzgebung zu vermeiden, und zwar zum einen zwischen
Migranten und einheimischen Arbeitnehmern sowie zum anderen innerhalb der verschiedenen Kategorien von Migranten selbst.
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liegt der Rückgang der Antragszahlen auf 50 Prozent1351, ähnliches zeichnet sich in
Deutschland seit August 2007 ab1352) gleichkommen. Für drittstaatsangehörige Familienmitglieder ist es insoweit weiterhin entscheidend, ob die Bezugsperson Unionsbürger ist oder nicht.
Auf die Steuerungskraft des ‚Wie’ des Nachzugs, d. h. seiner Voraussetzungen
oder des Umfangs der Rechte im Aufenthalt wurde bereits besonders deutlich in den
von der Kommission vorgelegten Vorschlägen zur Regelung der begehrten Einwanderung von drittstaatsangehörigen Forschern hingewiesen. Sie gingen davon aus,
dass „Schwierigkeiten beim Familiennachzug oder die Unmöglichkeit für einen
Familienangehörigen, Arbeit zu finden, […] bedeutende Hindernisse für die Mobilität der Forscher dar[stellen] und [diese Forscher] dazu bringen könnten, eine andere
Destination zu wählen. Es ist daher von wesentlicher Bedeutung, die Einreise und
den Aufenthalt von Familienangehörigen der Forscher, die die Europäische Union in
ihr Hoheitsgebiet lässt, zu erleichtern.“1353 Die Kommission schlug daher ausdrücklich günstigere Bedingungen für Angehörige von Forschern als die der Familiennachzugsrichtlinie vor.1354
Die restriktiven Gestaltungsmöglichkeiten des Familiennachzugs machen aus integrationspolitischer Sicht deutlich, dass das Phänomen des Nachzugs als vorübergehend betrachtet werden kann. Ob damit integrationsdienliche soziokulturelle Stabilität der Familienmitglieder entsteht, ist mehr als fraglich. Es ist vor allem problematisch angesichts der faktischen Bedeutung von Aufenthaltssicherheit für Familien.1355 Daran ändert zunächst auch der seltsam anmutende Widerspruch nichts,
dass die Familiennachzugsrichtlinie den Begriff der Integration vergleichsweise häufig aufführt.1356 Eingliederung bedarf dabei nicht nur viel Ausdauer und Glück. Es
1351 Für den ersten sechsmonatigen Zeitraum vom 15. März bis 1. Okt. 2006 ergab sich ein Rückgang von 90 Prozent: Es haben 1.402 Familienangehörige (233 pro Monat) den für die Einreise notwendigen Sprachtest (erfolgreich) absolviert, 133 Kandidaten waren erfolglos. Im
Vergleich dazu gab es im Jahr 2005 pro Monat 2.500 Anträge auf Familienzusammenführung. Vgl. Brief der Integrationsministerin Verdonk an die Zweite Kammer, TK 30308,
Nr. 118, S. 2. Im ersten Jahr nach der Einführung im März 2006 wurden statt der erwarteten
17.000 nur 4.700 Tests durchgeführt, davon allerdings nur 10 % erfolglos. Daraufhin erfolgte
eine politische Diskussion darüber, den Test (Standard A1 ‚minus’) zu erschweren. Dies erfolgte ab 15. März 2008. Die ‚vorgeschlagene’ Durchfallquote von 25 % wurde letzlich auf
15 % festgelegt, TK 29700 nr. 49. Ausführlich dazu auch Human Rights Watch, The Netherlands: Discrimination in the Name of Integration, 2008, S. 18-21.
1352 S. in Kapitel 6, S. 336, dort Fn. 1489.
1353 Vgl. Punkt 3 der Begründung des Vorschlags zur Forscherrichtlinie KOM (2004) 178 endg.
vom 16. März 2004, S. 37.
1354 Zur verabschiedeten Forscherrichtlinie s. S. 172 ff.
1355 Den Zusammenhang von Familienleben mit Sesshaftigkeit und langfristiger Niederlassung
machte nicht zuletzt der Sechste Familienbericht der Bundesregierung deutlich. Vgl. insbesondere die Stellungnahme der Bundesregierung zum Sechsten Familienbericht. Familien
ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen – Belastungen – Herausforderungen, BT-
Drs. 14/4357, S. XIV.
