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Zweites Kapitel: Achtung des Familienlebens im regionalen Menschenrechtsschutz
Der Europarat, gegründet am 5. Mai 1949, war von dem Bestreben nach dem politischen und wirtschaftlichen Zusammenschluss der europäischen Staaten motiviert
und sollte auf der Basis begrenzten nationalen Souveränitätsverzichts als gemeinsame Macht zugunsten der Ziele Sicherheit, Frieden, Freiheit sowie wirtschaftlichen
Wohlstandes agieren. Obgleich der Europarat jünger ist als die Vereinten Nationen,
erfolgte unter seinem Dach die Entwicklung menschenrechtsspezifischer Instrumente erheblich früher. Bereits 16 Monate nach seiner Gründung wurde die Europäische
Menschenrechtskonvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
zur Unterzeichnung aufgelegt. Ihr Pendant im Bereich der sozialen Rechte, die Europäische Sozialcharta, folgte erst zehn Jahre später. Heute gibt es 200 Konventionen des Europarates. Ähnlich der universellen Ebene hat dabei die Entwicklung von
allgemeinen Texten zu Spezialkonventionen geführt, so auch im Migrationsbereich
zu Wanderarbeitnehmern.
A. Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte
und Grundfreiheiten
Herausragende Bedeutung auf dem Gebiet der Menschenrechte kommt der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) vom 4. November 1950 zu.221 Ausgehend von der knapp zwei Jahre zuvor verabschiedeten AEMR wurde sie ungleich
schneller erstellt als die erst 16 Jahre später abgeschlossenen Pakte der Vereinten
Nationen und erfuhr seitdem zahlreiche Erweiterungen durch eine Reihe von Proto-
221 European Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, ETS
Nr. 5, abgedruckt in Sartorius II, Nr. 130. Derzeit sind ihr 47 Mitglieder beigetreten (Stand:
10. Juli 2008). Nachdem die Bundesrepublik Deutschland die EMRK am 5. Dez. 1952 ratifizierte, ist die Konvention am 3. Sept. 1953 nach Ratifizierung durch neun weitere Staaten
auch für die Bundesrepublik in Kraft getreten. Vgl. dazu auch in Kapitel 7, S. 384 f. Alle ‚alten’ EU-Mitgliedstaaten sind seit 1974 Mitglieder des Europarates und Vertragsparteien der
EMRK, ebenso alle zehn ‚neuen’ Mitgliedstaaten (ebenso Bulgarien und Rumänien) seit
1997, für welche gemäß der Erklärung des Europäischen Rates von Kopenhagen in den
Schlussfolgerungen vom 22. Juni 1993 (BullEG 6-1993, S. 13) sowie Abs. 6 der Präambel
der Europaabkommen der – erfolgte – Beitritt zum Europarat und der EMRK Voraussetzung
für den EU-Beitritt war, vgl. Vedder, Ch., in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Bd. I, 15. EL, Jan. 2000, Art. 49 EUV, Rn. 13, 15.
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kollen.222 Sie errichtet mit einem umfassenden Menschenrechtskatalog ein europäisches Menschenrechtsschutzsystem,223 dessen Einhaltung durch Organe auch überprüft werden kann. Letzteres wurde mit dem Protokoll Nr. 11224 grundlegend zugunsten eines verbesserten Individualrechtsschutzes weiterentwickelt, wonach jeder,
ähnlich einer Verfassungsbeschwerde, gegen eine Verletzung seiner Rechte klagen
kann. Die Wirkung der Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
(EGMR) in Form der Befolgungspflicht gilt zwar grundsätzlich allein zwischen den
beteiligten Vertragsstaaten (inter-partes).225 Darüber hinaus kommt ihnen aber auch
Orientierungswirkung für alle Mitgliedstaaten und damit praktisch erga omnes-
Wirkung zu.226
Die Kontrollbefugnis des EGMR erstreckt sich aber nicht nur auf national veranlasstes Recht, sondern gilt zunehmend auch dann, wenn die Mitgliedstaaten Gemeinschaftsrecht anwenden oder durchführen. Erfasste dies bislang (nationales)
vollziehendes Handeln, bei dem den Mitgliedstaaten im Rahmen des Gemeinschafts-
222 Derzeit insgesamt vierzehn (Stand: 10. Juli 2008): Die Bundesrepublik ratifizierte die Zusatzprotokolle Nr. 1-6 sowie Nr. 8, 9, 10, 11, 13 und 14. Sie sind damit (fast) alle auch für die
Bundesrepublik in Kraft getreten. Dazu zählt insbesondere Protokoll Nr. 11 (ETS Nr. 155)
am 1. Nov. 1998 (Gesetz zu dem Protokoll Nr. 11 vom 11. Mai 1994 zur Konvention zum
Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 24. Juli 1995, BGBl 1995 II, S. 578).
Das 7. Zusatzprotokoll ist zwar am 1. Nov. 1988 in Kraft getreten, jedoch mangels Ratifizierung nicht für das Gebiet der Bundesrepublik. Umgekehrtes gilt für Protokoll 10 (ETS
Nr. 146), welches von der Bundesrepublik am 7. Juli 1994 ratifiziert wurde. Protokoll Nr. 12
(ETS Nr. 177), das ein umfassendes Diskriminierungsverbot vorsieht, ist – nachdem es am
4. Nov. 2000 in Rom von 25 Staaten unterzeichnet wurde – am 1. April 2005 mit den erforderlichen zehn Ratifikationen in Kraft getreten. 17 Staaten haben bislang ratifiziert. Die Bundesrepublik hat unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert, http://conventions.coe.int/
Treaty/GER/projets/v3Projets.asp (Stand: 4. Juni 2008). Auch Protokoll Nr. 13 (ETS Nr. 187)
zur Abschaffung der Todesstrafe vom 3. Mai 2002 ist am 1. Juli 2003 in Kraft getreten. Es
wurde bislang von 40 Staaten ratifiziert, darunter der Bundesrepublik am 11. Okt. 2004. Protokoll Nr. 14 (ETS Nr. 194) vom 13. Mai 2004 über die Reform des Kontrollsystems der
Konvention ist bislang – mangels Ratifikation durch Russland – noch nicht in Kraft getreten.
Das Inkrafttreten wäre auch Voraussetzung für einen Beitritt der EU (Art. 17 des Protokolls).
Die Bundesrepublik hat das Protokoll am 11. April 2006 ratifiziert. Zum Ratifikationsstand
vgl. http://conventions.coe.int (10. Juli 2008).
223 Die EMRK samt Protokollen enthält nur mit dem Eigentumsrecht eine Bestimmung, die nicht
im IPbpR garantiert ist. Hingegen geht der Pakt mit einer Reihe von Rechten über die der
EMRK hinaus. Dazu zählen auch der Schutz der Familie und die Rechte des Kindes in
Artt. 23, 24 IPbpR, vgl. Nowak, M., in: Kälin/Malinverni/Nowak (Hg.), Die Schweiz und die
UNO-Menschenrechtspakte, S. 17 f. Dazu auch Kapitel 1, insb. S. 34.
224 ETS Nr. 155. Die EMRK gilt damit seit dem 1. Nov. 1998 in der Fassung, die sie durch das
Protokoll erhalten hat (BGBl. 2002 II, S. 1054 ff.).
225 Art. 46 EMRK.
226 Vgl. dazu Schweitzer, M./Weber, A., Handbuch der Völkerrechtspraxis, Rn. 1376-1378 sowie
Rn. 387-399. S. auch jüngst in der öffentlichkeitsstarken Entscheidung BVerfGE 111, 307,
320, dort mit dem Begriff ‚Berücksichtigungspflicht’. Ausführlich insoweit für Deutschland
in Kapitel 7, S. 384 f.
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rechts ein mitgliedstaatlicher Spielraum verbleibt227, betrifft die Kontrollbefugnis
des EGMR nunmehr im Grundsatz auch den nationalen Vollzug von Gemeinschaftsrecht ohne mitgliedstaatlichen Entscheidungsspielraum.228
Des Weiteren ist die Familiennachzugsrichtlinie als Gemeinschaftsrecht in besonderer Weise an die Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention
(EMRK) ‚gebunden’, auch wenn die EU bislang keine Vertragspartei der EMRK
ist.229 Zum einen verpflichtet sich die Europäische Union selbst, die Grundrechte,
wie sie in der EMRK festgelegt und den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten
gemeinsam sind, als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts zu achten.230
Zum anderen bringt die Europäische Grundrechtscharta (EuGRCH) die grund- und
menschenrechtliche Bindung der Gemeinschaft und ihrer Organe zum Ausdruck.
Beides greift der EuGH in seiner Entscheidung zur Vereinbarkeit einzelner Bestimmungen der Familiennachzugsrichtlinie mit Artikel 8 EMRK auf.231
I. Recht auf Aufenthalt
Als ältester der in dieser Untersuchung behandelten völkerrechtlichen Vertragstexte
enthält die EMRK keinerlei Bestimmungen zu Einwanderungsfragen. Sie regelt
weder die Einreise noch den Aufenthalt von Ausländern.232 Migrantenspezifische
227 EGMR, Urteil vom 18. Feb. 1999, Matthews v. Vereinigtes Königreich, Appl. No. 24833/94,
Reports 1999 I, S. 241 ff.
228 EGMR, Urteil vom 30. Juni 2005, Bosphorus v. Irland, Appl. No. 45036/98, Reports 2005-
VI, NJW 2006, 197. S. dazu auch Schohe, G., Das Urteil Bosphorus: Zum Unbehagen gegen-
über dem Grundrechtsschutz durch die Gemeinschaft, EuZW 2006, 32; Heer-Reißmann, Ch.,
Straßburg oder Luxemburg? – Der EGMR zum Grundrechtsschutz bei Verordnungen der EG
in der Rechtssache Bosphorus, NJW 2006, 192 ff., Oster, J., Grundrechtsschutz in Deutschland im Lichte des Europarechts, JA 2007, 96, 99 f. sowie Dörr, O./Lenz, Ch., Europäischer
Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 616 ff. m.w.N. Unentschieden ist die Kontrollbefugnis bei der
Setzung von Sekundärrecht und unmittelbaren Vollzugs von (sekundärem) Gemeinschaftsrecht durch die Gemeinschaftsorgane selbst. S. dazu in diesem Kapitel, S. 110, Fn. 432. Allgemein zu der Frage des grundrechtlichen ‚Mehrebenen-Schutzes’: Weber, A., Einheit und
Vielfalt der Europäischen Grundrechtsordnung(en), DVBl. 2003, 220 ff.; Hoffmann-Riem,
W., Kohärenz der Anwendung europäischer und nationaler Grundrechte, EuGRZ 2002,
473 ff.; Krüger, H. C./Polakiewicz, J., Vorschläge für ein kohärentes System des Menschenrechtsschutzes in Europa, EuGRZ 2001, 92 ff.; Pache, E., Die Europäische Grundrechtscharta
– ein Rückschritt für den Grundrechtsschutz in Europa?, EuR 2001, 475, 491 ff.; Alber,
S./Widmaier, U., Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, Zu den Beziehungen zwischen EuGH und EGMR, EuGRZ 2000, 497 ff. Zu der möglichen Relevanz des grundrechtlichen Mehrebenenschutzes im Bereich des gemeinschaftlichen Migrationsrechts, s. auch Kapitel 5, S. 304 f., insb. Fn. 1332.
229 Eine Lösung dieses Problems muss inzwischen als dringlich erachtet werden. Der EU gehören inzwischen 27 der 47 Konventionsstaaten an.
