228
II. Bestehen eines „öffentlichen Interesses“ an der Allgemeinverbindlicherklärung
ablösender Versorgungstarifverträge
1. Unbestimmter Rechtsbegriff
Der Begriff des „öffentlichen Interesses“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der
sich angesichts der Vielzahl möglicher Fallgestaltungen kaum allgemeingültig definieren lässt und daher für jeden Einzelfall gesondert zu konkretisieren ist.883 Dafür
sind die unterschiedlichen Interessen der durch die Allgemeinverbindlicherklärung
betroffenen Gruppen gegeneinander abzuwägen und zum Ausgleich zu bringen;
neben dem Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung müssen dabei auch verfassungsrechtliche Wertentscheidungen berücksichtigt werden.884
2. Kriterien der Interessenabwägung
a) Grundlagen
In die Interessenabwägung dürfen nur diejenigen Belange eingestellt werden, die
dem Schutzzweck der Allgemeinverbindlicherklärung entsprechen.885 Außerhalb des
Schutzzwecks liegende allgemeine Interessen der Öffentlichkeit, beispielsweise an
einer Förderung des Wirtschaftsstandorts Deutschlands oder der Verringerung der
Arbeitslosigkeit, können durch die Allgemeinverbindlicherklärung zwar mittelbar
gefördert werden, vermögen für sich genommen aber noch kein öffentliches Interesse zu begründen.
b) Interesse der Außenseiter
Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung ist zum einen, angemessene Arbeitsbedingungen auch für nichtorganisierte Arbeitnehmer sicherzustellen. Die in § 5 TVG
vorgesehene Möglichkeit, einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären,
zieht die Konsequenz daraus, dass tarifliche Arbeitsbedingungen unmittelbar und
zwingend nur für organisierte Arbeitnehmer gelten, angesichts der wirtschaftlichen
Überlegenheit des Arbeitgebers aber auch ein Bedürfnis nach der Einbeziehung der
nichtorganisierten Arbeitnehmer in den tariflich geschaffenen Schutz besteht. Die
883
Ansey/Koberski, AuR 1987, 230, 232 f.; v. Hoyningen-Huene, BB 1986, 1909, 1910;
Wiedemann/Wank, TVG, § 5 Rn. 68; Wonneberger, Funktionen, S. 69 f.
884
V. Hoyningen-Huene, BB 1986, 1909, 1910.
885
BAG 28.3.1990, AP TVG § 5 Nr. 25; Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 155; ErfK/Franzen, § 5
TVG Rn. 12; Gamillscheg, KollArbR, Bd. I, S. 884; Lakies, AR-Blattei SD 1550.10 Rn. 117;
Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 99; im Grundsatz auch BVerwG 3.11.1988, E 80, 355, 367.
229
Allgemeinverbindlicherklärung dient damit dem Schutz der nichtorganisierten Arbeitnehmer,886 weshalb deren Belange im Rahmen der Interessenabwägung jedenfalls zu berücksichtigen sind.887 Dass dem Interesse der nichtorganisierten Arbeitnehmer an einer zusätzlichen betrieblichen Altersversorgung darüber hinaus auch
ein hohes Gewicht zukommt, zeigt die Kodifikation der betrieblichen Altersversorgung im BetrAVG.888 Mit der Verabschiedung des BetrAVG hat der Gesetzgeber
verdeutlicht, dass er die Gewährung einer zusätzlichen betrieblichen Altersversorgung für sozialpolitisch wünschenswert hält. Diese gesetzgeberische Wertentscheidung ist auch bei der Entscheidung über die Allgemeinverbindlichkeit zu beachten.889
Aus dem in § 5 Abs. 2 TVG vorgesehenen Anhörungsrecht ergibt sich mittelbar,
dass auf der anderen Seite auch die Belange der nichtorganisierten Arbeitgeber in
die Interessenabwägung eingestellt werden müssen.890 Ihnen entstehen durch die
Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, insbesondere von solchen, die,
wie Versorgungstarifverträge, eine zusätzliche, an sich freiwillige Arbeitgeberleistung vorsehen, zusätzliche Kosten.891
Die Allgemeinverbindlicherklärung eines ablösenden Versorgungstarifvertrags
nimmt in diesem System jedoch insofern eine Sonderrolle ein, als dass die Allgemeinverbindlicherklärung die Rechtsstellung der nichtorganisierten Arbeitnehmer
nicht verbessert, sondern verschlechtert. Sie setzt die den nichtorganisierten Arbeitnehmern nach dem bisherigen, ebenfalls allgemeinverbindlichen Versorgungstarifvertrag zugesagten Versorgungsrechte herab und hat damit zumindest nicht unmittelbar arbeitnehmerschützende Funktion. Sie dient primär eher den nichtorganisierten Arbeitgebern, vorausgesetzt, die von diesen an den Versorgungsträger
abzuführenden Beiträge werden parallel zur Leistungskürzung gesenkt. Dass die
nichtorganisierten Arbeitnehmer durch die Allgemeinverbindlicherklärung nicht
geschützt, sondern belastet werden, spricht daher zunächst einmal gegen ein öffent-
886
Vgl. BVerfG 24.5.1977, E 44, 322, 342; BVerwG 3.11.1988, E 80, 355, 367; BAG 28.3.1990,
AP TVG § 5 Nr. 25; BAG 24.1.1979, AP TVG § 5 Nr. 16; Gamillscheg, KollArbR, Bd. I,
S. 884; v. Hoyningen-Huene, BB 1986, 1909, 1910; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 5;
Wiedemann/Wank, TVG, § 5 Rn. 2; Wiedemann, RdA 1987, 262, 265.
