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7. Kapitel: Folgen eines Verstoßes gegen höherrangiges Recht
Von den Grenzen ablösender Versorgungstarifverträge und denen von Satzungsänderungen sind die Folgen eines Rechtsverstoßes zu unterscheiden.
A. Arbeitsrechtliches Grundverhältnis
Verstößt ein ablösender Versorgungstarifvertrag gegen höherrangiges Recht, ist er
nichtig.933 Seine Nichtigkeit folgt (da die Tarifvertragsparteien selbst nicht an
Grundrechte gebunden sind) allerdings nicht aus der Unvereinbarkeit mit Grundrechten, sondern ergibt sich aus dem Verstoß gegen die infolge grundrechtlicher
Schutzpflichten bestehenden (einfachrechtlichen) Grenzen. Ein danach nichtiger
Versorgungstarifvertrag tritt nicht an die Stelle des vorherigen („abgelösten“) Versorgungstarifvertrags. Dessen Regelungen gelten vielmehr weiter, bis sie durch
einen wirksamen Versorgungstarifvertrag abgelöst werden oder, wenn der Versorgungstarifvertrag zuvor gekündigt wird, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden (§ 4 Abs. 5 TVG).
Gilt ein ablösender Tarifvertrag im arbeitsrechtlichen Grundverhältnis kraft einer
dynamischen Bezugnahme im Arbeitsvertrag, führt die Unwirksamkeit des Tarifvertrags nicht automatisch auch zu deren Unwirksamkeit. Auch von Anfang an unwirksame Tarifverträge können grundsätzlich wirksam in Bezug genommen werden.934
Ist die dynamische Bezugnahmeklausel jedoch als Gleichstellungsabrede auszulegen,935 will sie nur widerspiegeln, was tarifrechtlich gilt.936 Aus dem in der Gleichstellungsabrede zum Ausdruck kommenden Willen der Arbeitsvertragsparteien
ergibt sich damit, dass die in Bezug genommenen tariflichen Regelungen bei Unwirksamkeit des Tarifvertrags ebenfalls keine Anwendung finden sollen. Bei ablösenden Versorgungstarifverträgen ist eine Bezugnahme aber auch deshalb nicht
möglich, weil für die Bezugnahme und den ablösenden Versorgungstarifvertrag im
Ergebnis dieselben Grenzen gelten. Auch wenn die vertragliche Bezugnahmeklausel
933
Zu den weiteren Rechtsfolgen bei Verstößen gegen Gleichbehandlungsgebote, insbesondere
zu den sich daraus ergebenden prozessualen Problemen, vgl. etwa Hartmann, Gleichbehandlung und Tarifautonomie, insbes. S. 101 ff. sowie die einschlägige Kommentarliteratur.
934
BAG 7.12.1977, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 9; Däubler/Lorenz, TVG, § 3 Rn. 243;
Kempen/Zachert/Kempen, TVG, § 3 Rn. 168; Wiedemann/Oetker, TVG, § 3 Rn. 324.
935
Zur Auslegung einer dynamischen Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede oben Kap. 1
B IV 2 c bb, S. 53 ff.
936
BAG 14.12.2005, AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 39 (I 2 a); BAG 4.8.1999,
AP TVG § 1 Tarifverträge: Papierindustrie Nr. 14 (III 3); BAG 7.12.1977, AP TVG § 4
Nachwirkung Nr. 9; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rn. 37; Gamillscheg, KollArbR, Bd. I, S. 737;
Kempen/Zachert/Kempen, TVG, § 3 Rn. 181; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 229.
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nicht als Gleichstellungsabrede auszulegen sein sollte, verstößt sie als überraschende
Regelung gegen § 305c Abs. 1 BGB und ist daher ebenfalls nichtig. In beiden Fällen
gilt damit weiterhin der bisherige Versorgungstarifvertrag.
Nach § 5 Abs. 4 TVG erfasst ein Tarifvertrag mit seiner Allgemeinverbindlicherklärung „auch“ die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das
zeigt, dass ein ablösender Versorgungstarifvertrag nur dann für allgemeinverbindlich erklärt werden kann, wenn er wirksam ist. Zudem würde die Allgemeinverbindlicherklärung eines unwirksamen ablösenden Versorgungstarifvertrags – wegen der
insoweit gleichen Schranken – selbst gegen höherrangiges Recht verstoßen. Es verbleibt damit bei der Geltung der im bisherigen Versorgungstarifvertrag enthaltenen
Versorgungsregelungen.
B. Folgen im Bezugsverhältnis
Hinsichtlich der sich im Bezugsverhältnis aus der Nichtigkeit des ablösenden Versorgungstarifvertrags ergebenden Folgen ist wiederum danach zu trennen, ob es sich
bei der Versorgungseinrichtung um eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien handelt oder nicht.
Ist die Versorgungseinrichtung eine gemeinsame Einrichtung i.S.d. § 4 Abs. 2
TVG und ist der ablösende Versorgungstarifvertrag unwirksam, wird das Bezugsverhältnis nach wie vor durch den bisher geltenden Tarifvertrag bestimmt; dessen
Versorgungsregelungen gelten unmittelbar und zwingend für die Satzung der gemeinsamen Einrichtung und für deren Verhältnis zu den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, §§ 4 Abs. 2 TVG, 5 Abs. 4 TVG.
Werden die Versorgungsleistungen über eine Versorgungseinrichtung erbracht,
die keine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien ist, und hat die Versorgungseinrichtung die (unwirksamen) Tarifregelungen bereits in ihrer Satzung umgesetzt, ergibt sich die Fortgeltung der bisherigen Satzungsbestimmungen nicht automatisch aus der Unwirksamkeit des ablösenden Versorgungstarifvertrags. Da die
Grenzen für die Herabsetzung von Versorgungsleistungen im Bezugsverhältnis aber
denen im arbeitsrechtlichen Grundverhältnis entsprechen, verstoßen die in die Satzung neu eingefügten allgemeinen Versicherungsbedingungen ebenfalls gegen höherrangiges Recht. Sie werden als überraschende Klauseln nicht Bestandteil des
Versicherungsvertrags, §§ 305c, 306 Abs. 1 BGB. Die bisherigen Versicherungsbedingungen gelten daher fort.
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References
Zusammenfassung
Die gesetzliche Rente ist längst nicht mehr sicher. Schutz gegen drohende Versorgungslücken bieten Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung. Neben betriebsbezogenen Versorgungssystemen gewinnen in der Praxis auch solche auf tariflicher Grundlage zunehmend an Bedeutung. Doch wie verhält sich ein solches System im Krisenfall? In welchem Umfang sind Eingriffe in Versorgungsrechte zur Rettung von Unternehmen möglich?
Diesen in Literatur und Rechtsprechung umstrittenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Untersucht wird, ob die vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Drei-Stufen-Theorie auf ablösende Versorgungstarifverträge übertragbar ist und welche Bedeutung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vertrauensschutzgesichtspunkte haben. Auf der Grundlage staatlicher Schutzpflichten entwickelt der Autor ein eigenes Lösungsmodell.
Das Werk wurde mit dem Südwestmetall-Föderpreis 2008 ausgezeichnet.