230 Art. 6 Abs. 2 EUV. Auch explizit in Erwägungsgrund 2 RL 2003/86/EG (Familiennachzug).
231 S. dazu ausführlich Kapitel 5, insb. S. 295 ff.
232 Frowein, J. A., in: ders./Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., Art. 8, Rn. 24.
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Fragen werden erst in den späteren Protokollen behandelt233 und vor allem in der
Rechtsprechung der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR) und
des EGMR im Laufe der Zeit entwickelt. Die Konvention ist das einzige in dieser
Untersuchung behandelte Europaratsinstrument, das seinen Anwendungsbereich
nicht nur auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten beschränkt, sondern
auf alle Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt (residing) in den Vertragsstaaten haben („jedermann“).234 Daraus ergibt sich, dass Staaten, die die EMRK unterzeichnen, damit in eine Beschränkung auch ihrer Einwanderungshoheit einwilligen.235 Auch der aus dem Ausland Nachzug begehrende Ausländer unterfällt der
Hoheitsgewalt.236 Somit hat der Staat das Recht zu entscheiden, ob Zuwanderung
erfolgt. Wenn er die Entscheidung positiv getroffen hat, ist er den Beschränkungen
der Konvention unterworfen. Entsprechend haben in ihrer Rechtsprechung die
EKMR und der EGMR deutliche Aussagen getroffen und wirksame Impulse zu
Familienschutz in aufenthaltsrechtlichen Kontexten geliefert.237
1. Achtung des Familienlebens – Artikel 8 EMRK
Ein generelles Recht auf Familiennachzug ist zunächst ebenso wenig in der EMRK
zu finden wie ein generelles Recht auf Einreise in einen anderen Mitgliedstaat.238
EKMR und EGMR hatten dennoch im Laufe der Zeit mehrfach Fälle bezüglich des
233 Protokoll 1 (ETS Nr. 9) schützt den Zugang von Migranten zu sozialer Sicherheit. Protokoll
Nr. 4 (ETS Nr. 46) kennt keine Einschränkung der Einreisefreiheit in das eigene Land – allerdings gewährt sie dieses (im Gegensatz zum IPbpR) nur Staatsangehörigen. Von migrationsrechtlicher Relevanz ist Protokoll Nr. 12 (ETS Nr. 177), welches in Erweiterung und Ergänzung zu Art. 14 EMRK ein umfassendes Diskriminierungsverbot vorsieht (aber bspw. noch
nicht für Deutschland in Kraft ist). Nach Art. 14 EMRK sind die in der EMRK anerkannten
Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung wegen des Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe,
Sprache, Religion, politischen oder sonstigen Anschauungen, nationaler oder sozialer Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder des
sonstigen Status zu gewährleisten. Art. 14 EMRK hat einen begrenzten Anwendungsbereich,
denn er ist auf die in der Konvention garantierten Rechte („the rights and freedoms set forth
in this Convention“) beschränkt. Das 12. Protokoll hebt diese Begrenzung auf und erstreckt
das Diskriminierungsverbot auf „the enjoyment of any right set forth by law“. Vgl. die Relevanz von Art. 14 EMRK in der Entscheidung des EuGH zur Familiennachzugsrichtlinie in
Kapitel 5, S. 302 f. sowie für die Frage der Inländerdiskriminierung, S. 167 f.
234 Art. 1 EMRK bezieht sich auf alle „ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen“. Nur in
einzelnen Bestimmungen unterscheidet auch die EMRK nach In- und Ausländern, so erstmals
in Art. 3 und 4 des 4. Zusatzprotokolls.
235 Vgl. EGMR, Appl. No. 434/58, X v. Sweden (1958/59) 2; vgl. bei Cholewinski, R., Migrant
Workers, S. 212 sowie 340.
236 Scheer, R., Der Ehegatten- und Familiennachzug von Ausländern, S. 45 f.
237 Entscheidungen zu ausländerrechtlichen Fragen gerade auch aus Deutschland bilden dabei
einen erheblichen Teil der Menschenrechtsbeschwerden mit verwaltungsrechtlichem Hintergrund, s. Dörr O./ Lenz, Ch., Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 519.
238 Cholewinski, R., Migrant Workers, S. 339.
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Nachzugs und erheblich mehr zu Ausweisungen ausländischer Familienangehöriger
zu entscheiden. Zentrale Norm ist dabei der Anspruch auf Achtung des Familienlebens gemäß Artikel 8 EMRK:
„1. Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, […].
2. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das
wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von
strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.“
Der Rechtsbefehl (‚jedermann hat Anspruch …’) ist zunächst so klar und bestimmt formuliert, dass – bei Inkorporierung in innerstaatliches Recht – der Einzelne
sich auf die Garantie ohne Weiteres berufen kann (self-executing).239 Es handelt sich
somit um ein Individualrecht, welches einen subjektiven Anspruch auch auf Schutz
des Familienlebens festschreibt. Bedeutung und Inhalt des Begriffs ‚Achtung’ sind
indes auslegungsbedürftig. Er formuliert im Vergleich zu den übrigen Konventions-
“Rechten“240 weder ein Verbot noch eine Gewährleistung und ist auch im Vergleich
zu anderen familienrechtlichen Bestimmungen besonders ausgestaltet.241 Es ist heute
anerkannt, dass die Bestimmung neben dem klassischen Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in das Familienleben dem Mitgliedstaat auch positive Verpflichtungen
zum familienschützenden Handeln auferlegt.242 Der Staat muss also aktiv per (Einwanderungs-)Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung den Schutz der Familie sichern. Dem liegt das Verständnis zugrunde, dass in bestimmten Konstellationen
gerade das Nicht-Tätigwerden des Staates ebenso wie ein aktives Handeln das Familienleben beeinträchtigen kann. Ohne die Ableitung einer Handlungspflicht würde
die zentrale Bedeutung der Familie missachtet. Eine den zuvor untersuchten Texten
vergleichbare ausdrückliche Anerkennung der grundlegenden Bedeutung der Familie findet sich in dieser Konvention zwar nicht. Aus teleologischen und entstehungsgeschichtlichen Gründen kann jedoch Artikel 8 EMRK selbst eine dahinterstehende,
zugrunde liegende Anerkennung und Wertentscheidung zugunsten der Familie entnommen werden.243
239 Palm-Risse, M., Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 50 f.
240 Frowein, J. A., in: ders./Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., Art. 8, Rn. 1.
241 Z. B. Anspruch der Familie auf Schutz in Art. 16 AEMR, Art. 23 IPbpR.
242 So verwendet der EGMR den Begriff der Achtung der inhärenten positiven Verpflichtungen,
vgl. Urteil vom 13. Juni 1979, Marckx v. Belgium, Serie A, 31, Rn. 31, EuGRZ 1979, 454,
455; Frowein, J. A., in: ders./Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., Art. 8, Rn. 19 ff.; Caroni,
M., Privat- und Familienleben zwischen Menschenrecht und Migration, S. 7 ff.; Palm-Risse,
M., Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 243 ff.; Zeichen, S., Wanderarbeitnehmer und ihr Recht auf Familienleben, S. 67.
243 Frowein bemerkt dazu, dass nur durch gesetzliche Regelungen die Achtung des Familienlebens im Einzelfall konkretisiert werden kann, in: ders./Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl.,
Art. 8, Rn. 19. Zur Entstehungsgeschichte der Vorschrift, Palm-Risse, M., Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 245 ff.
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Nicht jede das Familienleben berührende Entscheidung ist auch als Verletzung
von Artikel 8 EMRK zu qualifizieren. Die Verhinderung des Zusammenlebens (hier:
auf dem Territorium des Konventionsstaates) muss auf eine staatliche Entscheidung,
die die nötige Beachtung dieser Tatsache Familienleben vermissen lässt, zurückzuführen sein. Denn das Recht auf Achtung des Familienlebens zählt angesichts der
Schranken in Absatz 2 nicht zu den absoluten Rechten. Darin ist abschließend aufgezählt, welche staatlichen Interessen entgegengehalten werden dürfen bzw. aufgrund welcher eine Beeinträchtigung im Einzelfall gerechtfertigt sein kann. Insbesondere das Erfordernis von Integration kann unter diese rechtmäßigen Ziele fallen.244 Demgegenüber dürfen aber Sprachtests keine dominierende Rolle bei nachzugsrechtlichen Fragen spielen.245
Inwieweit Artikel 8 EMRK positiv oder negativ verpflichtet, bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen auf den Familienstand Rücksicht zu nehmen und wie stark
das Gewicht der Familie gegenüber staatlichen Interessen an der Einwanderungskontrolle sein kann, ist in einer umfassenden Abwägung bezogen auf den jeweiligen
Einzelfall zu konkretisieren. Das bedeutet, dass die Funktion der zulässigen staatlichen Einwände im Rahmen der Abwägung eine beschränkte ist. Denn aufgrund der
der Unterzeichnung der Konvention impliziten Zustimmung zur Begrenzung der
staatlichen Einwanderungshoheit kann an dieser Stelle nicht mehr der generelle
Einwand der absoluten staatlichen Souveränität erhoben werden. Eine gewisse Kontur der Reichweite der staatlichen Verpflichtung ergibt sich aus den bisherigen Entscheidungen der Kommission und des Gerichtshofs. Deren Kasuistik zu Artikel 8
EMRK wird teilweise als (dogmatisch) verwirrend und widersprüchlich bezeichnet.246
a) Eingriff oder positive Verpflichtung?
Bereits die Frage, ob aufenthaltsrechtliche Maßnahmen im Rahmen von positiven
oder negativen Pflichten aus Artikel 8 EMRK einzuordnen sind, wird derzeit (noch)
unterschiedlich beantwortet. Der Gerichtshof hat in den bisherigen Nachzugsentscheidungen die Verletzung positiver Pflichten geprüft.247 Die (aktiv) erteilte Nach-
244 EGMR, Urteil vom 9. Okt. 2003, Slivenko v. Lettland, Appl. Nr. 48321/99, Reports 2003-X,
Rn. 75, 123. So auch der EuGH in seiner Entscheidung zur Familiennachzugsrichtlinie,
Slg. 2006, I-5769, Rn. 66; Thym, D., Europäischer Grundrechtsschutz und Familienzusammenführung, NJW 2006, 3249, 3252.
245 Vgl. insoweit den EuGH zur Konventionskonformität des Integrationskriteriums i.V.m. der
12-Jahres-Klausel der Familiennachzugsrichtlinie in Kapitel 5, S. 297 ff. sowie zu den entsprechenden Bestimmungen des ZuwG in Kapitel 7, S. 384 ff.