887
Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 155; ErfK/Franzen, § 5 TVG Rn. 12; v. Hoyningen-Huene, BB
1986, 1909, 1911 f.; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 99.
888
BAG 28.3.1990, AP TVG § 5 Nr. 25; vgl. auch Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 100;
ErfK/Franzen, § 5 TVG Rn. 12.
889
Zur Berücksichtigungsfähigkeit gesetzgeberischer Wertentscheidungen BAG 28.3.1990, AP
TVG § 5 Nr. 25; die vom BAG gewählte Formulierung, ein öffentliches Interesse sei stets gegeben, wenn damit ein anerkanntes Interesse des Gesetzgebers nachvollzogen werde, ist allerdings – wie Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 100 zutreffend rügen – zu weit geraten. Allgemeine wirtschaftspolitische Interessen rechtfertigen die Allgemeinverbindlicherklärung nicht.
890
V. Hoyningen-Huene, BB 1986, 1909, 1912; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 104; Wiedemann,
RdA 1987, 262, 266.
891
Kritisch („betriebswirtschaftlich verengte Sichtweise“) Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 155.
230
liches Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung ablösender Versorgungstarifverträge.892
c) Sicherung der Funktionsfähigkeit gemeinsamer Einrichtungen
Ein weiterer wichtiger Zweck von Allgemeinverbindlicherklärungen kann auch
darin gesehen werden, die Errichtung gemeinsamer Einrichtungen i.S.d. § 4 Abs. 2
TVG zu ermöglichen und ihre Funktionsfähigkeit zu sichern.893 Wegen des geringen
Organisationsgrads der Arbeitgeber und Arbeitnehmer wären gemeinsame Einrichtungen ohne Allgemeinverbindlicherklärung des ihnen zugrundeliegenden Tarifvertrags oftmals nicht oder nur eingeschränkt funktionsfähig.894 Vor allem Versorgungseinrichtungen sind auf das Beitragsaufkommen aller Arbeitgeber angewiesen,
um überhaupt wirtschaftlich arbeiten zu können.895 Hinter dem Interesse an der
Errichtung gemeinsamer Einrichtungen stehen damit einerseits die Tarifvertragsparteien, die diese tragen, andererseits aber auch die organisierten Arbeitnehmer, die –
würde die Allgemeinverbindlichkeit nicht erklärt und wäre die gemeinsame Einrichtung deswegen nicht oder nur teilweise funktionsfähig – keine oder nur geringere
Versorgungsleistungen erhielten.896
Aber nicht nur die Errichtung, auch der Fortbestand der gemeinsamen Einrichtung liegt im Interesse der Tarifvertragsparteien und der begünstigten Arbeitnehmer.
Ist es zur Sicherung der Funktionsfähigkeit erforderlich, die Leistungsbedingungen
der gemeinsamen Einrichtung zu ändern, um sie an aktuelle wirtschaftliche oder
sozialpolitische Entwicklungen anzupassen, wird man insoweit ein berechtigtes
Interesse annehmen können. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Tarifvertragsparteien ein Interesse daran haben, für alle Arbeitnehmer (ungeachtet ihrer
Verbandszugehörigkeit) einheitliche Leistungsbedingungen zu schaffen. Dadurch
werden nicht nur Spannungen innerhalb des Kreises der leistungsberechtigten Arbeitnehmer vermieden, sondern auch Verwaltungskosten eingespart. Das Interesse
der Tarifvertragsparteien an einer Allgemeinverbindlicherklärung wird dadurch
verstärkt, dass die organisierten Arbeitnehmer – bei einem vorgegebenen Einsparbedarf – stärkere Einschnitte hinnehmen müssten, wenn der ablösende Tarifvertrag
nicht für allgemeinverbindlich erklärt würde. Durch die Allgemeinverbindlicherklärung werden die insgesamt vorzunehmenden Leistungskürzungen auf mehr Schultern verteilt. Sie fallen bei dem jeweils betroffenen Arbeitnehmer also geringer aus.
892
V. Hoyningen-Huene, BB 1986, 1909, 1911.
893
Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 11; Wiedemann/Wank, TVG, § 5 Rn. 3a; kritisch insofern v.
Hoyningen-Huene, BB 1986, 1909, 1911 (bezogen auf die Allgemeinverbindlicherklärung der
Vorruhestandstarifverträge im Baugewerbe).
