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„Jedes Kind hat ohne Diskriminierung hinsichtlich […] der nationalen […] Herkunft […] das
Recht auf diejenigen Schutzmaßnahmen durch seine Familie, die Gesellschaft und den Staat,
die seine Rechtsstellung als Minderjähriger erfordert.
Der Menschenrechtsausschuss führt dazu aus: „die Staaten sollen (…) angeben,
wie ihre Gesetzgebung und Praxis gewährleisten, dass die Schutzmaßnahmen darauf
hinzielen, jede Diskriminierung in allen Bereichen (…) und insbesondere jede Diskriminierung zwischen Kindern, welche Staatsbürger sind, und ausländischen Kindern (…) abzuschaffen.“82
Bemerkenswert und bezeichnend für das zunehmende Gewicht von inländischen
Kindern ist der Fall Winata gegen Australien. Auf diese Entscheidung verweist auch
GAin Kokott in ihren Schlussanträgen.83 Das grundsätzlich dem Vertragsstaat Australien zugestandene Ermessen, die (illegal) aufhältigen indonesischen Eltern auszuweisen, wurde insbesondere deshalb beschränkt, weil das Paar zwischenzeitlich
im Land ein Kind bekommen hatte. Die Ermessensreduzierung wurde damit begründet, dass der Zwang zur Entscheidung für die Beschwerdeführer, entweder den
13-jährigen Sohn allein zurückzulassen oder aber ihn mit ins Herkunftsland zu nehmen, einen Eingriff in Artikel 17 IPbpR darstelle. Dieser könne auch nicht gerechtfertigt werden, denn infolge der Integration des Sohnes in die australische Gesellschaft müssten zusätzliche Gründe für eine Ausweisung der Eltern vorliegen. Aus
diesem Grund qualifizierte der Ausschuss das Verhalten Australiens als Verletzung
der Artikel 17, 23 und Artikel 24 IPbpR.84
C. Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Am 16. Dezember 1966 wurde neben dem IPbpR der Pakt über wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte (IPwirtR) verabschiedet.85 Er konnte ebenfalls erst
nach fast zehn Jahren am 3. Januar 1976 mit Hinterlegung der 35. Ratifizierungsurkunde in Kraft treten.86 In der Aufteilung der Menschenrechte in zwei Pakte wird
der Streit über die Unterscheidung der Grundrechte erster und zweiter Generation87
sichtbar, der einen einheitlichen Text verhinderte. Danach gewähren die Rechte des
IPbpR dem Einzelnen ‚Freiheit vom Staat’, durch dessen Verpflichtung diskriminie-
82 AB 17 [35] (1989), Rn. 5. Abgedruckt in: Kälin/Malinverni/Nowak (Hg.), Die Schweiz und
die UNO-Menschenrechtspakte, S. 390.
83 Insb. Abätze 7.1. bis 7.3., Schlussanträge, Rn. 69, s. dazu auch S. 291.
84 Menschenrechtsausschuss, Communication No. 930/2000 vom 16. Aug. 2001, Winata v.
Australia, CCPR/C/72/D/930/2000, auf Deutsch zusammengefasst: http://www.humanrights.
ch; auf Englisch: http://www.unhchr.ch/tbs/doc.nsf/(Symbol)/488b0273fa4febfbc1256ab7002
e5395?Opendocument.
85 UN GA Res. 2200A (XXI). Abgedruckt in Sartorius II, Nr. 21.
86 Bek. vom 9. März 1976 (BGBl. 1976 II, S. 428). Derzeit zählt der Pakt 158 Vertragsparteien,
darunter alle der 27 EU-Mitgliedstaaten, http://www2.ohchr.org/english/bodies/ratification/3.
htm (18. April 2008). Zur Bundesrepublik s. in Kapitel 7, S. 380.
87 Jellinek, G., System der subjektiven öffentlichen Rechte.
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rungsfreier Gewährleistung der Rechte (Ergebnispflichten). Sie sind damit Abwehrrechte, deren Verletzung mit Inanspruchnahme eines subjektiven Klagerechts (Individualbeschwerde) bei einem unabhängigen Gremium gerügt werden kann. Der
IPwirtR gewährt hingegen ‚Freiheit durch den Staat’ durch die staatliche Verpflichtung der ‚Nach-und-Nach-Gewährleistung’88 in Form bloßer progessiver Implementierungspflicht (Verhaltenspflichten). Ihnen wurde daher bislang kein subjektives
Klagerecht zur Seite gestellt.89 Derzeit gibt es im Gegensatz zum IPbpR kein eigenes, unabhängiges Kontrollorgan im Rahmen des IPwirtR, sondern lediglich ein als
politisches Unterorgan des Wirtschafts- und Sozialrates geschaffener Sozialausschuss prüft Staatenberichte und reagiert mit der Abgabe allgemeiner Empfehlungen.90
Allerdings wird die sogenannte Nichtjustiziabilität sozialer Grundrechte kritisch
gesehen. Entsprechend ist die Einführung eines Klagerechts nach dem Vorbild des
IPbpR in Diskussion und liegt seit 1996 ein Entwurf für ein Fakultativprotokoll zum
Sozialpakt mit einem Individualbeschwerdeverfahren vor. Die Verhandlungen scheiterten jedoch bislang an dieser unverändert strittigen Frage. Nach dem ein solches
Protokoll befürwortendem Bericht des Experten Kotrane beschäftigt sich seit dem
Frühjahr 2004 eine förmliche Arbeitsgruppe mit den möglichen Optionen eines
Protokolls.91
I. Recht auf Aufenthalt
Der Pakt enthält zwar keine besonderen nachzugsrelevanten Rechte, aber familienschützende Bestimmungen. So erkennen die Vertragsstaaten gemäß Artikel 10 Nr. 1
Satz 1 IPwirtR an,
„daß die Familie als die natürliche Kernzelle der Gesellschaft größtmöglichen Schutz und Beistand genießen soll, insbesondere im Hinblick auf ihre Gründung und solange sie für die Betreuung und Erziehung unterhaltsberechtigter Kinder verantwortlich ist.“