246 Caroni, M., Privat- und Familienleben zwischen Menschenrecht und Migration, S. 5.
247 Nach Caroni, M., Privat- und Familienleben zwischen Menschenrecht und Migration, S. 57,
dort Fn. 231, geht die Kommission teilweise anders vor und prüft Nichtbewilligungen von
Nachzugsanträgen für minderjährige Kinder und Ehegatten als Eingriff, ebda. S. 59. Vgl. dazu auch im Weiteren der Fall Ahmut. Zur frühen Rechtsprechung der Kommission Palm-
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zugsgenehmigung stellt in dieser Logik ein positives Handeln des Staates dar, welches das Zusammenleben der Familie ermöglicht und schützt und einen erstmaligen
Zugang ermöglicht. Demgegenüber prüft der Gerichtshof bei der Beurteilung von
Ausweisungs- und Abschiebungsfällen bereits aufhältiger Ausländer, ob diese als
Eingriffe gerechtfertigt sind.248
Zwingend ist diese Logik nicht. Eine behördliche Ablehnung des beantragten
Nachzugs und der Einreise in den Konventionsstaat beeinträchtigt die Familie und
lässt sich insofern ebenso als ein Eingriff qualifizieren wie der umgekehrte Fall der
Beendigung des Aufenthalts durch eine Ausweisung oder Abschiebung.249 Allerdings existiert in der Rechtsprechung des EGMR auch keine genaue Abgrenzung
zwischen negativen und positiven Pflichten250 und es bekennt der Gerichtshof selbst
für diese Abgrenzung das Fehlen einer ‚precise definition’.251 In dogmatischer Hinsicht unterscheidet sich die Prüfung der Verletzung einer positiven Handlungspflicht
von der eines Eingriffes insofern, als mit der Feststellung, dass der untätige Staat die
Pflicht zu einem bestimmten Handeln gehabt hätte, bereits die Verletzung von Artikel 8 Abs. 1 EMRK feststeht.252 Absatz 2 ist in Konsequenz nicht mehr eröffnet.253
Denn das pflichtwidrige Unterlassen erlaubt gedanklich bereits keine Alternative
zum Handeln (kein ‚Aber’).254 Die Kriterien von Absatz 2 zur möglichen Rechtfertigung eines Eingriffes finden in dieser Vorgehensweise allerdings bereits zuvor Eingang in die Prüfung, und zwar bei der Bestimmung und Begrenzung des Umfangs
der Handlungspflicht selbst (‚Achtung’).
Der Frage nach den Auswirkungen der dogmatischen Ansätze auf den Prüfungsmaßstab und das Ergebnis stehen die These der Ergebnisäquivalenz255 einerseits und
die Kritik einer Verengung des Schutzbereiches256 durch den positiven Ansatz andererseits gegenüber. Letztere wird in Konsequenz zum Plädoyer für ein einheitliches
Eingriffs-Rechtfertigungsschema verwendet.257 Dafür spricht, dass die behördliche
Risse, M., Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 282-286, wonach mit Annahme der Zumutbarkeit bereits das Vorliegen eines Eingriffes abgelehnt wurde.
248 So auch Szczekalla, P., Die sog. grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 807 m.w.N.
249 So ausdrücklich Szczekalla, P., Grenzenlose Grundrechte, NVwZ 2006, 1019, 1021.
250 Szczekalla, P., Die sog. grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 712 sowie S. 989 ff.
251 EGMR, Urteil vom 28. Nov. 1996, Ahmut v. Niederlande, Reports 1996-VI, S. 2017 ff.,
Ziff. 63:, auch: ÖJZ 1997, 676. S. auch Palm-Risse, M., Der völkerrechtliche Schutz von Ehe
und Familie, S. 251 f.
252 Caroni, M., Privat- und Familienleben zwischen Menschenrecht und Migration, S. 10.
253 So auch GAin Kokott in den Schlussanträgen zu Rs. C-540/03 vom 8. Sept. 2005, Rn. 71;
Palm-Risse, M., Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 250.
254 Palm-Risse, M., Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 249 f.: „gerechtfertigte
Ausnahmen von der Verpflichtung gibt es nicht.“
255 Palm-Risse, M., Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 289 wies für den Bereich des Familiennachzugs darauf hin, dass im Fall Abdulaziz der dogmatisch andere Ansatz
der Sondervoten sich nicht ausgewirkt habe und daher kein Abwägungsdefizit bestehe.
256 Weichselbaum, B., Familiennachzug im grundrechtlichen Kontext, JAP 2000/2001, 202, 206.
257 Vgl. Caroni, M., Privat- und Familienleben zwischen Menschenrecht und Migration, S. 9 f.,
11 sowie S. 450 ff.
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Nachzugsverweigerung bei Familiennachzug sowohl als ein den Schutzbereich beeinträchtigender Eingriff wie auch als ebensolche Unterlassung einer positiven Verpflichtung verstanden werden kann, die der Rechtfertigung bedürftig und fähig
sind.258 Dafür spricht des Weiteren aus grundsätzlicher dogmatischer Sicht, dass es
selbst bei einer Ergebnisäquivalenz im Interesse der Rechtssicherheit grundsätzliche
Aufgabe eines grundrechtlichen Abwägungsprozesses ist, mittels strukturierter und
rationaler Argumentation die Gewichtung der jeweiligen Güter sichtbar zu machen,
anstatt für Verwirrung zu sorgen.259 Wegen dieser „Disziplinierung und Vervollständigung des verfassungsrechtlichen Argumentierens“260 ist das strukturierte Vorgehen des Eingriffs-Rechtfertigungsschemas vorzugswürdiger. Für ein einheitliches
(und abwehrrechtliches) Prüfungsschema spricht insbesondere die in der Rechtsprechung der Straßburger Organe betonte Ähnlichkeit der bei der Grundrechtsprüfung
anzuwendenden Grundsätze: Denn für den Gerichtshof und die Kommission sind die
anzuwendenden Prinzipien und Prüfungsmaßstäbe bei negativen und positiven
Pflichten – weitgehend – ähnlich. Danach muss immer – unabhängig von der Dogmatik – bezogen auf den Einzelfall und unter Berücksichtigung eines bestimmten
staatlichen Beurteilungs- und Entscheidungsspielraumes (margin of appreciation)
mittels einer umfassenden Abwägung ein faires Gleichgewicht (fair balance) zwischen dem Individualinteresse der Familie auf der einen Seite und den entgegenstehenden staatlichen Interessen gemäß Abs. 2 auf der anderen Seite hergestellt werden.261 Dies schließt eine Rechtfertigung nach Abs. 2 ein. Der EuGH greift dies in
seinem Urteil zur Familiennachzugsrichtlinie ebenfalls auf.262
258 Auch das Europäische Parlament hielt bei einer Verweigerung des Nachzugs die Rechtfertigung nach Abs. 2 für erforderlich, s. Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom
8. Sept. 2005, Rs. C-540/03, Rn. 71.
259 Szczekalla, P., Die sog. grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 426 ff. sowie S. 898 ff.
260 Kloepfer, BVerfG und GG II, 1976, S. 407, zitiert in: Kingreen, Th., Die Gemeinschaftsgrundrechte, JuS 2000, 857, 860.
261 So bspw. in dem letzten positiv beschiedenen Nachzugsfall des EGMR (jüngere Nachzugsfälle sind EGMR, 26. April 2007, Appl. Nr. 16351/03, Konstantinov (unzul.) sowie EGMR, 31.
Juli 2008, Appl. Nr. 265/07, Omoregie v. Norway (unzul.)) vom 31. Jan. 2006, Rodrigues da
Silva and Hoogkamer v. Netherlands, Appl. No. 50435/99, Rn. 39: “The Court reiterates that
in the context of both positive and negative obligations the State must strike a fair balance between the competing interests of the individual and of the community as a whole. However,
in both contexts the State enjoys a certain margin of appreciation”. Ebenso EGMR, Urteil
vom 21. Dez. 2001, Sen v. Niederlande, § 31: „Artikel 8 (kann) positive Verpflichtungen erzeugen, die untrennbar mit einer tatsächlichen ‚Achtung‘ des Familienlebens verbunden sind.
Die auf diese Verpflichtungen anwendbaren Grundsätze sind mit denen vergleichbar, die für
die negativen Verpflichtungen gelten. In beiden Fällen ist der angemessene Ausgleich zu berücksichtigen, der zwischen den einander gegenüberstehenden Interessen des Einzelnen und
der Gesellschaft insgesamt herbeizuführen ist, und in beiden Fällen steht dem Staat ein gewisser Ermessensspielraum zu“. Dies bestätigt auch Szczekalla, P. nach umfassendem Blick
auf die Rechtsprechung zu verschiedenen Menschenrechten der EMRK, ders., Die sog.
grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 712 ff.
262 S. dazu ausführlich, S. 297 f.
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b) Der sog. elsewhere-approach der Straßburger Rechtsprechung
Neben der Frage des dogmatischen Ansatzes ist vor allem das für die Straßburger
Rechtsprechung zentrale Zumutbarkeits-Argument zunehmend fragwürdig geworden: Basierend auf dem Grundsatz, wonach die Konvention kein grundsätzliches
Recht auf Einreise gewährt, hängt eine Verletzung durch Nachzugsverweigerung
davon ab, dass das Familienleben zumutbar woanders praktiziert werden kann (sogenannter elsewhere approach). Existiert ein solches anderes Land, wird nicht die
aufenthaltsrechtliche Ablehnungsentscheidung des Konventionsstaates als ursächlich für die Verhinderung eines gemeinsamen Familienlebens angesehen, sondern
die Entscheidung der betreffenden Familienmitglieder selbst, nicht ihren Angehörigen ins Ausland zu folgen, um dort ein gemeinsames Familienleben zu führen.263
Wann diese Zumutbarkeit angenommen wurde, und wann nicht, variierte in den
bisher entschiedenen Fällen des Gerichtshofes, die im Folgenden kurz dargestellt
werden:
Seine erste und viel zitierte Aussage zum Nachzug traf der Gerichtshof 1985 im
Fall Abdulaziz u. a., wonach die staatsangehörigen (britischen) Frauen Abdulaziz,
Cabales und Balkandali zumutbarerweise ihren Ehemännern ins Ausland (Portugal,
Türkei, Philippinen) folgen könnten – trotz einschneidender Änderungen aufgrund
fehlender sprachlicher oder kultureller Bezüge, etablierter Berufssituationen und
einem in Großbritannien geborenen Kind. Denn die Frauen hätten bei der Heirat um
den unsicheren Aufenthaltsstatus ihrer Männer gewusst und nicht von ihrem
Verbleib aufgrund der Heirat ausgehen können. Der Staat müsse nicht die Lebensortentscheidung eines Paares akzeptieren.264
Auch von Herrn und Frau Gül, die bereits zehn sowie acht Jahre mit humanitärem
Aufenthaltstitel in der Schweiz gelebt hatten (ebenso ihre Tochter), wurde 1996
erwartet, dass sie zwecks Zusammenlebens mit ihrem in der Türkei verbliebenen
zwölfjährigen Sohn in das Herkunftsland zurückkehren könnten.265
263 Palm-Risse, M., Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 283. Weichselbaum, B.,
JAP 2000/2001, 202, 204 f. sowie dies., Die Regelung des Familiennachzugs in Österreich im
Lichte der Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, ZAR 2003, 359, 360.
264 EGMR, Urteil vom 28. Mai 1985, Abdulaziz u. a. v. Vereinigtes Königreich, Serie A, Nr. 94,
EuGRZ 1985, 567, 570. Dass die Klägerinnen dennoch Erfolg hatten, lag an dem diskriminierenden Charakter der betreffenden britischen Bestimmungen, die dies nur von Frauen, nicht
umgekehrt von Männern verlangten. Diese Ungleichbehandlung wurde laut Cholewinski später zu Ungunsten auch der Männer ‚korrigiert’; vgl. Cholewinski, R., Migrant Workers,
S. 341, dort Fn. 278. Insbesondere aus Abdulaziz wurden lange Zeit vor allem ablehnende
Argumente entnommen, die das Urteil in der Allgemeinheit nicht enthält. Vgl. Frowein, wonach die Formulierung missglückt sei und auf den britischen Kontext zurückzuführen sei.