894
Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 11; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 12 f.; Wiedemann/Wank,
TVG, § 5 Rn. 3a, 73; Wiedemann, RdA 1987, 262, 266.
895
Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 11; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 13.
896
Zur Allgemeinverbindlicherklärung von Versorgungstarifverträgen vgl. allgemein schon oben
Kap. 1 B IV 2 b cc, S. 51 f.
231
d) Kein Schutz von Wettbewerbsinteressen
Fraglich ist, ob neben den bereits genannten Gesichtspunkten auch Wettbewerbsinteressen in die Abwägung einzustellen sind. Werden mit dem ablösenden Versorgungstarifvertrag zugleich die von den Arbeitgebern an die Zusatzversorgungseinrichtung abzuführenden Beiträge gesenkt, müssen nichtorganisierte Arbeitgeber,
wenn der ablösende Versorgungstarifvertrag nicht für allgemeinverbindlich erklärt
wird, Wettbewerbsnachteile gegenüber organisierten Arbeitgebern fürchten, da für
sie weiterhin die bisherigen (höheren) Beitragssätze gelten.
Ob die Allgemeinverbindlicherklärung neben dem Arbeitnehmerschutz und der
Ermöglichung gemeinsamer Einrichtungen auch eine wettbewerbslenkende Funktion hat, ist umstritten.897 Nach zutreffender Ansicht sind Wettbewerbsgesichtspunkte
bei der Entscheidung über die Allgemeinverbindlicherklärung nicht zu berücksichtigen. Das TVG ist ein arbeitsrechtliches Gesetz, das dem Arbeitnehmerschutz und
nicht der Herstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen für Arbeitgeber dient.898
Dass die Allgemeinverbindlicherklärung im Anwendungsbereich des Tarifvertrags
gleiche Arbeitsbedingungen herstellt und dadurch den Außenseiterwettbewerb unterbindet, ist ein Reflex der Allgemeinverbindlicherklärung, der deren arbeitnehmerschützenden Zweck unberührt lässt. Das Ziel, durch eine Allgemeinverbindlicherklärung Wettbewerbsvorteile zu vermeiden, darf zur Begründung eines öffentlichen
Interesses folglich nicht herangezogen werden. Dementsprechend ist das Interesse
der nichtorganisierten Arbeitgeber an der Allgemeinverbindlicherklärung eines
ablösenden Versorgungstarifvertrags insoweit nicht berücksichtigungsfähig, als sie
Kosten einsparen und dadurch Wettbewerbsnachteile vermeiden wollen.
e) Zwischenergebnis
In die Abwägung einzubeziehen sind nach alledem das Interesse der Tarifvertragsparteien, der organisierten Arbeitnehmer und der nichtorganisierten Arbeitgeber an
einer Allgemeinverbindlicherklärung des ablösenden Versorgungstarifvertrags.
Überwiegen diese das Interesse der nichtorganisierten Arbeitnehmer, von Kürzungen ihrer Versorgungsleistungen verschont zu bleiben, besteht ein öffentliches Inte-
897
Für eine wettbewerbslenkende Funktion BVerwG 3.11.1988, E 80, 355, 366 f.; Ansey/-
Koberski, AuR 1987, 230, 232 f.; Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 7; Gamillscheg, KollArbR,
Bd. I, S. 885 f.; Wiedemann/Wank, TVG, § 5 Rn. 5; Wiedemann, RdA 1987, 262, 265;
Wonneberger, Funktionen, S. 83 f.; Zachert, NZA 2003, 132 f.; gegen die Berücksichtigung
von Wettbewerbsinteressen BAG 24.1.1979, AP TVG § 5 Nr. 16; BAG 4.5.1977, AP TVG
§ 1 Tarifverträge: Bau Nr. 30 (vgl. aber auch BAG 28.3.1990, AP TVG § 5 Nr. 25, wo das
Gericht die Allgemeinverbindlicherklärung eines Versorgungstarifvertrags auch mit Wettbewerbsgesichtspunkten begründet); BGH 3.12.1992, AP UnlWG § 1 Nr. 10 (II 3 a); Buchner,
ZfA 2004, 229, 235 f.; ErfK/Franzen, § 5 TVG Rn. 2; v. Hoyningen-Huene, BB 1986, 1909,
1910; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 7 f.; Schaub/Schaub, ArbRHdb, § 207 Rn. 10.
898
ErfK/Franzen, § 5 TVG Rn. 2; v. Hoyningen-Huene, BB 1986, 1909, 1910.
232
resse an der Allgemeinverbindlicherklärung. Wettbewerbliche Gesichtspunkte sind
nicht zu berücksichtigen.