Der Familienbegriff ist dabei identisch zu dem des IPbpR. Im Unterschied dazu
und zu anderen Formulierungen wird hierbei ausdrücklich die Bedeutung der Fami-
88 Gemäß Art. 2 Abs. 1 IPwirtR verpflichtet sich jeder Vertragsstaat, „Maßnahmen zu treffen,
um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen.“
89 Nowak, M., in: Kälin/Malinverni/Nowak (Hg.), Die Schweiz und die UNO-Menschenrechtspakte, S. 9.
90 Zu den Aktivitäten des CESCR: http://www2.ohchr.org/english/bodies/cescr/index.htm
(9. Juli 2008).
91 Nowak,. M., in: Kälin/Malinverni/Nowak (Hg.), Die Schweiz und die UNO-Menschenrechtspakte, S. 29, dort Fn. 38-40 m.w.N. Dazu auch Spenlé, Ch. A./Schrepfer, N., Zur Umsetzung
der Rechte des UNO-Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte aus Schweizer
Sicht – Das Projekt eines Fakultativprotokolls zum UNO-Pakt I, ZÖR 2004, 375-414.
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lie für die Kinderbetreuung und -erziehung betont.92 Die Rechte des IPwirtR dürfen
allerdings Einschränkungen unterworfen werden, „die gesetzlich vorgesehen und
mit der Natur dieser Rechte vereinbar sind und deren ausschließlicher Zweck es ist,
das allgemeine Wohl in einer demokratischen Gesellschaft zu fördern.“93 Angesichts
der weiten Schranken können keine konkreten Nachzugsrechte abgeleitet werden.
II. Recht im Aufenthalt
Des Weiteren enthält der Pakt integrationsrelevante Rechte, die ohne Diskriminierung hinsichtlich der nationalen Herkunft und damit auch Ausländerinnen und Ausländern zu gewähren sind,94 so das Recht auf Arbeit, „welches das Recht jedes einzelnen auf die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt durch frei gewählte oder angenommene Arbeit zu verdienen, umfaßt (…)“.95 Ob daraus jedoch konkrete Rechte
abgeleitet werden können, erscheint zweifelhaft. Neben der eher programmatischen
Verpflichtung und fehlenden Einklagbarkeit könnten im Rahmen zuvor genannter
weiter Schranken auch wirtschaftspolitisch begründete, ausländerrechtliche Beschränkungen des Zugangs zum Arbeitsmarkt zum allgemeinen Wohl einer demokratischen Gesellschaft zu zählen sein.
Verpflichtend ist hingegen die staatliche Anerkennung des Rechts „eines jeden
auf Bildung“ festgelegt.96 Diese wird durch die Gewährung verpflichtenden und
unentgeltlichen Grundschulunterrichts sowie die Ermöglichung weiterer Bildungswege bis zur Hochschule – ggf. durch ein angemessenes Stipendiensystem – konkretisiert.97 Bezüglich des Grundschulunterrichts werden sogar Fristen gesetzt, um die
Umsetzung zu sichern.98
D. Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes
Das am 20. November 1989 verabschiedete spezielle Übereinkommen über die
Rechte des Kindes99 ist nach äußerst kurzer Zeit bereits am 2. September 1990 mit
92 Scheer, R., Der Ehegatten- und Familiennachzug von Ausländern, S. 17.
93 Art. 4 IPwirtR.
94 Art. 2 Abs. 2 IPwirtR.
95 Art. 6 Abs. 1 IPwirtR.
96 Art. 13 Abs. 1 Satz 1 IPwirtR.
97 Art. 13 Abs. 2 lit. a)-e) IPwirtR.
98 Art. 14 IPwirtR.
99 UN GA Res. 44/25. Abgedruckt in Sartorius II, Nr. 29. Dem vorausgegangen war die am
20. Nov. 1959 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen proklamierte Erklärung
der Rechte des Kindes (Resolution 1386[XIV]).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung widmet sich einem der umstrittensten und in dieser Komplexität wenig behandelten Felder des modernen Migrationsrechts. Die Autorin begreift Familienzusammenführung als ein europäisches Migrationsphänomen, das einer rechts- und länderübergreifenden sowie interdisziplinären Perspektive bedarf. Die Darstellung besitzt mit ihrer Zusammenführung von Völkerrecht, Europarecht und deutschem Verfassungsrecht mit Elementen der Politikwissenschaft Seltenheitswert.
Im Zentrum stehen die aktuellen Entwicklungen in der EU. Die Entwicklung der Familienzusammenführungsrichtlinie wird vor dem Hintergrund völkerrechtlicher Verpflichtungen und nationaler Veränderungen kritisch untersucht. Dabei werden die Verhandlungspositionen zur Richtlinie vor dem Hintergrund des französischen, niederländischen und deutschen Nachzugsrechts analysiert. Des Weiteren erforscht die Autorin die Auswirkung dieses Europäisierungsprozesses für Unionsbürger einerseits sowie für Drittstaatsangehörige andererseits einschließlich der Gruppe der Asylberechtigten und Flüchtlinge und hinterfragt das Zuwanderungsgesetz 2007 auf Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen und internationalen Verpflichtungen.