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D. Die Schwierigkeit der Umsetzung des Auftrags von Tampere
Der mühselige Weg der Harmonisierung hat den europäischen Plänen unstreitig
deutliche Grenzen gesetzt. Der Anwendungsbereich und die konkreten Bedingungen
der Familiennachzugsrichtlinie zeigen, dass das erreichte Niveau der Angleichung
geringer ist als von der Kommission vorgeschlagen und im Laufe der Verhandlungen eine deutliche Abstufung zwischen Familien von Unionsbürgern und Familien
von Drittstaatsangehörigen erfolgte. Demgegenüber ging der erste Kommissionsvorschlag ebenso wie Querschnittsstudien907 davon aus, dass die nationalen Rechtsordnungen trotz starker Unterschiede durchaus eine Harmonisierung auf einem höheren
Niveau zulassen würden.908 Hinderungsgrund einer stärkeren Harmonisierungsintensität waren vor allem ihre Rechtsfolgen: die Befürchtung der nationalen Verhandlungsteilnehmer vor einer stärkeren Beschränkung oder sogar dem Verlust der nationalen Regelungskompetenzen und der Aufgabe der Möglichkeit mitgliedstaatlicher Rechtsentwicklung bei Familiennachzug. Infolge des niedrigen
Harmonisierungsgrades bekommt nach teils geäußerter Ansicht die ursprünglich als
Rahmenregelung gedachte Richtlinie sogar den Charakter eines kleinsten gemeinsamen Nenners des bereits geltenden nationalen Rechts bzw. wurde als eine Harmonisierung „von unten“ gewertet.909 Jedenfalls bleiben weiterhin (erhebliche) Differenzen der nationalen Nachzugsrechte mit der Familiennachzugsrichtlinie bestehen
und für drittstaatsangehörige Familienmitglieder die Staatsangehörigkeit des Zusammenführenden für die Erlangung von Rechtspositionen relevant.
Trotz dieser schwierigen Entwicklungsgeschichte stellt sich für die Zukunft die
Frage nach dem normativen Gehalt der verabschiedeten Familiennachzugsrichtlinie.
Dies ist – vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips – für die Beurteilung der
Harmonisierungsintensität910 ebenso wichtig wie für die Beschreibung eines mögli-
907 Vgl.die Länderstudien in Davy, U. (Hg.), Integration von Einwanderern, S. 197 ff. sowie
zusammenfassend Davy, U., Integration von Einwanderern: Instrumente – Entwicklungen –
Perspektiven, in: dies. (Hg.), Integration von Einwanderern, S. 970 ff.; Giegerich, Th., Rechtliche Steuerung der Einwanderung, in: ders./Wolfrum (Hg.), Einwanderungsrecht – national
und international, 2001, insb. S. 485 ff.; Peers, S./Barzilay, R./Groenendijk, K./Guild, E., The
Legal Status of Third Country Nationals who are Long-Term Residents, 2000.
908 Auch van der Velde, S. geht von einem „common understanding“ über das prinzipielle Bestehen eines Nachzugsrechts der Kernfamilie aus, dies., Three Paradoxes in the Community
Right to Family Reunification for Migrant Worker, in: von Hoffmann (Hg.), Towards a
Common European Immigration Policy, S. 213, 214.
909 Vgl. Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem dritten Vorschlag für
eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, ABl. C 241
vom 7. Okt. 2002, S. 108; sowie die Berichterstatterin im Ausschuss für Freiheiten und Rechte der Bürger, Justiz und innere Angelegenheiten des Europäischen Parlaments (LIBE) Carmen Cerdeira Morterero, in dem Bericht über den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, PE 319.245 vom
24. März 2003, A5-0086/2003 endg., S. 46.
910 Der Harmonisierungsgrad muss aus der Ermächtigungsgrundlage, dem Gesamterscheinungsbild und dem System einer Richtlinie beurteilt werden, EuGH, Urteil vom 5. April 1979, Rs.