3. Grenzen der Allgemeinverbindlicherklärung
Bei der Entscheidung darüber, ob die Allgemeinverbindlicherklärung des ablösenden Versorgungstarifvertrags im öffentlichen Interesse geboten erscheint, steht dem
zuständigen Bundesministerium nach ganz überwiegender Ansicht ein Beurteilungsspielraum zu.899 Das trifft, wie bereits der Wortlaut des § 5 Abs. 1 Nr. 2 TVG verdeutlicht, zu. Danach ist nicht erforderlich, dass eine Allgemeinverbindlicherklärung
im öffentlichen Interesse geboten „ist“, sondern dass sie „geboten erscheint“.900
Wegen der verfahrensrechtlichen Absicherung der Entscheidung stößt die Anerkennung eines Beurteilungsspielraums auch nicht auf rechtsstaatliche Bedenken.901 Die
Entscheidung des Bundesministeriums ist nach § 5 Abs. 1 TVG im Einvernehmen
mit dem Tarifausschuss zu treffen und ergeht gemäß § 5 Abs. 2 TVG erst, nachdem
den von der Allgemeinverbindlicherklärung Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde. Dadurch ist gewährleistet, dass das zuständige Ministerium
eine sachgerechte Entscheidung treffen kann. Die Möglichkeit, die Entscheidung
gerichtlich überprüfen zu lassen, bleibt den von der Allgemeinverbindlicherklärung
Betroffenen unbenommen.
Die vom Bundesministerium getroffene Abwägungsentscheidung ist daher gerichtlich nur auf „wesentliche Fehler“ überprüfbar.902 Dem Bundesministerium steht
somit ein weites normatives Ermessen zu, dessen rechtliche Grenzen erst dann überschritten sind, „wenn die getroffene Entscheidung in Anbetracht des Zwecks der
Ermächtigung in § 5 TVG und der hiernach zu berücksichtigenden öffentlichen und
privaten Interessen – einschließlich der Interessen der Tarifvertragsparteien –
899
BVerfG 10.9.1991, AP TVG § 5 Nr. 27 (3 a); BVerfG 24.5.1977, E 44, 322, 344; BVerwG
3.11.1988, E 80, 355, 369 f.; BAG 28.3.1990, AP TVG § 5 Nr. 25; Aigner, DB 1994, 2545,
2546; Ansey/Koberski, AuR 1987, 230, 232; Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 94 f.;
ErfK/Franzen, § 5 TVG Rn. 13; Kempen/Zachert/Kempen, TVG, § 5 Rn. 31; Lakies, AR-
Blattei SD 1550.10 Rn. 73; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 96; Otto/Schwarze, ZfA 1995, 639,
695; Schaub/Schaub, ArbRHdb, § 207 Rn. 10; Wiedemann/Wank, TVG, § 5 Rn. 70; Zachert,
NZA 2003, 132, 136; a.A. Gamillscheg, KollArbR, Bd. I, S. 894 ff.; v. Hoyningen-Huene, BB
1986, 1909, 1913.
900
BAG 28.3.1990, AP TVG § 5 Nr. 25; Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 96; ders., AR-Blattei SD
1550.10 Rn. 74; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 45; Wiedemann, RdA 1987, 262, 265.
901
So aber – unter Hinweis auf das Verwaltungsprozessrecht – v. Hoyningen-Huene, BB 1986,
1909, 1913; wie hier BAG 28.3.1990, AP TVG § 5 Nr. 25; BAG 15.2.1989, Az. 4 AZR
499/88, n.v.; BAG 12.10.1988, ZTR 1989, 108; Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 96; Lakies,
AR-Blattei SD 1550.10 Rn. 74; Wiedemann, RdA 1987, 262, 267.
902
BAG 28.3.1990, AP TVG § 5 Nr. 25; BAG 24.1.1979, AP TVG § 5 Nr. 16; BAG 11.6.1975,
AP TVG § 2 Nr. 29 (II 1).
233
schlechthin unvertretbar oder unverhältnismäßig ist“903. Der Beurteilungsspielraum
ist demnach durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzt. Es ist folglich – auf
die vorliegende Fallgestaltung übertragen – zu fragen, ob die Allgemeinverbindlicherklärung eines ablösenden Versorgungstarifvertrags in unverhältnismäßiger Weise
in das Interesse der nichtorganisierten Arbeitnehmer an einer Aufrechterhaltung
ihrer Versorgungsrechte eingreift. Dabei soll, ähnlich wie bei der Ermittlung der
Grenzen einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme, insbesondere geprüft werden, ob
ein ablösender Versorgungstarifvertrag, der den für tarifgebundene Arbeitnehmer
geltenden Grenzen genügt, stets auch für allgemeinverbindlich erklärt werden kann.