Zwar gewähre Art. 8 EMRK kein absolutes Recht auf Einreise, auch nicht per Heirat. Ein
Recht auf Nachzug der Kernfamilie werde hingegen in den meisten Konventionsstaaten bei
ausreichendem Einkommen und Wohnraum überwiegend gewährt, in: ders./Peukert, EMRK-
Kommentar, 2. Aufl., Art. 8, Rn. 26.
265 EGMR, Urteil vom 19. Feb. 1996, Gül v. Schweiz, Reports 1996-I, 159 ff., ÖJZ 1996, 593,
Rn. 42. Zeichen sieht darin eine Abwendung von extensiver Auslegung und eine Tendenz zu
78
Strittiger ging im gleichen Jahr die Sache hingegen im Fall Ahmut aus. Hier erklärte zunächst die Kommission die niederländische Nachzugsverweigerung gegen-
über dem marrokanischen 14-jährigen Sohn Ahmut bzw. die Rückkehr seines seit
Jahren in den Niederlanden niedergelassenen und bereits staatsangehörigen Vaters
für unzumutbar und qualifizierte sie in Verletzung von Artikel 8 EMRK als rechtswidrig.266 Der Gerichtshof änderte allerdings die Entscheidung zu Lasten des 14-
Jährigen ab mit der Begründung, Artikel 8 EMRK enthalte nicht das Recht, den
geeignetsten Ort für ein Familienleben zu wählen.267 Bemerkenswert ist in dogmatischer Hinsicht, dass die Kommission zu ihrem Ergebnis im Wege einer Eingriffsprüfung kam. Der Gerichtshof nahm erstmals zu dieser Frage des Prüfungsansatzes
ausdrücklich Stellung und entschied sich für die Prüfung einer positiven Verpflichtung.268
Einen erheblichen Schritt weiter ging der Gerichtshof 2001 im Fall Sen. Er bejahte erstmals eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Familienlebens der neunjährigen Tochter Sinem Sen durch die niederländische Nachzugsverweigerung zu ihren
seit Jahren mit sicherem Status dort lebenden Eltern, die zwischenzeitlich bereits
zwei weitere Kinder in den Niederlanden bekommen hatten.269 Der Staat sei verpflichtet, die Entwicklung des – vorübergehend270 – getrennten Familienlebens durch
Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zu fördern. Zentrales Argument gegen ein Familienleben im Herkunftsland271 ist die – unzumutbare – Folge für die beiden niederländischen Kinder, in das Herkunftsland ihrer Eltern (Marokko) zu reisen (Verweis
auf Berrehab272), zu dem sie keine Bindung außer ihrer Staatsangehörigkeit hätten
strengeren Abwägungskriterien, vgl. Zeichen, S., Wanderarbeitnehmer und ihr Recht auf Familienleben, S. 91. Diese Entscheidung ist insofern kritikwürdig, als zwischenzeitlich (1988)
die Entscheidung zur Ausweisung von Herrn Berrehab erging. Vgl. zu Berrehab, im Weiteren
Fn. 328.
266 EKMR, Report vom 15. Mai 1995, Ahmut u. Ahmut v. Niederlande, Appl. No. 21702/93.
267 EMGR, Urteil vom 28. Nov. 1996, Ahmut v. Niederlande, Reports 1996-VI, 2017 ff., ÖJZ
1997, 676.
268 Ebda., Rn. 63, Dazu auch Caroni, M., Privat- und Familienleben zwischen Menschenrecht
und Migration, S. 57 f., dort Fn. 231.
269 EGMR, Urteil vom 21. Dez. 2001, Sen v. Niederlande, Appl. No. 31465/96, InfAuslR 2002,
334 ff.
270 S. zum dazu in Widerspruch stehenden niederländischen Kriterium des ‚tatsächlichen Familienbandes’, welches gemäß den Verwaltungshinweisen des Justizministeriums nach einer
Trennung von über fünf Jahren als ‚zerbrochen’ gewertet wird, in Kapitel 4, S. 268, insb.
Fn. 1132.
271 Demgegenüber hat in nachfolgenden Unzulässigkeitsentscheidungen der EGMR einen Anspruch auf Familienzusammenführung im Aufnahmestaat abgelehnt, weil ein gemeinsames
Familienleben auch im Herkunftsland möglich sei, z. B. EGMR, Urteil vom 23. März 2003,
I. M. v. Niederlande, Appl. No. 41266/98; EGMR, Urteil vom 13. Mai 2003, Chandra v.
Niederlande, Appl. No. 53102/99; EGMR, Urteil vom 6. Juli 2004, Ramos Andrade v. Niederlande, Appl. No. 53675/00; EGMR, Urteil vom 5. April 2005, Benamar v. Niederlande,
Appl. No. 43786/04.
272 Vgl. unten Fn. 328.
79
(Verweis auf Mehemi273). Daher sei der Nachzug der Tochter das angemessenste
Mittel (Abgrenzung zu Ahmut und Gül) zum Ausgleich der Interessen und Schutz
des Familienlebens. Die ‚selbst verursachte’ Trennung wurde also diesmal vom
Gerichtshof nicht zu Lasten der Eltern als deren eigene Entscheidung gewertet, sondern als vorübergehend akzeptiert. Angesichts der ‚niederländischen’ Kinder, die
eine Rückkehr der Eltern hindern, wird der ‚Preis’ für ein gemeinsames Leben mit
der Tochter (im Herkunftsland) nicht in der Aufgabe des etablierten Familienlebens
in den Niederlanden gesehen. Hier wurden offenbar zwei Argumentationen gekoppelt – die des Nachzugs und die zur Ausweisung von Migranten der zweiten Generation. Auch bei Ausweisungsfällen – die grundsätzlich als Eingriff geprüft werden –
galt anfänglich der Verweis auf das zumutbare Familienleben im Herkunftsland. Die
Zumutbarkeit ist hingegen bei ‚technischen Ausländern’ der zweiten Generation
nicht mehr entscheidendes Kriterium.274 Dies ist auch für Nachzugsfälle nicht
(mehr) überzeugend.275
c) Die Grenzen des Familiennachzugs im Wandel
Die ältere Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs zum Nachzug zeigt zunächst, dass das Kriterium des sogenannten ‚elsewhere approach’ schwer zu erfüllen war.276 Der Wunsch eines (inländischen) Angehörigen, mit einem ausländischen
Familienmitglied Zusammenleben praktizieren zu wollen, war mit einem hohen
Preis verbunden.277 Die Straßburger Rechtsprechung vermittelte insoweit nur begrenzt Schutz278 und die menschenrechtliche Dimension des Schutzes der Familie
schien vordergründig staaten- und souveränitätsfreundlich. Dies lässt sich durchaus
auf den Charakter und Ansatz des EGMR zurückführen, der abhängig von den Besonderheiten des Einzelfalles zu entscheiden hat und dabei – anders als der EuGH
oder das BVerfG – ‚als internationales Grundrechtsgericht’ konventionsrechtliche
Beurteilungsmaßstäbe entwickelt, die sich an 47 Vertragsstaaten in ihrer Gesamtheit
273 Vgl. unten Fn. 318.
274 S. dazu in diesem Kapitel, S. 84 ff.
275 So auch bereits Oeter, S.,., Völkerrechtliche und europarechtliche Vorgaben für den Familiennachzug, in: Klein/Hailbronner, Einwanderungskontrolle und Menschenrechte, S. 133, zum
Fall Berrehab: „Diese Entwicklung der Kommissionsrechtsprechung zur 2. Generation – später auch durch den Gerichtshof bestätigt – wird nicht ohne Folgen bleiben können für die eigentlichen Fälle des Familiennachzuges. Auch Cholewinski, R., Strasbourg’s „Hidden Agenda?“, The Protection of Second-Generation migrants from Expulsion under Article 8 of the
European Convention of Human Rights, NQHR 12 (1994), 287, 298 ff.
276 Cholewinski, R., Migrant Workers, S. 341.
277 Bedenklich Tomuschat AöR 97 (1972), 142; Kammermann, H., Familiennachzug, S. 148.
278 Als punktuellen Schutz bezeichnet von Davy, U., Integrationspfade und Lastenverteilung, in:
Walter/Menz/De Carlo (Hg.), Grenzen der Gesellschaft?, S. 44 f.
80
richten.279 Er gesteht den Konventionsstaaten dabei teilweise einen besonders hohen
Wertungsspielraum zu, wenn für ein bestimmtes Problem (noch) kein gemeinsamer
europäischer Standard vorhanden ist.280 Familiennachzug durfte bislang dazu gezählt
werden. Umso bedeutsamer ist, dass die staatliche Souveränität, über Einreise, Aufenthalt und dessen Dauerhaftigkeit von Ausländern zu entscheiden, in ihrem Umfang dennoch bestimmte Begrenzungen erfahren hat.281 Es lässt sich festhalten, dass
die familiäre Komponente Beachtung finden muss – und zwar im konkreten Fall.
Der Grad der staatlichen Beachtenspflicht korrelierte dabei mit der individuellen
Zumutbarkeit des Verweises auf einen anderen Ort des Familienlebens. Galt Unzumutbarkeit zunächst nur bei rechtlichen Hindernissen, genügten später (wichtige)
tatsächliche Hindernisse, die zunehmend vielfältiger wurden.
Die jüngere Rechtsprechung im Fall Sen markiert insofern einen Wendepunkt.
Besonders im Falle des Familienlebens ausländischer Eltern mit inländischen Kindern wird nicht mehr die Entscheidung zwischen Migration oder Familie verlangt.
Auch der Europäische Gerichtshof, dessen Entscheidung zur Familiennachzugsrichtlinie vom Juni 2006 auf dem Stand der Sen-Rechtsprechung erging282, greift dieses
Zumutbarkeitsargument in seinem Urteil zur Familiennachzugsrichtlinie nicht auf.283
Zwar findet die kurz zuvor ergangene Rechtsprechung des EGMR vom Dezember
2005 (Tuquabo-Tekle) sowie von Januar 2006 (Rodrigues da Silva) keine erkennbare inhaltliche Berücksichtigung. Die darin erfolgte rechtliche Weiterentwicklung der
Nachzugsrechtsprechung zeigt aber, dass der Fall Sen keine den Besonderheiten des
Einzelfalls geschuldete Ausnahme darstellt.284 Vielmehr fand diese Rechtsprechung
eine Bestätigung in der sehr ähnlichen Entscheidung vom 1. Dezember 2005 in der
Rechtssache Tuquabo-Tekle – trotz des höheren Alters von 15 Jahren des nachzugswilligen Kindes.285 Weitergehend listet der EGMR in seiner jüngsten Entscheidung
Rodrigues Da Silva ausdrücklich verschiedene (darunter integrationsbezogene)
Kriterien auf: die Intensität der familiären Bindung und die Folgen der Trennung für
das Familienleben, das Alter der Kinder, den Grad der Integration im Konventionsstaat und der Fremdheit im ‚Herkunftsland’, den aufenthaltsrechtlichen Status, Fra-
279 Groenendijk, K., Familienzusammenführung als Recht nach Gemeinschaftsrecht, ZAR 2006,
194; Thym, D., NJW 2006, 3249, 3252.
280 Zu diesem Ergebnis kommt nach umfassendem Vergleich Szczekalla, P., Die sog. grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 1142, dort These 112.
281 So bereits ausdrücklich die EKMR, Abdulaziz, Cabales und Balkandali v. Vereinigtes Königreich, Serie A, Nr. 94, KB Ziff. 94.
282 Basierend auf den (noch) im Hinblick auf den EGMR aktuellen Schlussanträgen der GAin
von Sept. 2005.