1356 Bei der Lektüre der Familiennachzugsrichtlinie taucht der Begriff der Integration siebenmal
in unterschiedlichem Kontext auf. Zunächst wird in der Präambel auf den Auftrag von Tam-
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kann bei restriktiver Gestaltung des Nachzugs das familiäre Integrationspotenzial
auch überstrapaziert werden und aufgrund von Trennungen, unsicheren Aufenthaltsperspektiven oder unterschiedlichen Zugangs zum Arbeitsmarkt an seine Grenzen
geraten. Als eine Negierung des familiären Integrationspotenzials ist es gar zu werten, wenn das Leben eines Kindes in (seiner) Familie als nicht genügend für seine
Integration erachtet wird, sondern weitere Garantien wie Sprachkenntnisse bereits
vor der Einreise gefordert werden.
Aus rechtlicher Sicht werfen die restriktiven Gestaltungsmöglichkeiten die Frage
ihrer Vereinbarkeit mit der Zielbestimmung ‚Familiennachzug als Menschenrecht’
auf. Im Gegensatz zur originär wirtschaftlichen Ausrichtung des Familiennachzugs
im Freizügigkeitsrecht enthält die Familiennachzugsrichtlinie in ihren Erwägungsgründen einen klaren Verweis auf den in der EMRK sowie der Grundrechtscharta
(EuGRCH) verbrieften Schutz des Familienlebens.1357 Der EuGH ist damit auch
zuständig für die Überprüfung der Vereinbarkeit der Richtlinienbestimmungen mit
Artikel 8 EMRK. Die grund- und menschenrechtliche Dimension des Familiennachzugs wurde bereits in der ersten Entscheidung des EuGH auf dem Gebiet des Famipere Bezug genommen, wonach „[(3)] eine energischere Integrationspolitik darauf ausgerichtet sein soll, Drittstaatsangehörigen Rechte und Pflichten zuzuerkennen, die denen der Unionsbürger vergleichbar sind.“ Hinsichtlich der Familie findet sich die Feststellung: „(4) Die
Familienzusammenführung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben
möglich ist. Sie trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei, die die Integration Drittstaatsangehöriger in dem Mitgliedstaat erleichtert; dadurch wird auch der wirtschaftliche und
soziale Zusammenhalt [der Gemeinschaft] gefördert, der als grundlegendes Ziel der Gemeinschaft im Vertrag aufgeführt wird.“ Sie soll also die Integration der drittstaatsangehörigen
Bezugsperson in die Aufnahmegesellschaft unterstützen, zu der auch die EU sowie die Integration der Drittstaatsangehörigen [in die Gemeinschaft der Unionsbürger] zählt. Aber die
Richtlinie führt noch einen weiteren, spezielleren Aspekt auf: „(15) Die Integration von Familienangehörigen sollte gefördert werden. Dazu sollte ihnen eine von dem Zusammenführenden unabhängige Rechtsstellung zuerkannt werden, insbesondere in Fällen, in denen Ehen
und Partnerschaften zerbrechen sowie gleichermaßen wie dem Zusammenführenden Zugang
zur allgemeinen und beruflichen Bildung sowie zur Beschäftigung nach den einschlägigen
Bedingungen gewährt werden.“ Ein anderes Verständnis von Integration und Familienzusammenführung scheint hingegen folgenden zwei Bestimmungen zugrunde zu liegen: Danach
kann „[Abweichend davon] ein Mitgliedstaat bei einem Kind über zwölf Jahre, das unabhängig vom Rest seiner Familie ankommt, prüfen, ob es ein zum Zeitpunkt der Umsetzung dieser
Richtlinie in den nationalen Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenes Integrationskriterium erfüllt, bevor er ihm die Einreise und den Aufenthalt gemäß dieser Richtlinie
gestattet.“ Damit soll laut Präambel „der Integrationsfähigkeit der Kinder in den ersten Lebensjahren Rechnung getragen und gewährleistet werden, dass sie die erforderliche Allgemeinbildung und Sprachkenntnisse in der Schule erwerben.“ Oder: „(5) Zur Förderung der
Integration und zur Vermeidung von Zwangsehen können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass
der Zusammenführende und sein Ehegatte ein Mindestalter erreicht haben müssen, das höchstens auf 21 Jahre festgesetzt werden darf, bevor der Ehegatte dem Zusammenführenden
nachreisen darf.“ Des Weiteren können „die Mitgliedstaaten […] gemäß dem nationalen
Recht von Drittstaatsangehörigen verlangen, dass sie Integrationsmaßnahmen nachkommen
müssen.“ Hervorhebungen der Verfasserin.