Es fragt sich also, ob im Ergebnis, trotz Anwendung unterschiedlicher Rechtsprinzipien, für tarifgebundene Arbeitnehmer und Außenseiter die gleichen Grenzen gelten.
a) Verhältnismäßigkeit der Abwägungsentscheidung
Die vom Bundesministerium getroffene Abwägungsentscheidung ist verhältnismä-
ßig, wenn der durch die Allgemeinverbindlicherklärung des ablösenden Versorgungstarifvertrags bewirkte Eingriff in die Versorgungsrechte der nichtorganisierten
Arbeitnehmer im Hinblick auf das mit der Allgemeinverbindlicherklärung verfolgte
Ziel geeignet, erforderlich und angemessen ist.
aa) Ziel, Geeignetheit, Erforderlichkeit
Ziel der Allgemeinverbindlicherklärung ist es regelmäßig, die Versorgungsleistungen auch der nichtorganisierten Arbeitnehmer herabzusetzen, um (durch Änderungen der Rechtslage, höhere Lebenserwartung, etc.) gestiegene Kosten des Zusatzversorgungssystems auf ein erträgliches Maß zurückzuführen und so dessen Fortbestand zu sichern. Darüber hinaus wird das Bundesministerium mit der
Allgemeinverbindlicherklärung häufig auch das Ziel verfolgen, nichtorganisierte
und organisierte Arbeitnehmer gleich zu behandeln sowie die nichtorganisierten
Arbeitgeber zu entlasten; zur Erreichung dieser Ziele ist die Allgemeinverbindlicherklärung geeignet. Ebenfalls denkbar ist zwar, dass mit der Allgemeinverbindlicherklärung Überversorgungen der nichtorganisierten Arbeitnehmer abgebaut werden
sollen. Dies ist aber, da in der Privatwirtschaft – soweit ersichtlich – keine Gesamtversorgungssysteme auf tariflicher Grundlage (mehr) bestehen, nicht von praktischer
Relevanz.904
903
BVerwG 3.11.1988, E 80, 355, 370; zustimmend BAG 28.3.1990, AP TVG § 5 Nr. 25; Aigner, DB 1994, 2545, 2546; Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 94; ErfK/Franzen, § 5 TVG
Rn. 15 ff.; Kempen/Zachert/Kempen, TVG, § 5 Rn. 32; Lakies, AR-Blattei SD 1550.10
Rn. 73; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 55, 111; Otto/Schwarze, ZfA 1995, 639, 695.
904
Gegen die Allgemeinverbindlicherklärung dürften allerdings keine Bedenken sprechen; der
Abbau von Überversorgungen ist in aller Regel unproblematisch möglich, vgl. etwa BAG
234
Die Allgemeinverbindlicherklärung des ablösenden Versorgungstarifvertrags ist
des Weiteren erforderlich, wenn sie das mildeste, zur Zielerreichung geeignete Mittel darstellt. Dem Bundesministerium stehen in aller Regel keine milderen Mittel zur
Verfügung, da es den Tarifinhalt nicht abändern darf.905 Auch eine teilweise Allgemeinverbindlicherklärung, die nach h.M. zulässig sein soll,906 scheidet im Ergebnis
aus. Die in einem ablösenden Versorgungstarifvertrag enthaltenen Versorgungsregelungen stehen in einem inneren sachlichen Zusammenhang, bilden also einen einheitlichen Regelungskomplex, der nicht sinnvoll aufteilbar ist.
Auch den Tarifvertragsparteien werden regelmäßig keine milderen Mittel zur
Verfügung stehen. Der Einsparbedarf ist regelmäßig durch die wirtschaftliche Lage
der gemeinsamen Einrichtung vorgegeben. Geringfügigere Kürzungen der Versorgungsrechte scheiden meist aus: Sie wären nicht in demselben Maße geeignet, den
Fortbestand des Versorgungssystems zu sichern. Auch die Vereinbarung geringerer
Leistungskürzungen für nichtorganisierte Arbeitnehmer kommt, da so unterschiedliche Leistungsbedingungen geschaffen würden, nicht in Frage.
Die Allgemeinverbindlicherklärung eines ablösenden Versorgungstarifvertrags,
der zulässigerweise in die Versorgungsrechte tarifgebundener Arbeitnehmer eingreift, ist demgemäß grundsätzlich geeignet und erforderlich, um die mit der Allgemeinverbindlicherklärung verfolgten Interessen der Tarifvertragsparteien, der organisierten Arbeitnehmer und der nichtorganisierten Arbeitgeber zu verwirklichen.
Entscheidend ist aber, ob die Allgemeinverbindlicherklärung darüber hinaus auch
angemessen ist.
bb) Angemessenheit
Gelten für die Allgemeinverbindlicherklärung ablösender Versorgungstarifverträge
im Ergebnis dieselben Grenzen wie für deren Anwendung gegenüber organisierten
Arbeitnehmern, wird dadurch die privatautonome Entscheidung der nichtorganisierten Arbeitnehmer missachtet, der Gewerkschaft nicht beizutreten. Diese haben die
Tätigkeit der Gewerkschaft nicht legitimiert. Sie können – mangels Mitgliedschaft –
auch keinen Einfluss auf die Willensbildung der Gewerkschaft nehmen, insbesondere nicht darauf hinwirken, dass die Gewerkschaft den ablösenden Versorgungstarifvertrag nicht oder zumindest mit einem anderen Inhalt abschließt. Da sich die Geltung des ablösenden Versorgungstarifvertrags somit nicht auf ihren Willen zurück-
19.11.2002, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 40 (B I 3 c aa); BAG 20.2.2001, EzA BetrAVG
§ 1 Ablösung Nr. 24 (I 2 a).