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chen Konzept(-wandels) im Vergleich zum Freizügigkeitsrecht.911 Nicht zuletzt
ergibt sich aus den verpflichtenden Mindeststandards der innerstaatliche Umsetzungsbedarf.912 Wozu sind also die Mitgliedstaaten nach Abzug aller Ausnahmen
und Spielräume verpflichtet? Der normative Gehalt der Familiennachzugsrichtlinie
lässt sich in drei Zielrichtungen zusammenfassen:
Erstens: Die Richtlinie verlangt die Einreise und den Aufenthalt eines Kernbereiches berechtigter Personen, nämlich der anspruchsberechtigten Ehegatten und gemeinsamen, minderjährigen ledigen Kinder. Sie gewährt also (potenziell) dauerhaft
aufhältigen Drittstaatsangehörigen und ihren Angehörigen erstmals ein gemeinschaftliches Recht auf Familiennachzug im Sinne eines Anspruchs auf Zugang und
Aufenthalt. Hinsichtlich des ‚Ob’ des Familiennachzugs gewährt sie damit Drittstaatsangehörigen ein Unionsbürgern vergleichbares Recht. Der Inhalt der Familiennachzugsrichtlinie besteht auf dieser Basis vor allem in dem ‚Wie’ der Familienzusammenführung: Die Richtlinie regelt die „Bedingungen für die Ausübung des
Rechts auf Familienzusammenführung auf europäischer Ebene“ durch Angleichung
des teils sehr unterschiedlichen nationalen Rechts auf Familiennachzug, welches als
bestehend vorausgesetzt wird.913 Dabei gilt das Nachzugsrecht der Kernfamilie nicht
unbegrenzt, denn erlaubt sind sowohl die Kopplung des Nachzugs als auch des Aufenthalts der Familienangehörigen an verschiedene Bedingungen. Der innerstaatliche
Gestaltungsspielraum ist dabei beträchtlich. Die Richtlinie sieht also im Unterschied
zum Freizügigkeitsrecht hinsichtlich des ‚Wie’ der familiären Wanderung nicht
grundsätzlich die Gleichstellung der Familienangehörigen mit dem Zusammenführenden vor.
Zweitens: Außerhalb des möglichen Regelungsspielraums verbietet die Richtlinie
die Einführung weiterer ungünstiger Bedingungen als die in ihr verankerten und
begrenzt damit den Gestaltungsspielraum ‚nach unten’. Als Harmonisierungsinstrument begrenzt sie ihn insoweit – wie die Freizügigkeitsrichtlinie auch914 – eindimensional: Aufgrund der Günstigkeitsklausel in Artikel 3 Abs. 5 Familiennachzugsrichtlinie bleibt das Recht der Mitgliedstaaten unberührt, günstigere Regelungen zu treffen oder beizubehalten.915 Beispiele für die Begrenzungswirkung sind, dass keine
zusätzlichen oder höheren wirtschaftlichen Voraussetzungen, wie in der Richtlinie
bestimmt, verlangt werden können. Auch für die Einkommensberechnungen und die
148/78, Ratti, Slg. 1979, 1629 ff., 1643, Rn. 27; EuGH, Urteil vom 14. Okt. 1987, Rs. 278/85,
Kommission/Dänemark, Slg. 1987 4069 ff., 4087, Rn. 12.
911 S. dazu in Kapitel 4, S. 280 ff.
912 S. dazu in Kapitel 6, S. 329 ff.
913 Vgl. Kommentar der Kommission zu Art. 1 KOM (2002)225. Im Gegensatz dazu sprach der
ursprüngliche Entwurf von dem „Recht auf Familienzusammenführung, das mit dem Richtlinienentwurf begründet wird“, vgl. Kommentar zur Art. 1 KOM (1999) 638.
914 Art. 37 RL 2004/38/EG.
915 Eine Ausnahme davon stellen zwei Verbotsklauseln der Richtlinie dar: Danach sind die Mitgliedstaaten nicht frei in der Zulassung weiterer Ehegatten bei Mehrehe (in einem Mitgliedstaat) sowie bei der Gewährung von über die Dauer des Zusammenführenden hinausgehenden Aufenthaltstiteln für die Familienangehörigen.
