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gilt für alle Mitglieder der Familie.400 Die revidierte Sozialcharta fügt zu Artikel 19
ESC zwei weitere – integrationsrelevante – Verpflichtungen hinzu:
”11. für Wanderarbeitnehmer und ihre Familienangehörigen den Unterricht zum Erlernen der
oder, sollte es mehrere geben, einer Landessprache des Aufnahmestaats zu fördern und zu erleichtern;
12. soweit durchführbar, den Unterricht zum Erlernen der Muttersprache des Wanderarbeitnehmers für dessen Kinder zu fördern und zu erleichtern.“
C. Die Europäische Konvention über die Rechtsstellung von Wanderarbeitnehmern
Die Europäische Konvention über die Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmer (Europäische Wanderarbeitnehmerkonvention – EWAK) vom 24. November 1977401 ist
ein spezifisches Menschenrechtsinstrument des Europarates für Wanderarbeitnehmer. Sie beschäftigt sich mit dem Leben der Migranten selbst, und zwar abhängig
vom Beschäftigungsbezug. Sie beinhaltet den Grundsatz der Gleichbehandlung von
ausländischen und inländischen Arbeitnehmern im Bereich ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen und zielt auf die Förderung des sozialen Aufstiegs und Wohls von
Wanderarbeiterfamilien.402 Dazu zählt auch Familiennachzug. Als Vorbild dieser
Konvention des Europarates haben die im Rahmen der UNO und ILO diskutierten
Schutzbestimmungen für Wanderarbeitnehmer gedient. Das Ergebnis ist jedoch im
Vergleich dazu schwach. Obgleich das Übereinkommen ein Menschenrechtstext ist,
erntete er Kritik aufgrund des geringen Gehalts an Rechten.403 Grund ist der Zeitpunkt der Verabschiedung, der durch die Ölkrise und eine hohe Arbeitslosigkeit
unter den ausländischen Arbeitnehmern gekennzeichnet ist.404 Der Anwendungsbereich dieses Übereinkommens ist darüber hinaus in zweierlei Hinsicht begrenzt.
400 Peers, S./Barzilay, R./Groenendijk, K./Guild, E., The legal status of persons admitted for
family reunion, 2000, S. 11.
401 European Convention on the Legal Status of Migrant Workers (ETS Nr. 93). Die Konvention
trat am 1. Mai 1983 in Kraft. Derzeit haben elf Staaten des Europarats die Konvention ratifiziert. Davon sind sechs Mitgliedstaaten der EU-27: Frankreich, Italien, die Niederlande, Portugal, Schweden sowie Spanien. Des Weiteren haben Albanien, Norwegen, Moldawien, Türkei und die Ukraine ratifiziert (Stand: 11. Juli 2008). Die Bundesrepublik hat am
24. Nov. 1977 unterzeichnet mit der Erklärung, dass ”the Government of the Federal Republic of Germany reserves the right, when it ratifies the European Convention on the Legal Status of Migrant Workers, which it will not be able to do until a date deemed appropriate from
the point of view of the labour market, to make reservations at least in respect of Article 6,
paragraph 1, Article 14, paragraph 1, and Article 18, paragraph 2, of the Convention.” Die
deutsche nichtamtliche Übersetzung ist abrufbar unter http://conventions.coe.int/.
402 Präambel EWAK.
403 Zeichen, S., Wanderarbeitnehmer und ihr Recht auf Familienleben, S. 118. Auch nach Plender, R., International Migration Law, S. 252, ähnelt der Inhalt eher einem Niederlassungsvertrag als einem Regelsystem für Wanderarbeit.
404 Cholewinski, R., Migrant Workers, S. 221 f.
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Zum einen betrifft es ausschließlich abhängig Beschäftigte405, zum anderen gilt es –
ebenso wie bei der ESC – nur für diejenigen Arbeitnehmer, die Angehörige eines
der Vertragsstaaten des Übereinkommens sind (Prinzip der Gegenseitigkeit). Ein
weiteres Problem ist das schwach ausgestaltete Kontrollinstrumentarium. Zwar soll
ein ständiger Ausschuss regelmäßig Berichte über nationale Bestimmungen erstellen, die an das Ministerkomitee des Europarates übermittelt werden.406 Aber es gibt
keine staatliche Berichtspflicht oder Sanktionsmöglichkeiten.
Praktische Bedeutung hat die Konvention nur für die außerhalb der EU und EWR
liegende Türkei und Moldawien (ebenso Albanien und Ukraine), soweit ihre Angehörigen sich in den sieben europäischen Vertragsstaaten (einschließlich Norwegen)
aufhalten. Verstärktes Gewicht kommt ihr insoweit auch infolge des EuGH-Urteils
zur Familiennachzugsrichtlinie zu.407
I. Recht auf Aufenthalt
Obgleich sich in dieser Konvention keine ausdrückliche Anerkennung der grundlegenden Bedeutung der Familie findet, enthält sie spezifische Aussagen zur Frage der
Familienzusammenführung.