905
Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 170; Gamillscheg, KollArbR, Bd. I, S. 890; Wiedemann/Wank,
TVG, § 5 Rn. 56; Wiedemann, RdA 1987, 262, 267.
906
Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 170 f.; ErfK/Franzen, § 5 TVG Rn. 8; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II/1, S. 674; Kempen/Zachert/Kempen, TVG, § 5 Rn. 24; Löwisch/Rieble,
TVG, § 5 Rn. 25 ff.; a.A. OVG Münster 23.9.1983, BB 1984, 723; H/W/K/Henssler, § 5 TVG
Rn. 8; Wiedemann/Wank, TVG, § 5 Rn. 57 ff.; kritisch auch Gamillscheg, KollArbR, Bd. I,
S. 891 f.
235
führen lässt, wirkt dieser für sie fremdbestimmend. Das erfordert einen grundsätzlich höheren Schutz. Der Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung, nichtorganisierte Arbeitnehmer zu schützen, weist in dieselbe Richtung. Daher spricht auf den
ersten Blick einiges dafür, dass ein ablösender Versorgungstarifvertrag, der gegen-
über den organisierten Arbeitnehmer wirksam ist, die nichtorganisierten Arbeitnehmer unangemessen benachteiligen kann und daher nicht für allgemeinverbindlich
erklärt werden darf.
Andererseits ist es nicht sachgerecht, den ablösenden Versorgungstarifvertrag isoliert zu betrachten. Dieser muss im Zusammenhang mit den ihm vorangegangenen
Versorgungstarifverträgen gesehen werden. Wären diese nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden, stünden den nichtorganisierten Arbeitnehmer (da grundsätzlich
kein Anspruch auf eine arbeitgeberfinanzierte betriebliche Altersversorgung besteht)
überhaupt keine Versorgungsrechte zu. Die Allgemeinverbindlicherklärung des
ablösenden Versorgungstarifvertrags nimmt ihnen also nur Rechte, die durch den
vorangegangenen (ebenfalls für allgemeinverbindlich erklärten) Versorgungstarifvertrag begründet wurden; eine darüber hinausgehende Verpflichtung begründet sie
nicht. Dass durch die Allgemeinverbindlicherklärung eines ablösenden Versorgungstarifvertrags in die Versorgungsrechte der nichtorganisierten Arbeitnehmer in
demselben Maße wie in diejenigen organisierter Arbeitnehmer eingegriffen wird,
erscheint unter diesem Blickwinkel nicht unangemessen.
Für diese Sichtweise spricht weiterhin, dass ansonsten ein Wertungswiderspruch
entstünde: Wären der Allgemeinverbindlicherklärung eines ablösenden Versorgungstarifvertrag engere Grenzen gesetzt, als sie die Tarifvertragsparteien im Verhältnis zu den tarifgebundenen Arbeitnehmern zu beachten haben, würden die nichtorganisierten Arbeitnehmer besser als die organisierten Arbeitnehmer gestellt, da
ihnen die zugesagten Versorgungsrechte schwerer wieder entzogen werden könnten.
Zweck des § 5 Abs. 1 TVG ist es aber nur, die nichtorganisierten Arbeitnehmer den
organisierten gleichzustellen. Diese von § 5 Abs. 1 TVG nicht bezweckte Schieflage
würde noch verstärkt, da – bei einem vorgegebenen Einsparbedarf – die Versorgungsleistungen der organisierten Arbeitnehmer umso stärker gekürzt werden müssten. Die nichtorganisierten Arbeitnehmer können nicht erwarten, besser als die organisierten Arbeitnehmer gestellt zu werden.
Auch der Blick auf die nichtorganisierten Arbeitgeber verdeutlicht, dass die Annahme eines gleichen Schutzes vor ablösenden Versorgungstarifverträgen die nichtorganisierten Arbeitnehmer nicht unangemessen benachteiligt. Wird ein Tarifvertrag
für allgemeinverbindlich erklärt, der Arbeitgeber verpflichtet, zur Finanzierung von
Versorgungsleistungen Beiträge an eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien abzuführen, wird in die negative Koalitionsfreiheit der nichtorganisierten
Arbeitgeber eingegriffen. Im Regelfall ist der durch die Allgemeinverbindlicherklärung entstehende Beitrittsdruck allerdings nicht so erheblich, dass die negative Koalitionsfreiheit durch die Allgemeinverbindlicherklärung auch verletzt wäre.907 Unter-
907
Vgl. BVerfG 10.9.1991, AP TVG § 5 Nr. 27 (2); BVerfG 15.7.1980, E 55, 7, 22; BAG
28.3.1990, AP TVG § 5 Nr. 25; Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 38; ders., AR-Blattei SD
236
läge die Allgemeinverbindlicherklärung ablösender Versorgungstarifverträge aber
engeren Schranken, als sie im Verhältnis zu den organisierten Arbeitgebern gelten,
und könnte der ablösende Versorgungstarifvertrag deswegen nicht für allgemeinverbindlich erklärt werden, würde der auf die nichtorganisierten Arbeitgeber einwirkende Beitrittsdruck noch um ein Vielfaches verstärkt. Sie müssten dem Arbeitgeberverband beitreten, damit der ablösende Versorgungstarifvertrag ihnen gegenüber
überhaupt wirksam wird. Ob der dadurch auf sie ausgeübte Beitrittsdruck noch mit
der negativen Koalitionsfreiheit vereinbar wäre, erscheint fraglich.