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Verfahrensdauer gelten gemeinschaftsrechtliche Vorgaben und zeitliche Maximalgrenzen. Es können nach Ablauf der Umsetzungsfrist keine Altersgrenzen für Kinder (mehr) eingeführt werden. Kriterien wie das Vorliegen eines ‚tatsächlichen Familienbandes’ sind unzulässig. Altersgrenzen für Ehegatten sind auf 21 Jahre begrenzt und nur zur Förderung der Integration und zur Vermeidung von Zwangsehen
zulässig. Für Ehegatten kommt es nicht auf den Zeitpunkt der Eheschließung an,
Wartezeiten dürfen die Dauer von zwei Jahren nicht überschreiten. Das Recht auf
Zugang zu Bildung darf nicht beschränkt werden, Arbeitsmarktzugänge für Ehegatten, nicht eheliche Partner und minderjährige Kinder sind spätestens nach zwölf
Monaten zu öffnen. Ein eigenständiger Aufenthaltstitel ist für bestimmte Fälle zu
gewähren und generalpräventive Aspekte in nationalen Ausweisungssystemen (wie
dem deutschen) zu überprüfen.
Drittens: Die Richtlinie verringert den für drittstaatsangehörige Familien erlaubten Spielraum nochmals für den Nachzug zu Flüchtlingen. Für sie gelten damit höhere Mindeststandards. So können Kinder von Flüchtlingen bis zum Alter von
18 Jahren nachziehen. Die Einreise von Familienangehörigen von Flüchtlingen ist
unabhängig von Integrationskursen, Wartezeiten und grundsätzlich auch von wirtschaftlichen Voraussetzungen. Unbegleitete Minderjährige als Flüchtlinge werden in
der Richtlinie besonders geschützt: Ihren Eltern muss Nachzug gewährt werden.
Die viel kritisierte Schwächung des normativen Gehalts der Familiennachzugsrichtlinie916 geht vor allem darauf zurück, dass sie im Unterschied zum Freizügigkeitsrecht unter dem Vorzeichen der ‚Flexibilität’ eine Anzahl nationaler Instrumente enthält. Zudem hindert sie die Mitgliedstaaten nicht, in Teilen den – ggf. niedrigeren – Standard der Richtlinie anzunehmen. Infolgedessen geht das erreichte Maß der
Angleichung zugleich mit der Gefahr einer Absenkung der bestehenden gemeinschaftsweiten Standards einher. Die Einführung des niederländischen Ehegattennachzugsalters von 21 Jahren illustriert dies ebenso wie die entsprechende Diskussion und Nachahmung in Deutschland (reduziert auf 18 Jahre). Die Richtlinie überlässt damit den Mitgliedstaaten – über den Mindeststandard hinaus – einen erheblichen Spielraum für das Maß des Schutzes familiärer Interessen von Migranten. So
haben die Mitgliedstaaten (aus Sicht der Familiennachzugsrichtlinie!) Spielraum bei
der Regelung folgender Punkte: des Nachzugs zu vorübergehend aufhältigen und
subsidiär geschützten Drittstaatsangehörigen, des Nachzugs nicht ehelicher Partner
und ihrer Kinder oder ihrer Gleichstellung mit Ehegatten, des Nachzugs minderjähriger Kinder der Ehegatten mit geteiltem Sorgerecht, des Nachzugs von Pflegekindern, des Nachzugs von Kindern weiterer Ehegatten, des Nachzugs weiterer
Verwandter, des Nachzugs von Ehegatten zwischen 18 und 21 Jahren, des Nachzugs
zu Flüchtlingen, deren familiäre Bindung nach der Flüchtlingsanerkennung entstanden sind, des Nachzugs weiterer Verwandter von Flüchtlingen und unbegleiteten
minderjährigen Flüchtlingen. Sie sind nach der Richtlinie ebenso ‚frei’ bei der
916 Beispielhaft Blechinger, J., Kirchliche Positionen zum Familiennachzug, in: Barwig/Davy
(Hg.), Auf dem Weg zur Rechtsgleichheit?, S. 263-267.
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Kopplung des Nachzugs an Wartezeiten oder wirtschaftliche Voraussetzungen sowie
bei Integrationsmaßnahmen nach der Einreise, der Beschränkung des Arbeitsmarktzugangs für Verwandte und volljährige Kinder oder des sofortigen Arbeitsmarktzugangs für die Kernfamilie oder der Festlegung der Bedingungen des eigenen Aufenthaltstitels. Die mögliche Realisierung der darin liegenden Absenkungsgefahr ist
auf der anderen Seite aber auch nicht zwingend. Die Familiennachzugsrichtlinie
hindert die Staaten nicht, günstigere Regelungen beizubehalten oder gar zu erlassen.