1. Familienzusammenführung – Artikel 12 Abs. 1 EWAK
Zur Familie bestimmt sie, dass der Ehegatte und die ledigen Kinder das Recht („are
authorised“, „wird erlaubt“) haben, dem bereits im Gebiet eines Vertragsstaates
wohnhaften Wanderarbeitnehmer nachzufolgen. Artikel 12 Abs. 1 S. 1 lautet:
”Dem Ehegatten eines ordnungsgemäß im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei beschäftigten
Wanderarbeitnehmers und … seinen unverheirateten Kindern wird … unter Voraussetzungen,
die den in diesem Übereinkommen für die Zulassung von Wanderarbeitnehmern vorgesehenen
entsprechen … die Erlaubnis erteilt, in das Hoheitsgebiet einer Vertragspartei zu dem Wanderarbeitnehmer zu ziehen …“
Ein Vertragsstaat darf allerdings den Familiennachzug an mehrere Bedingungen
knüpfen. So kann vom Zusammenführenden nicht nur der Nachweis ausreichenden
Unterhalts sowie angemessenen Wohnraums verlangt werden, sondern es ist ausdrücklich eine Wartezeit zulässig, welche jedoch zwölf Monate nicht überschreiten
soll.408 Insoweit ist das Abkommen günstiger als die Richtlinie zur Familienzusammenführung.
405 Nicht erfasst sind Selbstständige und Illegale. Ausdrücklich ausgeschlossen sind Studenten,
Saisonarbeiter und Grenzgänger, Art. 1 Abs. 2 lit. a)-f) EWAK.
406 Art. 33 EWAK.
407 S. dazu Kapitel 6, S. 289 f.
408 Art. 12 Abs. 1 S. 2 EWAK.
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2. Enger Familienbegriff
Der Familienbegriff ist eng gehalten. Zu den Familienmitgliedern zählt die Konvention den Ehegatten sowie die – nach nationalem Recht minderjährigen (in den betreffenden EU-Vertragsstaaten sind das bis zu 18 Jahre), unverheirateten, abhängigen Kinder. Weitere Altersgrenzen für diesen Personenkreis werden – anders die
Familiennachzugsrichtlinie – nicht genannt.409
II. Recht im Aufenthalt
Ist der Nachzug erlaubt worden, sollen sich die Bedingungen der Zulassung zum
aufnehmenden Staat für die Familienangehörigen ‚entsprechend’ zu denen des Zusammenführenden gestalten. Unklar ist, wie weit dieses Entsprechungsgebot reicht.
Jedenfalls wird das Recht auf Gleichbehandlung für Familienangehörige für einige
Arbeits- und Lebensgebiete konkretisiert.410 Damit soll in Anlehnung an die ESC
das soziale Wohl und der Aufstieg der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen gefördert werden. Die Intention einer Integrationsförderung wird nicht
ausdrücklich genannt. Vielmehr enthält die Konvention auch Bestimmungen zur
Rückkehr.411
1. Aufenthaltssicherheit
Der Vertragsstaat muss dem Wanderarbeitnehmer sowie seinen Familienangehörigen eine Aufenthaltserlaubnis in Kopplung an die Arbeitserlaubnis zu erteilen. Ist
Letztere unbefristet, darf die Aufenthaltserlaubnis unter Verlängerungsmöglichkeit
auf mindestens ein Jahr befristet werden. Unfreiwillige, wie durch Krankheit bedingte Arbeitslosigkeit darf nicht automatisch zum Ende des Aufenthalts führen. Für
mindestens fünf Monate oder die Dauer des Bezuges von Arbeitslosengeld ist dem
Arbeitnehmer und folglich auch den Familienangehörigen danach der Aufenthalt zu
erlauben.412 Von indirekter Relevanz ist hierbei auch die Forderung nach einer spätestens nach einem Jahr zu gewährenden Arbeitsmarkt- und Wohnungsmobilität.413
409 Art. 12 Abs. 1 EWAK. Zeichen, S., Wanderarbeitnehmer und ihr Recht auf Familienleben,
S. 120.
410 So für den Bereich soziale Sicherheit und Fürsorge, Art. 18 und 19 EWAK. Peers,
S./Barzilay, R./Groenendijk, K./Guild, E., The legal status of persons admitted for family reunion, 2000, S. 13.
411 Art. 30 EWAK. Vgl. auch die Regelung zur Überführung des Leichnams bei Todesfällen in
den Heimatstaat, Art. 22 EWAK, oder die Überweisung von Ersparnissen, Art. 17 EWAK.