283 S. dazu ausführlich, Kapitel 5, S. 297 ff.
284 Noch vorsichtig Walter, A., Familiennachzug – ein Mittel zu Integration?, in: Sahlfeld u. a.
(Hg.), Integration und Recht, S. 181, 193.
285 Urteil des EGMR vom 1. Dez. 2005 in der Rechtssache Tuquabo-Tekle v. Niederlande, Appl.
No. 60665/00, Ziff. 45: “[T]he Court has previously held that parents who leave children behind while they settle abroad cannot be assumed to have irrevocably decided that those children are to remain in the country of origin permanently and to have abandoned any idea of a
future family reunion (see "en v. the Netherlands, …).” (Hervorhebung der Verfasserin).
81
gen der Einwanderungskontrolle oder der Öffentlichen Ordnung sowie die (fallbezogene) Frage, ob das Familienleben in einer Zeit entstand, in der die betreffenden
Personen sich des unsicheren Aufenthaltsstatus und der daraus folgenden Unsicherheit für ein Familienleben im aufnehmenden Konventionsstaat bewusst waren.286 In
dem vorzunehmenden Abwägungsprozess müssen das wirtschaftliche Wohl des
Landes und das Interesse an Migrationskontrolle angesichts der weitreichenden
Folgen, die es haben kann, wenn einer Person die Einreise in ein Land, in dem ihre
nahen Verwandten leben oder der Aufenthalt dort verweigert wird, von überwiegendem Gewicht sein, um einen gerechten Ausgleich (fair balance) zwischen den verschiedenen Interessen darstellen zu können. Anders als bei der Entscheidung Abdulaziz287 wurde ein Überwiegen staatlicher Interessen in Rodrigues Da Silva angesichts der ‚traumatischen’ Folgen für das Kind sogar trotz der Tatsache eines
irregulären Aufenthalts (hier der Mutter zum Zeitpunkt der Geburt der Tochter)
verneint, und zwar mit dem bemerkenswerten Kommentar: “Indeed, by attaching
such paramount importance to this latter element [the illegal residence, A.W.], the
authorities may be considered to have indulged in excessive formalism.“288 Die
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis kann damit selbst bei Illegalität nicht abgelehnt
werden, wenn dadurch das Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt wird.289
Dies zeigt das verstärkte Maß menschenrechtlicher Begrenzungswirkung gegenüber
staatlicher Einwanderungskontrolle, die sich abstrakt schematischen Entscheidungskonzepten verweigert, indem sie dem regelmäßig betonten Vorrang des öffentlichen
Interesses die individuelle menschenrechtliche Perspektive korrigierend gegenüberstellt.
Auch wenn von einer abschließenden Klärung der sich wandelnden Grenzen
staatlichen Handelns im Bereich des familiären Lebens von Migranten insofern
(noch) nicht gesprochen werden kann, macht die Rechtsprechung den dynamischen
Charakter der EMRK als ‚living instrument’ deutlich, die im Lichte der aktuellen
Umstände ausgelegt werden muss. Sie zeigt trotz ihres Einzelfallcharakters, dass die
Beurteilung der Zumutbarkeit einem deutlichen Wandel im Verständnis von Zu- und
Einwanderung unterliegt.
286 EGMR, Urteil vom 31. Jan. 2006, Rodrigues da Silva and Hoogkamer v. Netherlands, Appl.
No. 50435/99, Rn. 39 (Übersetzung der Verfasserin). Daneben sind weitere Gründe denkbar.
GAin Kokott nennt in den Schlussanträgen ausdrücklich als denkbar die Fälle politischer Verfolgung oder besonderer, nicht im Herkunftsstaat zu erfüllender medizinischer Bedürfnisse
einzelner Familienmitglieder. Schlussanträge zu Rs. C-540/03 vom 8. Sept. 2005, Rn. 68.
287 S. dazu in diesem Kapitel, S. 77.
288 EGMR, Urteil vom 31. Jan. 2006, Rodrigues da Silva and Hoogkamer v. Netherlands, Appl.
No. 50435/99, Rn. 44.
289 Vgl. zur Herleitung eines ‚Menschenrechts auf Legalisierung des Aufenthalts’ anhand jüngerer Rechtsprechungsentwicklungen des EGMR über den Familiennachzug hinaus auch umfassend Thym, D., Menschenrecht auf Legalisierung des Aufenthalts?, Rechtsprechung des
EGMR zum Schutz des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK und deren Verhältnis
zum nationalen Ausländerrecht, EuGRZ 2006, 541 ff.
82
2. Familienbegriff
Die EMRK enthält an keiner Stelle eine Legaldefinition des Begriffes Familie. Gerichtshof und Kommission haben indes diesen soziologischen Begriff als unbestimmten Rechtsbegriff im Laufe der Zeit weit ausgelegt.290 Methodisch liegt der
Judikatur die vom nationalen Recht losgelöste und auf ein europäisches Verständnis
gerichtete autonome Auslegung zugrunde, allerdings ist dafür die Staatenpraxis von
Bedeutung.291
Er setzt zunächst auf tatbestandlicher Ebene voraus, dass es sich um bereits bestehendes Familienleben handelt.292 Zudem können außer Bluts- und gesetzlichen
Banden für die Annahme von Familienleben die tatsächliche Nähe und der Grad der
Beziehung sowie des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Personen maßgeblich
sein.293 Da insofern das Verständnis von Familie und Familienleben erheblichen
sozialen Wandlungen unterworfen ist, besteht für die Entwicklung der Rechtsprechung die Notwendigkeit einer evolutiv-dynamischen Auslegung294, und zwar nicht
nur hinsichtlich der Zeit, sondern auch des außereuropäischen Raumes.
a) Kernfamilie
Erfasst sind zunächst ipso jure Ehe- oder Kindschaftsverhältnisse.295 Ersterem unterfallen alle rechtmäßig geschlossenen Ehen (keine Scheinehen), auch wenn sie nicht
dem europäischen Modell entsprechen. Damit genießen auch polygame Verbindungen den Schutz des Familienlebens. Bei Verlobten ist, soweit sie nicht Familienleben zuzuordnen sind, Schutz des Privatlebens möglich296, ebenso für getrennt lebende297 oder geschiedene Eheleute.298 Eltern-Kind-Beziehungen sind unabhängig von
290 Deutliche Gemeinsamkeiten mit IPbpR: Palm-Risse, M., Der völkerrechtliche Schutz von
Ehe und Familie, S. 224; Nowak, M., in: Kälin/Malinverni/Nowak (Hg.), Die Schweiz und die
UNO-Menschenrechtspakte, S. 202.
291 Ausführliche Darstellung bei Caroni, M., Privat- und Familienleben zwischen Menschenrecht
und Migration, S. 21 ff.
292 Frowein, J. A., in: ders./Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., Art. 8, Rn. 20. Ein Anspruch
auf Herstellung bereits zerrütteten Familienlebens ergibt sich daraus nicht, Palm-Risse, M.,
Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 243.
293 Frowein, J. A., in: ders./Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., Art. 8, Rn. 15. Nach Cholewinski, R., Migrant Workers, S. 340, ist Abhängigkeit im Vergleich zur ESC enger zu verstehen als wirtschaftliche und finanzielle Abhängigkeit, jedoch nicht allein emotionaler Art.
294 Im Gegensatz zur statisch-historischen Auslegung, vgl. Caroni, M., S. 22 f. Weichselbaum,
B., JAP 2000/2001, 203.
295 Frowein, J. A., in: ders./Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., Art. 8, Rn. 26.
296 Caroni, M., Privat- und Familienleben zwischen Menschenrecht und Migration, S. 19.
297 So nicht erwiesen in EGMR, Urteil vom 23. Juli 2002, Taskin v. Deutschland, Appl. No.
56132/00, EuGRZ 2002, 593 ff.
298 Palm-Risse, M., Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 200, Caroni, M., Privatund Familienleben zwischen Menschenrecht und Migration, S. 36.
83
Scheidung oder Heirat, von Sorgerecht,299 Umgangsrecht300 oder Adoption301 vom
Schutzbereich des Familienlebens erfasst. Im Fall von Pflegekindern ist u. U. je
nach Reichweite der Sorgerechte und des tatsächlichen Zusammenlebens zwischen
Familien- oder Privatleben zu unterscheiden.302
b) Nicht eheliche Lebensgemeinschaft
Nicht eheliche Lebensgemeinschaften fallen nur bei stabiler Beziehung und bestehendem Zusammenleben unter den Begriff des Familienlebens.303 Die Beziehung
gleichgeschlechtlicher Paare wird nicht als Familie definiert, ihr Schutz erfolgt bislang über die Zuordnung zum Privatleben.304
c) Verwandte
Des Weiteren gehören auch Beziehungen zwischen nahen Verwandten wie die Bindungen zwischen Erwachsenen und ihren Eltern oder Geschwistern oder solchen
zwischen Großeltern und -kindern dazu, wenn diese eine bedeutende Rolle im Familienleben spielen.305 Für entferntere Verwandte wie Onkel und Tanten, Nichten und
Neffen, Cousins und Cousinen gilt das ebenfalls, sofern ein tatsächliches Familienleben in Form eines gemeinsamen Haushaltes, getragen von Abhängigkeiten wie
finanzieller oder pflegerischer Art oder anderen engen Banden, geführt wird.306
299 Zwischen Mutter und nicht ehelichem Kind, EGMR, Urteil vom 13. Juni 1979, Marckx v.
Belgien, Serie A, 31, Rn. 31, EuGRZ 1979, 454, 455; sowie zwischen Vater und illegitimem
Kind, EGMR, Entscheidung vom 14. Juli 1977, X. and Y. v. Schweiz, Appl. No. 7289/75 und
7349/76, D. R. 9 (1977), 57.
300 Zwischen (geschiedenem) Vater und Kind EGMR, Urteil vom 21. Juni 1988, Berrehab v.
Niederlande, Serie A, 138, 15, EuGRZ 1993, 547, 548.
301 EGMR, Urteil vom 28. Okt. 1998, Söderbäck v. Schweden, Reports 1998-VII, 94, ÖJZ
1999/24, Z 33. Dazu auch Zeichen, S., Wanderarbeitnehmer und ihr Recht auf Familienleben,
S. 74 f.
302 EKMR, Entscheidung vom 11. Juli 1977, X. v. United Kingdom, Appl. No. 7626/76, D. R.
11, 160, 162; EKMR, Entscheidung vom 10. Juli 1978, X. v. Switzerland, Appl. No. 8257/78,
D. R. 13, 248, 253; ausführlich bei Zeichen, S., Wanderarbeitnehmer und ihr Recht auf Familienleben, S. 75.
303 X. and Y. v. Schweiz, ebenda.
304 EGMR, Urteil vom 22. Okt. 1981, Dudgeon v. Vereinigtes Königreich, Serie A 45, EuGRZ
1983, 448, 490. EKMR, Application No. 9369/81, X. and Y. v. Vereinigtes Königreich, D. R.
23 (1983), 220.
305 EGMR, Urteil vom 13. Juni 1979, Marckx v. Belgium, Serie A, 31, Rn. 45.
306 EKMR, Entscheidung vom 19. Juli 1968, X. v. Bundesrepublik, Appl. No. 3110/67, Collection of Decisions 27, 77 ff. Frowein, J. A., in: ders./Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl.,
Art. 8, Rn. 16. Weichselbaum, B., JAP 2000/2001, 203.