Insgesamt macht die Gegenüberstellung der Familiennachzugsrichtlinie mit dem
Freizügigkeitsrecht deutlich, dass ein grundsätzlicher Nachzugsanspruch auf einer
Regelungsebene (Gemeinschaftsrecht) sowie die rechtliche Angleichungstechnik
(Harmonisierung) vergleichbar sind im Sinne von Tampere. Das Argument der verschiedenen Rechtskreise und eine getrennte Betrachtung von Unionsbürgern und
Drittstaatsangehörigen gehören damit der Vergangenheit an. Vielmehr kann künftig
von einer rechtlichen Vergleichbarkeit von Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen gesprochen werden. Das Niveau der insoweit angeglichenen Rechte und Pflichten ist hingegen (noch) ein Unterschiedliches. Die Familiennachzugsregelungen für
Drittstaatsangehörige sind umfangreicher und weniger großzügig. Der Familienbegriff ist enger gefasst, die Rechtsansprüche auf die Kernfamilie begrenzt, der Zugang kann teils um Jahre verzögert werden. Die Missbrauchsschranken sind demgegenüber höher, die Angleichung des Aufenthaltsrechts erfolgt nur stufenweise. Zudem unterscheidet sich die Rechtsstellung der Kernfamilie deutlich von den weiteren
Familienmitgliedern. Vergleichbar ist der (grundsätzlich) sofortige Zugang zum
Arbeitsmarkt, jedoch ebenfalls nur für die Kernfamilie. Aufenthaltssicherheit in
Form des Aufenthaltstitels aus eigenem Recht ist möglich, jedoch erst am Ende
einer erheblichen Zeitdauer erreichbar, die zudem durch Abhängigkeit und kurzfristige Aufenthaltsperspektiven der Familienmitglieder gekennzeichnet ist. Im Detail
kann von vergleichbaren Nachzugsrechten und -pflichten für Unionsbürger und
Drittstaatsangehörige nicht die Rede sein. Insoweit werden die Regelungen dem
selbstgesetzten Anspruch einer „gerechten Behandlung“ im Sinne von Tampere
noch nicht gerecht.
E. Bewertung der Entwicklung der Familienzusammenführungsrichtlinie
Für eine Erklärung, warum eine Harmonisierung dieses Rechtsgebiets so schwer ist,
ist die Frage nach den Gründen zu stellen, die diese erhebliche Absenkung der vorgeschlagenen Normen zur Folge hatten. Dies lenkt die Aufmerksamkeit über die
legalistische Betrachtung hinaus auf die Verhandlungen im Rat und – vor dem Hintergrund ihres innerstaatlichen Rechts – die Reaktionen der Mitgliedstaaten auf die
europäischen Vorschläge der Kommission.
Die insoweit spezifizierte Beurteilungsgrundlage ist naturgemäß nicht abschlie-
ßend. Sie erfasst nicht weitere Ursachen wie die zahlenmäßige Bedeutung des Fami-
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung widmet sich einem der umstrittensten und in dieser Komplexität wenig behandelten Felder des modernen Migrationsrechts. Die Autorin begreift Familienzusammenführung als ein europäisches Migrationsphänomen, das einer rechts- und länderübergreifenden sowie interdisziplinären Perspektive bedarf. Die Darstellung besitzt mit ihrer Zusammenführung von Völkerrecht, Europarecht und deutschem Verfassungsrecht mit Elementen der Politikwissenschaft Seltenheitswert.
Im Zentrum stehen die aktuellen Entwicklungen in der EU. Die Entwicklung der Familienzusammenführungsrichtlinie wird vor dem Hintergrund völkerrechtlicher Verpflichtungen und nationaler Veränderungen kritisch untersucht. Dabei werden die Verhandlungspositionen zur Richtlinie vor dem Hintergrund des französischen, niederländischen und deutschen Nachzugsrechts analysiert. Des Weiteren erforscht die Autorin die Auswirkung dieses Europäisierungsprozesses für Unionsbürger einerseits sowie für Drittstaatsangehörige andererseits einschließlich der Gruppe der Asylberechtigten und Flüchtlinge und hinterfragt das Zuwanderungsgesetz 2007 auf Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen und internationalen Verpflichtungen.