Der fehlende Verbandsbeitritt und die damit verbundene fehlende Möglichkeit
zur Einflussnahme auf die Tarifpolitik steht der Annahme gleicher Schranken für
organisierte und nichtorganisierte Arbeitnehmer bei näherer Betrachtung ebenfalls
nicht entgegen. Zum einen haben auch die Gewerkschaftsmitglieder nur eine begrenzte Möglichkeit, auf die tarifpolitische Willensbildung Einfluss zu nehmen.908
Zum anderen kann angenommen werden, dass, jedenfalls bei wie hier strukturell
gleichgelagerten Interessen der organisierten und der nichtorganisierten Arbeitnehmer, die Tätigkeit der Gewerkschaft im Ergebnis auch den Außenseitern zugute
kommt.909
cc) Zwischenergebnis
Erklärt das zuständige Bundesministerium auf Antrag einer der Tarifvertragsparteien
einen ablösenden Versorgungstarifvertrag für allgemeinverbindlich, der die Versorgungsrechte organisierter Arbeitnehmer wirksam herabsetzt, ist dies unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nicht zu beanstanden. Mit der Allgemeinverbindlicherklärung wird in diesem Fall nicht unverhältnismäßig in die Versorgungsrechte der
nichtorganisierten Arbeitnehmer eingegriffen.
b) Vertrauensschutz
Neben dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist das die Allgemeinverbindlichkeit
aussprechende Bundesministerium auch verpflichtet, das in den Fortbestand der
tariflichen Versorgungsrechte gesetzte Vertrauen der nichtorganisierten Arbeitneh-
1550.10 Rn. 36; Maunz/Dürig/Scholz, GG, Bd. 2, Art. 9 Rn. 238; Wiedemann/Wank, TVG,
§ 5 Rn. 23.
908
Zur begrenzten Einflussnahmemöglichkeit der Gewerkschaftsmitglieder oben Kap. 4 D III 4 b
aa (3), S. 200 f.
909
BVerfG 15.7.1980, E 55, 7, 22; BAG 28.3.1990, AP TVG § 5 Nr. 25; Däubler/Lakies, TVG,
§ 5 Rn. 38; ders., AR-Blattei SD 1550.10 Rn. 36; Singer, ZfA 1995, 611, 630; vgl. auch
BVerfG 10.9.1991, AP TVG § 5 Nr. 27 (3 c).
237
mer zu beachten. Dies ergibt sich zum einen aus seiner Grundrechtsbindung (Art. 1
Abs. 3 GG), zum anderen aus seiner Verpflichtung auf das Rechtsstaatsprinzip.910
Das Maß des Vertrauensschutzes bestimmt sich dabei nach herrschender Ansicht
nach der vom BVerfG entwickelten Rückwirkungslehre.911 In der Auslegung des
BAG folgt daraus, dass einerseits Eingriffe in bereits entstandene Versorgungsansprüche echte Rückwirkung entfalten und damit grundsätzlich unzulässig sind, andererseits Eingriffe in erdiente Versorgungsanwartschaften und zugesagte, aber noch
nicht erdiente Versorgungsrechte nur unecht rückwirken und damit grundsätzlich
zulässig sind.912 Auf die gegen diese Auffassung sprechenden Gesichtspunkte wurde
bereits hingewiesen. Sie ist zu eng, da sie die Vertrauensperspektive des vom ablösenden Versorgungstarifvertrag betroffenen Arbeitnehmers vernachlässigt. Eine
echte Rückwirkung ist daher nicht nur anzunehmen, wenn in den Versorgungsanspruch eingegriffen wird, sondern bereits dann, wenn in erdiente Versorgungsrechte,
d.h. in Versorgungsansprüche und erdiente Versorgungsanwartschaften, eingegriffen
wird.913
Das BVerfG hat fünf Fallgruppen gebildet, in denen das Vertrauen trotz echter
Rückwirkung nicht schützenswert ist. Zu diesen zählt etwa der Fall, dass die Betroffenen mit einer rückwirkenden Änderung rechnen mussten oder zwingende Gründe
des Gemeinwohls eine Rückwirkung erfordern.914 Allerdings dürfen diese Rechtfertigungsgründe nicht schematisch angewandt werden; die individuelle Vertrauensperspektive der betroffenen nichtorganisierten Arbeitnehmer ist stets mitzuberücksichtigen.915 Ihr Vertrauen, eine ihnen zugesagte und bereits erdiente Versorgungsleistung werde ihnen nicht rückwirkend entzogen, mag zwar besonders schützenswert
sein. Ob sie auch darauf vertrauen durften, im Ablösungsfall von rückwirkenden
Herabsetzungen ihrer Versorgungsleistungen weiter gehend verschont zu bleiben als
organisierte Arbeitnehmer, ist hingegen mehr als zweifelhaft. Hiergegen spricht vor
allem der Zweck des § 5 Abs. 1 TVG, der nur auf eine Gleichstellung der nichtorganisierten Arbeitnehmer gerichtet ist. Eine Besserstellung dürfen sie nicht erwarten;
ein diesbezügliches Vertrauen ist nicht schutzwürdig.