84
II. Recht im Aufenthalt
Die Konvention enthält nichts zum Aufenthaltsstatus der Familienmitglieder307 oder
hinsichtlich ihres Zuganges zu Arbeit und Bildung.308 Hingegen hat der Gerichtshof
eine ausführliche Rechtsprechung zu (Restriktionen von) Ausweisungen als einem
Aspekt des Aufenthaltsstatus entwickelt. Dies hat eine indirekte Wirkung auf den
aufgrund längeren Aufenthalts umfassenderen Rechtsstatus.309 Dogmatisch erfolgt,
wie im Rahmen des Nachzugs erwähnt, die Prüfung eines Eingriffes. Dessen Vorliegen wurde von der EKMR bei Zumutbarkeit der Ausreise zunächst verneint. Später prüfte und ging sie auch bei Zumutbarkeit von einer Rechtfertigungspflicht
aus.310 So hat das Argument der Zumutbarkeit deutlich an Gewicht verloren.311 Die
Urteile des Gerichtshofes befassen sich meist mit der Rechtfertigung des Artikel 8
Abs. 2 EMRK. Dieser verpflichtet zur Abwägung zwischen der Beeinträchtigung
des Familienlebens und der damit bezweckten Wahrung staatlicher Interessen. An
dieser Stelle ist die Frage der Integration [des Auszuweisenden/der Familie] als
gewichtiges Kriterium für die Beurteilung der Zumutbarkeit von Bedeutung. Vor
allem zwei Gruppen von Fällen waren vom Gerichtshof zu entscheiden: die Ausweisungen von straffälligen Ausländern der zweiten Generation oder die Beendigung
des Aufenthalts ausländischer Ehegatten nach Scheidungen.
1. Straffällige Ausländer der zweiten Generation
Eine eigene Linie verfolgt der Straßburger Gerichtshof in den zahlreichen Fällen
von Migranten der zweiten Generation, die aufgrund von Straftaten von Ausweisungen bedroht sind. Zunächst behandelt er diese Fälle insofern gesondert, als kein
besonderes Abhängigkeitsverhältnis vorliegen muss, d. h. es kommt bei der Frage
des Eingriffs nicht auf die Möglichkeit und Zumutbarkeit eines Familienlebens im
307 Abgesehen von Art. 4 Protokoll 4 zur EMRK – Verbot der Kollektivausweisungen.
308 Protokoll 1 (ETS Nr. 9) schützt den Zugang von Migranten zu sozialer Sicherheit. Art. 1 des
1. ZP i.V.m. Art 14 EMRK erklärte der EGMR mit Urteil vom 16. Sept. 1996, Gaygusuz v.
Austria, Reports 1996-IV, für verletzt, da die Gewährung von Notstandshilfe mangels österreichischer Staatsangehörigkeit verweigert worden war. Das Recht auf gleichen Zugang erstreckt sich auch auf Familienmitglieder. Die Verweigerung kann nur auf sehr schwerwiegende Gründe gestützt werden, Peers, S./Barzilay, R./Groenendijk, K./Guild, E., The legal
status of persons admitted for family reunion, 2000, S. 9.
309 Peers, S./Barzilay, R./Groenendijk, K./Guild, E., The legal status of persons admitted for
family reunion, 2000, S. 9.
310 Frowein, J. A., in: ders./Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., Art. 8, Rn. 24.
311 So auch bereits die Beobachtung zur Kommissionsrechtsprechung von Palm-Risse, M., Der
völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 294.
85
Ausland an. Es wird durchgängig das Vorliegen eines Eingriffes durch die Ausweisungsentscheidung bejaht.312
Des Weiteren erfährt die grundsätzlich mögliche Rechtfertigung der Ausweisung
eines straffälligen Ausländers eine Modifikation aufgrund der Tatsache, dass die
Betroffenen (fast) ihr ganzes Leben im Konventionsstaat verbracht hatten und keinerlei familiäre oder kulturelle Bindungen zum Herkunftsland vorweisen konnten
(Entfremdung). Der Gerichtshof erachtet daher die Ausweisungen als unverhältnismäßige Maßnahmen, wenn die ausländische Staatsangehörigkeit als rechtliches
Faktum zwar noch vorliegt, aber dazu korrespondierend keinerlei tatsächliche Bindungen in Form von Sprache und Kenntnis der Kultur zu dem betreffenden Staat
bestehen, vielmehr die gesamte Familie im Konventionsstaat lebt und somit der
betreffende Ausländer allein ins Herkunftsland gehen müsste.
a) Rechtsprechung des Gerichtshofes
Die Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Verhältnismäßigkeit der Ausweisung von
straffälligen Ausländern orientierte sich neben der Schwere der Straftat an den Bindungen zum Herkunftsland einerseits und der Bindung zum Konventionsstaat andererseits. Im Folgenden werden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einige zentrale Entscheidungen aufgeführt:
Im Fall Moustaquim stellte sich wegen einer Reihe von Jugendstraftaten die Frage
der Ausweisung eines als Kleinkind (unter zwei) nach Belgien eingewanderten marokkanischen Jungen, dessen familiäre und sprachliche Bindungen allein zu Belgien,
in keiner Weise jedoch zum Herkunftsland bestanden. Der Gerichtshof313 entschied,
dass diese Maßnahme wegen Unverhältnismäßigkeit sein Recht auf Achtung des
Familienlebens verletze.314 Selbst ein zehnjähriger Gefängnisaufenthalt des in
Frankreich geborenen 40 Jahre alten Algeriers Beldjoudi (die durch Geburt erworbene französische Staatsbürgerschaft hatte er als Jugendlicher wieder verloren), der
kein Arabisch sprach, wurde als nicht ausreichend angesehen angesichts der Konsequenzen für seine Ehe sowie seine französische Ehefrau, um eine Ausweisung zu
rechtfertigen.315 Bestanden hingegen noch Bindungen zum Herkunftsland, die über
solche einer Staatsangehörigkeit hinausgehen, wurde das Argument der Unverhält-
312 Davy, U., „Familienleben“ und Familiennachzug, JRP 1996, 250, 253; Caroni, M., Privatund Familienleben zwischen Menschenrecht und Migration, S. 288 ff.
313 Zuvor bereits EKMR, Urteil vom 23. Jan. 1991, Djeroud v. Frankreich, Serie A 191-B,
EuGRZ 1993, 551.
314 EGMR, Urteil vom 18. Feb. 1991, Moustaquim v. Belgien, Serie A, 193, 19, EuGRZ 1993,
552, 554 (unzul.).
315 EGMR, Urteil vom 26. März 1992, Beldjoudi v. Frankreich, 234-A, EuGRZ 1993, 556, 558
(unzul.), Bestätigung durch EGMR, Urteil vom 13. Juli 1995, Nasri v. Frankreich, Serie A
320-B, 14 (unzul.).
86
nismäßigkeit umso schwächer (Boughanemi316), je schwerer die Straftaten sich darstellten. Gleiches galt, wenn die Bindungen des Ausländers im Konventionsstaat
schwach gewertet wurden, z. B. Bindungen „nur“ zu Eltern und Geschwistern (Bouchelkia317) bestanden und keine eigene Ehe geführt wurde oder Kinder vorhanden
waren (Mehemi318). Im Fall Boujlifa319 wurde sogar die Tatsache, dass der Beschwerdeführer zwar in Frankreich aufgewachsen war, aber nicht die französische
Staatsangehörigkeit annehmen wollte, als nicht ausreichendes Gegengewicht zur
schweren Straftat angesehen.
Ungewöhnlich ist angesichts dessen der Fall Yildiz. Ebenso wie Berrehab und Ciliz gehörte auch Mehmet Yildiz zwar per se nicht zur sogenannten zweiten Generation, sondern war erst als 14-Jähriger gemeinsam mit seiner Familie nach Österreich
eingereist, wo er einige Jahre später eine türkischstämmige Österreicherin heiratete
und mit ihr gemeinsam eine Tochter hatte. Aufgrund von zwei Jugendstrafen und
einer Reihe von Bußgeldern i.H.v. 2.035 EURO wurde er kurz danach ausgewiesen
und eine fünfjährige Wiedereinreisesperre verhängt. In dieser Zeit folgte – nach
eigenem Vorbringen aufgrund der erzwungenen Trennung – die Scheidung des Paares Yildiz. Der Gerichtshof erkannte zunächst das Vorliegen eines Eingriffes durch
die Ausweisung an. Diese sei nicht mit der legitimen Begründung der Verhütung
von Straftaten zu rechtfertigen, da sie angesichts der moderaten Bußgelder und der
damit zum Ausdruck gebrachten geringen Schwere der Verstöße unverhältnismäßig
sei.320 Interessant dabei ist, dass die vorhandene, vergleichsweise starke Bindung
zum Herkunftsland hier nicht mehr wie bisher gewichtet wurde.
In den jüngsten Entscheidungen des EGMR geht es nicht mehr nur um schützenswerte familiäre Bindungen, sondern es kommt z. B. mangels eigener Familiengründung dem Schutz des Privatlebens der sog. „verwurzelten“ Ausländer besondere
Bedeutung zu (so in Slivenko321, Üner322 und Maslov323). Von den Umständen des
Einzelfalls hängt es ab, ob dem Aspekt „Familienleben“ größeres Gewicht beigemessen wird als dem Aspekt „Privatleben“. In jedem Fall wird aber die besondere
Situation von Migranten der zweiten (oder dritten) Generation, die die überwiegende oder sogar die gesamte Zeit ihrer Kindheit im Gastland verbracht haben und dort
aufgewachsen sind, zunehmend gewichtet.
316 EGMR, Urteil vom 24. April 1996, Boughanemi v. Frankreich, Berichte 1996-II, 593 ff.,
Ziff. 44 (zul.).
317 EGMR, Urteil vom 29. Jan. 1997, Bouchelkia v. Frankreich, Berichte 1997-I, 47 (zul.).
318 EGMR, Urteil vom 26. Sept. 1997, Mehemi v. Frankreich, Berichte, 1997-VI, 1959 (unzul.).
319 EGMR, Urteil vom 21. Okt. 1997, Boujlifa v. Frankreich, Berichte 1997-VI, 2250 ff.,
Ziff. 44 ff. (unzul.).
320 EGMR, Urteil vom 31. Okt. 2002, Yildiz v. Österreich, Appl. No. 37295/97, InfAuslR 2003,
126 ff. (unzul.).
321 Urteil vom 9. Okt. 2003, Slivenko v. Lettland, Appl. Nr. 48321/99, Reports 2003-X.
322 Urteil vom 18. Okt. 2006, Üner, Appl. Nr. 46410/99, Rn. 58 f.
323 EGMR, Urteil vom 22. März 2007, Maslov I, Appl. Nr. 1638/03, Rn. 63 und 73, noch nicht
amtl. veröff., InfAuslR 2007, 221, bestätigt durch die Große Kammer des EGMR, Urteil vom
23. Juni 2008, Maslov II, – 1638/03 – noch nicht amtl. veröff.
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b) Hohe Berücksichtigung von Integration
Zusammenfassend lässt sich deutlich eine hohe Berücksichtigung des Integrationsstandes des Ausländers sowie seiner Angehörigen, insbesondere des Ehegatten,
feststellen. Wurde der Ehepartner im Konventionsstaat geboren oder hat praktisch
sein ganzes Leben dort verbracht, kann ihm nur noch in extremen Fällen (schwerste
Straftaten) die Trennung des familiären Zusammenlebens und der Verweis auf die
Fortsetzung im Herkunftsland des auszuweisenden Ausländers zugemutet werden.