1357 2. Erwägungsgrund RL 2003/86/EG (Familiennachzug).
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liennachzugsrechts virulent. Dabei zeigt insbesondere das (klagegegenständliche)
Beispiel der Kopplung des Kindernachzugs an Altersgrenzen im Hinblick auf angenommene Integrationsprognosen, dass die integrationspolitische Dimension des
Familiennachzugs mit der grundrechtlichen Dimension durchaus in Konflikt geraten
kann. Demgegenüber ist es am Beispiel der Freizügigkeitsregelungen für Unionsbürger interessanterweise gerade das integrationspolitische Konzept, dass auch dem
grundrechtlichen Schutz der Familie von (Binnen-)Migranten durch die Nachzugsregelungen zur Geltung verhilft. Familienwanderung ist – im Gegensatz zur Arbeitswanderung – nur begrenzt im staatspolitischen Interesse regelbar. Die nachziehende Familie ist insoweit nicht ‚nur’ ein Mittel zur Integration, sondern zugleich
Ausfluss des Grund- und Menschenrechts auf Schutz der Familie, und zwar um der
Familie willen. Diese grundrechtliche Dimension der Familie ist trotz staats- und
integrationspolitischer Interessen auch bei Migranten zu berücksichtigen.
Abschließend wird, auch wenn zum derzeitigen Zeitpunkt über die langfristigen
Auswirkungen der Familiennachzugsrichtlinie nur Prognosen angestellt werden
können, durch die Gegenüberstellung der Konzepte deutlich: Integration durch
Recht funktioniert mittels Ein- und Ausgrenzung oder unterschiedlicher Gewährung
von Rechten und Pflichten. Der Idealzustand der rechtlichen Integration kann in der
Gleichbehandlung gesehen werden.1358 In jedem Fall ist die Signalwirkung normativer Aussagen nicht zu unterschätzen. Im Ergebnis wird sich bei der Umsetzung der
Richtlinie zeigen, inwieweit die Mitgliedstaaten die integrative Wirkung familiärer
Einheit unterstützen oder sie die erheblichen Spielräume der Familiennachzugsrichtlinie zur Kontrolle familiärer Wanderung nutzen.
1358 Davy, U., Integration von Einwanderern in Deutschland, in: Barwig/Davy (Hg.), Auf dem
Weg zur Rechtsgleichheit?, S. 83, 86 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung widmet sich einem der umstrittensten und in dieser Komplexität wenig behandelten Felder des modernen Migrationsrechts. Die Autorin begreift Familienzusammenführung als ein europäisches Migrationsphänomen, das einer rechts- und länderübergreifenden sowie interdisziplinären Perspektive bedarf. Die Darstellung besitzt mit ihrer Zusammenführung von Völkerrecht, Europarecht und deutschem Verfassungsrecht mit Elementen der Politikwissenschaft Seltenheitswert.
Im Zentrum stehen die aktuellen Entwicklungen in der EU. Die Entwicklung der Familienzusammenführungsrichtlinie wird vor dem Hintergrund völkerrechtlicher Verpflichtungen und nationaler Veränderungen kritisch untersucht. Dabei werden die Verhandlungspositionen zur Richtlinie vor dem Hintergrund des französischen, niederländischen und deutschen Nachzugsrechts analysiert. Des Weiteren erforscht die Autorin die Auswirkung dieses Europäisierungsprozesses für Unionsbürger einerseits sowie für Drittstaatsangehörige andererseits einschließlich der Gruppe der Asylberechtigten und Flüchtlinge und hinterfragt das Zuwanderungsgesetz 2007 auf Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen und internationalen Verpflichtungen.