412 Art. 9 EWAK.
413 Art. 8 EWAK.
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2. Zugang zu Bildung
Zu einem Recht auf Arbeitsmarktzugang für Familienangehörige der Wanderarbeitnehmer enthält das Übereinkommen nichts. Ein den Inländern vergleichbarer Anspruch auf Hilfe und Unterstützung durch die Arbeitsmarktverwaltung wird ausdrücklich nur den Wanderarbeitnehmern zugestanden. Anders verhält es sich mit
dem Recht auf allgemeine Bildung sowie berufliche Ausbildung und Umschulung
bis hin zum Zugang zu Hochschulen, welche ebenso wie das dafür nötige Sprachtraining und nach Möglichkeit die Gewährung von Stipendien unter denselben Voraussetzungen wie für staatsangehörige Arbeitnehmer auch auf Familienangehörige
erstreckt werden sollen.414 Ein dem Rotationsprinzip entsprechender Ansatz findet
sich in der Aufforderung, wonach den Vertragsstaaten in gegenseitiger Vereinbarung anheim gestellt wird, die Kinder von Wanderarbeitnehmern in ihrer Muttersprache zu unterrichten, „um ihnen unter anderem die Rückkehr in ihren Heimatstaat
zu erleichtern“.
Zusammenfassung: Internationale Lösungsansätze und Verpflichtungen
Die regionalen Verträge des Europarates messen ebenso wie die universellen Konventionen der Vereinten Nationen dem Familienschutz eine hohe menschenrechtliche Bedeutung zu. Sie weisen mit der Entstehung von Spezialkonventionen nicht
nur formal eine den Texten der Vereinten Nationen vergleichbare Entwicklung auf,
sondern sie greifen inhaltlich das Thema Menschenrecht und Migration ebenfalls
explizit auf, konkretisieren es und zeigen, dass Wanderungsfragen zunehmend und
in besonderer Weise für regelungsbedürftig erachtet werden. Die Begründung liegt
in dem festgestellten Dilemma, dass für Millionen von Wanderarbeitnehmern, obgleich dauerhaft (mehr als fünf Jahre) in europäischen Staaten aufhältig, der rechtliche Status und ihre innerstaatlich gewährten Rechte denen eines vorübergehenden
Aufenthalts entsprechen.415 Diesen Menschen ist es nicht möglich, einige der für
‚jedermann’ geltenden Rechte der EMRK zu nutzen, weil sie Migranten sind.416
Dazu zählt auch das Recht auf Achtung des Familienlebens. Auch wenn die europäischen familienschützenden Regelungen für Migranten sich hinsichtlich Regelungsintensität und Durchsetzungsstärke zum Teil unterscheiden, ähneln sie der universellen Anerkennung insofern, als sie die oftmals schwierigen Lebensrealitäten wandernder Familien als menschenrechtliches und überstaatliches Problem wahrnehmen
und spezifische Lösungsansätze zum Schutz der Familie und ihres Zusammenlebens
414 Art. 14 EWAK.
415 Empfehlung R (2002) 4 des Ministerkomitees vom 26. März 2002 über den rechtlichen Status
von Personen, die für Familienzusammenführung zugelassen wurden.
416 Punkt 7 der Empfehlung Nr. 1082 (1988) der Parlamentarischen Versammlung betreffend das
Recht auf dauerhaften Aufenthalt für Wanderarbeitnehmer und ihre Familienangehörigen.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung widmet sich einem der umstrittensten und in dieser Komplexität wenig behandelten Felder des modernen Migrationsrechts. Die Autorin begreift Familienzusammenführung als ein europäisches Migrationsphänomen, das einer rechts- und länderübergreifenden sowie interdisziplinären Perspektive bedarf. Die Darstellung besitzt mit ihrer Zusammenführung von Völkerrecht, Europarecht und deutschem Verfassungsrecht mit Elementen der Politikwissenschaft Seltenheitswert.
Im Zentrum stehen die aktuellen Entwicklungen in der EU. Die Entwicklung der Familienzusammenführungsrichtlinie wird vor dem Hintergrund völkerrechtlicher Verpflichtungen und nationaler Veränderungen kritisch untersucht. Dabei werden die Verhandlungspositionen zur Richtlinie vor dem Hintergrund des französischen, niederländischen und deutschen Nachzugsrechts analysiert. Des Weiteren erforscht die Autorin die Auswirkung dieses Europäisierungsprozesses für Unionsbürger einerseits sowie für Drittstaatsangehörige andererseits einschließlich der Gruppe der Asylberechtigten und Flüchtlinge und hinterfragt das Zuwanderungsgesetz 2007 auf Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen und internationalen Verpflichtungen.