Weitere Kriterien sind die Nationalitäten der Ehepartner, ihre Familiensituation, die
Ehedauer, das Vorhandensein von Kindern und ihr Alter sowie die prognostizierte
Fremdheit im Herkunftsland, insbesondere anhand von Sprachkenntnissen. Der
EGMR bemüht sich zwar um eine Konkretisierung der für den Abwägungsprozess
relevanten Kriterien, aufgrund der unterschiedlichen Gewichtungen der Kriterien
lässt sich aber kein klares System erkennen.324 Problematisch ist auch die in der
Ausweisung liegende Doppelbestrafung von Ausländern sowie der zugrunde liegende Annahme der Ineffizienz strafrechtlicher Sanktionen.325
Insgesamt hat nur in wenigen besonderen Konstellationen der EGMR den staatlichen Abwägungen widersprochen. Vor allem hat er Artikel 8 Abs. 2 EMRK kein
absolutes Ausweisungsverbot für die zweite Einwanderergeneration entnommen.326
Auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene dürfte künftig aber für diese Gruppe der verstärkte Ausweisungsschutz für Daueraufenthaltsberechtigte nach zehn Jahren sowie
für Minderjährige nach der Daueraufenthaltsrichtlinie zum Tragen kommen.327
2. Scheidungsfälle
Ähnlich gelagert sind die Argumentationen in einer Reihe von Fällen, in denen die
Ausweisung von als Erwachsenen eingereisten Ausländern aufgrund von Scheidung
drohte. Grundsätzlich geht der EGMR davon aus, dass diese leichter ausgewiesen
werden können als im Konventionsstaat geborene Ausländer. Allerdings erfolgte die
‚Messung’ des Grads der Integration des Auszuweisenden anhand seiner Bindung an
Familienangehörige. Dabei geht es neben der Bindung an einen Ehegatten vor allem
um das Vorhandensein gemeinsamer Kinder. Wurde ein Kind im Konventionsstaat
geboren, darf von diesem erst recht nicht die Ausreise zwecks Aufrechterhaltung der
familiären Bindungen im – fremden – Herkunftsland der Eltern verlangt werden.
Bereits drei Jahre nach dem Fall Abdulaziz entschied der Gerichtshof in bemerkenswerter Weise den Fall Berrehab. Dem marokkanischen Staatsangehörigen war
es nach der Scheidung von seiner niederländischen Frau aufgrund verweigerter Auf-
324 Sennekamp, Ch., Ist-Ausweisung menschenrechtswidrig?, ZAR 2002, 137.
325 Beichel, St., Ausweisungsschutz und Verfassung, 2001.
326 Davy, U., Einwanderung und Integrationspfade, ZAR 2004, 231, 235.
327 S. dazu ausführlich, Kapitel 4, Fn. 600 f.
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enthaltserlaubnis und Ausweisung unmöglich, das vereinbarte Umgangsrecht mit
dem gemeinsamen Kind wahrzunehmen. Das Gericht entschied, dass diese Verweigerung nicht mit dem wirtschaftlichem Wohl des Landes zu rechtfertigen und er
dadurch in seinem Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt sei.328 Diese Entscheidung ist als wegweisend bezeichnet worden, denn Herr Berrehab war nicht zur
sogenannten zweiten Generation zu zählen und hatte nicht sein ganzes Leben bereits
im Aufnahmeland verbracht.329
Darauf aufbauend hat der EGMR in Ciliz330 erstmals entschieden, dass aus Artikel 8 EMRK direkt ein Rechtsanspruch auf Familieneinheit abgeleitet werden
kann.331 Herr Ciliz, türkischer Staatsangehöriger, heiratete kurz nach seiner Einreise
in die Niederlande eine bereits dort lebende türkische Staatsangehörige und erhielt
in deren Folge eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Nach drei Jahren und zwischenzeitlicher Geburt eines gemeinsamen Sohnes erfolgte die Trennung des Paares.
Da Herr Ciliz nicht anderweitig einen dauerhaften Aufenthalt begründen konnte,
wurde er vier Jahre später ausgewiesen. In dieser Zeit war das Verfahren betreffend
einer Besuchsregelung für seinen Sohn aber noch immer anhängig. Auch ein Besuchsvisum für ein Rechtsmittelverfahren in dieser Angelegenheit wurde ihm verweigert. Der EGMR sah darin einen Vorgriff durch die Ausländerbehörden und
fehlende Koordination beider die Familie betreffenden Verfahren, welche Herrn
Ciliz den Aufbau familiärer Bindungen zu seinem Sohn unmöglich machten. Ein
solcher Eingriff sei in einer demokratischen Gesellschaft auch zur Wahrung des
wirtschaftlichen Wohls (Bezug von Arbeitslosengeld) nicht notwendig.
Auch im zuvor dargestellten Fall Yildiz wurde vom Gericht bemängelt, dass das
bis zur Ausweisung vorhandene Familienleben, der hohe Integrationsgrad und die
unzumutbare Möglichkeit der österreichischen Ehefrau sowie der gemeinsamen
Tochter, Herrn Yildiz in die Türkei zu folgen, bei der Ausweisungsentscheidung
nicht berücksichtigt worden sei.
III. Familien zwischen Entfremdung und Integration
Die bestehende Jurisprudenz der Straßburger Organe gewährt sowohl bei Nachzugsals auch Ausweisungsfällen familiären Schutz für Migranten. Dabei waren bislang
die begrenzenden Wirkungen von Artikel 8 EMRK in den zahlreicheren Fällen der
328 EGMR, Urteil vom 21. Juni 1988, Berrehab v. Niederlande, Serie A, 138, 15, EuGRZ 1993,
547, 548.
329 Cholewinski, R., Strasbourg’s „Hidden Agenda?“, The Protection of Second-Generation migrants from Expulsion under Article 8 of the European Convention of Human Rights, NQHR
12 (1994), 287 ff.
330 EGMR, Urteil vom 11. Juli 2000, Ciliz v. Niederlande, Appl. No. 29192/95, Reports of Judgments and Decisions 2000-VIII, InfAuslR 2000, 473.
331 Sowie dies in Sen bestätigt, vgl. Weh, W. L., Menschenrechtliche Anforderungen an das Ausländerrecht am Beispiel der Menschenrechtsfälle Yildiz und Sen, InfAuslR 2003, 121, 123.
89
Aufenthaltsbeendigung deutlicher, aber auch im Ergebnis stärker als in den Entscheidungen des EGMR zu Familiennachzug.332 Dies erfuhr in der jüngeren Rechtsprechung eine Verschiebung. Dem Vorwurf der Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung bis hin zum Lotterie-Vergleich333 zu Lasten der Rechtssicherheit für alle Beteiligten334 begegnet der den Umständen des Einzelfalls verpflichtete Gerichtshof
dabei durch zunehmende Strukturierung der Rechtsprechung und Betonung verallgemeinerungsfähiger Kriterien.335
Dabei ist die Rechtsprechung von Kommission und Gerichtshof insofern impulsgebend, als sie schrittweise den durch die Zeit geschaffenen Tatsachen dauerhafter
Einwanderung Rechnung trägt. Der Schwerpunkt ausländischer Familien hat sich
infolge der Einwanderung vom Ausland ins Inland verlagert. Daher bieten die Existenz der (v. a. mehr) Familienmitglieder gewichtige Anknüpfungspunkte. Entsprechend ist in Fällen, in denen der im Konventionsstaat aufhältige Ausländer keine
Bindungen vorweisen konnte (ledig, keine Kinder, Eltern, Geschwister) der Schutz
der familiären Komponente aufgrund Artikel 8 EMRK als (ein) Teil der Integration
schwach.
Vor allem die Argumentation zur Ausweisung von Angehörigen der zweiten Generation passte sich den Einwanderungsgegebenheiten an. Denn die zweite Generation kann nicht (mehr) auf eine ‚Einreiseentscheidung’ verwiesen werden und auch
nicht (zumutbar) in ein ihnen unbekanntes Land ausreisen. Die staatliche Ausweisungsentscheidung ist in diesen Fällen unzweifelhaft der Grund für die Trennung.
Die inhaltlichen Argumentationen dieser Ausweisungsentscheidungen sind komplementär zu den Nachzugsentscheidungen und haben diese in der Praxis beeinflusst. In beiden Konstellationen geht es um die Bedeutung der Familie als Einheit,
sei es bei ihrer Herstellung durch Zusammenführung oder bei ihrer Aufhebung und
Trennung durch Ausweisung.
Auffällig waren bislang die unterschiedlichen Blickwinkel und Gewichtungen der
teils gleichen Argumente wie Integration und Zumutbarkeit bei Nachzug und Ausweisung: Bei Nachzug waren insbesondere Argumente für das ‚Gehen-Können’ der
auf ihr Recht auf Familie klagenden Person im Konventionsstaat zentral, und sie
waren zugleich Argumente gegen das ‚Kommen’ bzw. für den Familienverbleib im
Ausland. Handelte es sich bei dem Kläger um eine ausländische Person, wurde häu-
332 So auch Langenfeld, C./Mohsen, S., ZAR 2003, 398, 404.
333 So bildhaft Richter Martens: „National administrations and national courts are unable to
predict whether expulsion of an integrated alien will be found acceptable or not. The majority’s case-by-case approach is a lottery for national authorities and a source of embarrassment for the Court.” Abweichende Meinung von Richter Martens in EGMR, Urteil vom
24. April 1996, Boughanemi v. Frankreich, Berichte 1996-II, 593, 613, Rn. 4.
334 So zu Recht Caroni, M., Privat- und Familienleben zwischen Menschenrecht und Migration,
S. 414. Weh betont hingegen die Wichtigkeit der Einzelfallentscheidung angesichts des Automatismus im innerstaatlichen Recht. Vgl. Weh, W. L., InfAuslR 2003, 125.
335 Thym, D., EuGRZ 2006, 550, 541.
90
fig ihre Nicht-Integration im Konventionsstaat angenommen:336 so aufgrund schwachen Aufenthaltsstatus oder ‚nur’ einigen Jahren Aufenthalts (bis zu zehn bei Gül),
aufgrund ‚eigener’ Entscheidung zu kommen (Gül) oder der Mehrheit der Familienmitglieder im Ausland. Tatsächlich erbrachten Integrationsleistungen wie Sprachkenntnissen und gesichertem Einkommen sowie dem Erwerb der Staatsangehörigkeit (Ahmut) wurde teilweise kein Gewicht beigemessen. Auch eine damit verbundene eventuelle Entwurzelung im Herkunftsland wurde nicht als Rückkehrhindernis
gewertet. Selbst die Ausreise staatsangehöriger Familienmitglieder, insbesondere
Ehegatten, wurde trotz offensichtlicher Fremdheit im Ausland ohne Weiteres für
zumutbar erklärt (Abdulaziz).
Umgekehrt verhielt es sich bei der Ausweisung: Argumente gegen das ‚Gehen-
Müssen’ und eine Trennung des auf das Recht auf Familie klagenden Ausländers im
Konventionsstaat sind zentral. Ihre Konsequenz ist das Verbleiben (bei der Familie)
im Inland aufgrund der Unzumutbarkeit der Ausreise. Die Integration des Ausländers selbst im Konventionsstaat wurde angenommen bei dessen Geburt (Beljoudi)
oder Einreise als Kind (Moustaquim) sowie der Anwesenheit der Mehrheit der Familie im Konventionsstaat. Die Annahme fand aber auch ihre Begründung in der
Integration naher Angehöriger wie inländischer Ehegatten (Beljoudi, Nasri, Mehemi,
Yildiz) oder im Konventionsstaat geborener eigener Kinder (Berrehab, Ciliz, Yildiz).
Mangelnde Kontakte und Kenntnisse der Sprache des Herkunftslandes wurden einerseits als Integrationsbeweis, andererseits als Hindernis einer Rückkehr wegen
Entfremdung gewertet (Moustaquim, Beljoudi, anders aufgrund seiner Kontakte
Boughanemi, ebenso wurde in Boujlifa trotz Aufwachsens im Konventionsstaat der
Nichterwerb der Staatsangehörigkeit als Beleg für fehlende Integration gewertet;
hingegen reichte beim Nachzugsfall Ahmut die erworbene Staatsangehörigkeit nicht
als Beweis einer Integration aus). In jüngeren Entscheidungen wurde auch bei ‚nur’
mehrjährigem Aufenthalt und folglich vorhandenen Bindungen zum Herkunftsland
aufgrund von Heirat und Familiengründung im Konventionsstaat ein hoher Integrationsstand attestiert (Ciliz, Yildiz).
In der jüngeren Rechtsprechung erfährt die bisherige Rechtsprechung durch die
Kopplung der Argumentationen beider Konstellationen eine rechtliche Weiterentwicklung, wie sie bei Sen (ebenso Tuquabo-Tekle) deutlich wird. Da die Eltern aufgrund der im Konventionsstaat geborenen und damit integrierten Kinder nicht zurückgehen konnten, blieb als ‚gerechter Ausgleich’ nur der Nachzug des ersten Kindes Senim. Es ist also in Nachzugsfällen v. a. die Existenz von (inländischen)
Kindern, der ein besonderes Gewicht zur Begründung eines Nachzugsanspruchs
zukommt.337 Dabei wird die Integration der (zum Zeitpunkt des Urteils) zwölfjähri-
336 Palm-Risse, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 296, sieht einen Unterschied zwischen gemischten und ausländischen Familien.
337 So auch Poletti, C., die dabei aber Unterschiede bemerkt, wenn es um die Trennung von im
Konventionsstaat bestehenden oder um die Herstellung künftigen Familienlebens geht. Vgl.
dies., Le regroupement familial des ressortissants des Etats tiers face au Droit communautaire
La directive 2003/86/EC du 22 septembre 2003, S. 79. Nach GAin Kokott sind ebenfalls „vor
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gen türkischen Senim Sen in den Niederlanden aufgrund des jungen Alters positiv
prognostiziert, ebenso der 15-jährigen Mehret aus Eritrea. Dieses Gewicht des Familienlebens mit einem inländischen Kind führt in Rodrigues da Silva sogar zu dem
erstaunlichen Ergebnis, dass – angesichts der weitreichenden Folgen, die eine Ausweisung für die Verantwortung der Mutter und für ihr Familienleben mit ihrer jungen Tochter haben würde – sogar die Tatsache der Illegalität des Aufenthalts der
Mutter eines (niederländischen) Kindes nicht so stark ins Gewicht fällt, dass sie
einer Aufenthaltserlaubnis entgegensteht. Damit verbunden ist – in Entsprechung
zum Fall Winata des Menschenrechtsausschusses338 – eine grundsätzliche Ausdehnung des aufenthaltsrechtlichen Familienschutzbereiches von Artikel 8 EMRK auch
auf Illegale und Geduldete.339 Das Gericht weist allerdings darauf hin, dass in diesem Fall ein rechtmäßiger Aufenthalt in den Niederlanden aufgrund der Beziehung
zwischen der Mutter und dem Vater ihrer Tochter – einem niederländischen Staatsbürger – möglich gewesen wäre: „Auch wenn kein Zweifel daran besteht, dass die
lockere Einstellung der … [Mutter] gegenüber dem niederländischen Fremdenrecht
einen ernsten Tadel rechtfertigt, muss der vorliegende Fall von anderen unterschieden werden, in denen der Gerichtshof festgestellt hat, dass die betroffenen Personen
zu keinem Zeitpunkt berechtigterweise erwarten konnten, ein Familienleben in dem
Gaststaat fortsetzen zu können.“340
Eine erfolgreiche und klar erwiesene Integration der Eltern wurde in Sen und Tuquabo-Tekle hingegen nicht honoriert. Auf die Problematik dieser einseitigen Begründung weist deutlich das zustimmende Votum von Richter Türmen in der
Rechtssache Sen hin: „So liberal dieses Urteil scheint, es macht die fundamentale
Unterscheidung zwischen fremd und eigen erneut sichtbar. Ein langer und integrationsintensiver Aufenthalt allein wird nicht als ausreichend angesehen, wonach den
Ausländerinnen und Ausländern die Entscheidung, aus ihrem Herkunftsland auszureisen, unverändert entgegengehalten wird.“341 Diese Kritik setzt zu Recht daran an,
dass sich hinter dieser Judikatur keine konsequente Anerkennung integrierter Ausländer oder de facto-Inländer verbirgt.342 Bemerkenswert und im Interesse der
allem die Interessen der betroffenen Kinder geeignet, einen Anspruch auf Familienzusammenführung im Aufnahmestaat zu begründen“, Schlussanträge, Rn. 69. Eine erfolgreiche Beschwerde auf Ehegattennachzug gibt es bislang nicht.
338 S. dazu Kapitel 1, S. 39 f.
339 Thym, D., EuGRZ 2006, 541, 546.
340 EGMR, Urteil vom 31. Jan. 2006, Rodrigues da Silva and Hoogkamer v. Netherlands, Appl.
No. 50435/99, Rn. 43. Übersetzung des Newsletters Menschenrechte 2006/1 des Österreichischen Instituts für Menschenrechte, http://www.menschenrechte.ac.at/docs/06_1/06_1_11
(6. Nov. 2006).
341 Zustimmende Meinung von Richter Türmen, der unter Bezugnahme auf Martens in Gül und
Ahmut das Zurückstehen familiärer Interessen dauerhaft ansässiger Eltern im Aufnahmeland
als generelle Unverhältnismäßigkeit und Konventionswidrigkeit sieht, InfAuslR 2002, 337.
342 Auch Caroni, M., Privat- und Familienleben zwischen Menschenrecht und Migration, S. 414,
kritisiert das Fehlen einer grundsätzlich besonderen Behandlung im Rahmen von Ausweisungsentscheidungen integrierter Ausländerinnen und Ausländer.
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Rechtssicherheit zu bevorzugen ist insofern das (ältere) Beispiel Österreichs (ähnlich auch Frankreich), wonach in Anerkennung der Schwierigkeit sachgerechter
Kriterien und der zumutbaren ‚Messung’ der Integration ausnahmslos alle im Land
geborenen Ausländer gegen Ausweisung geschützt sind.343 Künftig dürften sich aber
die Unterschiede infolge der gemeinschaftsrechtlichen Harmoniserung des verstärkten Ausweisungsschutzes für Daueraufenthaltsberechtigte verringern.
B. Die Europäische Sozialcharta
Ähnlich den späteren UN-Pakten wurde bereits auf Ebene des Europarats die Europäische Sozialcharta (ESC) als Ergänzung und ‚Gegenstück’ zur EMRK auf sozialem Gebiet am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichnet und trat am 26. Februar 1965 in Kraft.344 Bis heute haben 27 Staaten – darunter alle 15 ‚alten’ EU-
Mitglieder und fast alle der zwölf beigetretenen Mitgliedstaaten345 – die Charta ratifiziert. Allerdings ist nicht nur das ‚soziale Gebiet’ ein grundlegend anderes, sondern hat die Verschiedenartigkeit der sozialen und politischen Rechte auch zu einem
anderen Konzept und rechtlichen Charakter der ESC-Bestimmungen im Vergleich
zur EMRK geführt. Der Anwendungsbereich der ESC ist nicht nur aufgrund des
Reziprozitätsprinzips ein beschränkter346, sondern die ESC gilt darüber hinaus –
anders als die EMRK – nur für Staatsangehörige anderer Vertragsstaaten und
Flüchtlinge i.S.d. GFK.347 Zudem haben die meisten Staaten eine Anzahl von Vorbehalten erklärt und von Artikel 20 Abs. 1 lit. c) ESC Gebrauch gemacht. Dieser
verpflichtet einen Vertragsstaat nur zur Ratifikation von mindestens zehn (von insgesamt 19) Artikeln oder 45 (von insgesamt 72) Absätzen dieser 19 Artikel, darunter
343 Vgl. § 38 FrG 1997 (später geändert, vgl. Fn. 620) sowie insoweit Kapitel 4 zur ähnlichen
Lage in Frankreich (S. 254 ff., insb. Fn. 1077 sowie S. 261 f., insb. Fn. 1100) und in den Niederlanden (S. 271, insb. Fn. 1160). Davy, U., Einwanderung und Integrationspfade, ZAR
2004, 231, 235; vgl. auch Weh, W. L. mit Kritik an Deutschland, InfAuslR 2003, 124. Zur
deutschen Rechtslage, Kapitel 7, insb. S. 352 f.
344 European Social Charter, ETS Nr. 35, abgedruckt in Sartorius II, Nr. 115.
345 Dies sind Lettland, Malta, Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn sowie Zypern. Slowenien hat
bislang nur signiert, ebenso Rumänien. Es fehlen Estland, Litauen und Bulgarien (Stand:
11. Juli 2008).
346 S. die Bestimmung des persönlichen Geltungsbereiches im Anhang zur Sozialcharta. Cholewinski zweifelt nicht zu Unrecht, ob mit der darin angelegten Unterscheidung der Rechtsadressaten die ESC noch als der EMRK gleichwertiges Gegenstück auf dem Gebiet der
‚fundamentalen’ Rechte bezeichnet werden kann. Vgl. Cholewinski, R., Migrant Workers,
S. 215 f.
347 Vgl. Abs. 1 der Definition des persönlichen Geltungsbereiches im Anhang zur ESC. Abs. 2
bestimmt, dass jede Vertragspartei Flüchtlingen im Sinne der GFK, die sich rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet gewöhnlich aufhalten, eine Behandlung gewähren wird, die so günstig wie
möglich, in keinem Fall aber weniger günstig ist, als in Verpflichtungen der Vertragspartei
aus der GFK oder aus anderen gültigen internationalen Übereinkünften vorgesehen ist, die
auf solche Flüchtlinge anwendbar sind.
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References
Zusammenfassung
Die Untersuchung widmet sich einem der umstrittensten und in dieser Komplexität wenig behandelten Felder des modernen Migrationsrechts. Die Autorin begreift Familienzusammenführung als ein europäisches Migrationsphänomen, das einer rechts- und länderübergreifenden sowie interdisziplinären Perspektive bedarf. Die Darstellung besitzt mit ihrer Zusammenführung von Völkerrecht, Europarecht und deutschem Verfassungsrecht mit Elementen der Politikwissenschaft Seltenheitswert.
Im Zentrum stehen die aktuellen Entwicklungen in der EU. Die Entwicklung der Familienzusammenführungsrichtlinie wird vor dem Hintergrund völkerrechtlicher Verpflichtungen und nationaler Veränderungen kritisch untersucht. Dabei werden die Verhandlungspositionen zur Richtlinie vor dem Hintergrund des französischen, niederländischen und deutschen Nachzugsrechts analysiert. Des Weiteren erforscht die Autorin die Auswirkung dieses Europäisierungsprozesses für Unionsbürger einerseits sowie für Drittstaatsangehörige andererseits einschließlich der Gruppe der Asylberechtigten und Flüchtlinge und hinterfragt das Zuwanderungsgesetz 2007 auf Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen und internationalen Verpflichtungen.