Das Vertrauen der nichtorganisierten Arbeitnehmer in die Aufrechterhaltung ihrer
Versorgungsrechte ist damit nicht schutzwürdiger als das der organisierten Arbeitnehmer. Genügt der ablösende Versorgungstarifvertrag den gegenüber gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern geltenden Grenzen, ist seine Allgemeinverbindlicherklärung mit dem Vertrauen der nichtorganisierten Arbeitnehmer vereinbar.
910
Zur Herleitung des Vertrauensschutzprinzips vgl. bereits oben Kap. 3 F II 3, S. 168 f.
911
BAG 25.9.1996, AP TVG § 5 Nr. 30 (I 2.6.1); BAG 3.11.1982, AP TVG § 5 Nr. 18; Däubler/-
Lakies, TVG, § 5 Rn. 181; ErfK/Franzen, § 5 TVG Rn. 16; Lakies, AR-Blattei SD 1550.10
Rn. 155 f.; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 52 ff., 54.
912
BAG 13.12.2005, AP BetrAVG § 2 Nr. 49 (III 2 b); BAG 19.12.2002, AP BetrAVG § 1
Ablösung Nr. 40 (B I 3 c dd).
913
Ausführlich hierzu oben Kap. 3 F II 2 b, S. 165 ff.
914
BVerfG 23.11.1999, E 101, 239, 263 f.; BVerfG 23.3.1971, E 30, 367, 387 ff.; BVerfG
19.12.1961, E 13, 261, 272.
915
Oben Kap. 3 F II 2 b, S. 165 ff.
238
4. Ergebnis
Die Allgemeinverbindlicherklärung eines ablösenden Versorgungstarifvertrags, der
mit den Rechten der gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer vereinbar ist, verstößt
nicht gegen Rechtspositionen der nichtorganisierten Arbeitnehmer. Zwar finden auf
die Allgemeinverbindlicherklärung andere Rechtsgrundsätze Anwendung, diese
gebieten aber keinen weiter gehenden Schutz gegenüber ablösenden Versorgungstarifverträgen. Für organisierte und nichtorganisierte Arbeitnehmer gelten damit im
Ergebnis dieselben – oben in Kapitel 4 F, S. 218 f. angeführten – Grenzen.
C. Schutz ehemaliger Gewerkschaftsmitglieder
Ein im Ausgangspunkt anderes Bild als bei beiderseitiger Tarifgebundenheit von
Arbeitgeber und Arbeitnehmer ergibt sich auch bei vorzeitig, d.h. vor Inkrafttreten
des ablösenden Versorgungstarifvertrags aus der Gewerkschaft ausgetretenen Arbeitnehmern. Der Austritt nimmt der Gewerkschaft als actus contrarius zum Beitritt
die privatautonome Legitimation. Zwar bleiben die ausgetretenen Arbeitnehmer
nach § 3 Abs. 3 TVG an die im Zeitpunkt ihres Austritts geltenden Tarifverträge
gebunden; das gilt aber grundsätzlich nicht für einen nach ihrem Ausscheiden neu in
Kraft tretenden Tarifvertrag. Insofern unterscheiden sich ausgetretene Arbeitnehmer
nicht von anderen nichtorganisierten Arbeitnehmern.
Dass ablösende Versorgungstarifverträge dennoch für ausgetretene Arbeitnehmer
und Ruheständler gelten, folgt (wenn ihr Arbeitsvertrag nicht ohnehin eine dynamische Bezugnahmeklausel enthielt oder der ablösende Versorgungstarifvertrag für
allgemeinverbindlich erklärt wurde) aus § 17 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 2 Abs. 5
BetrAVG. Indem der Gesetzgeber die in § 2 Abs. 5 BetrAVG enthaltene Veränderungssperre in § 17 Abs. 3 BetrAVG für tarifdispositiv erklärt, erweitert er die tarifliche Normsetzungsbefugnis auch auf ausgetretene Arbeitnehmer und Ruheständler.916 Grundlage der tariflichen Normsetzungsbefugnis ist insofern nicht der privatautonome Verbandsbeitritt, sondern die gesetzlich in § 17 Abs. 3 BetrAVG
getroffene Anordnung. Daraus folgt, dass (ebenso wie bei der Allgemeinverbindlicherklärung ablösender Versorgungstarifverträge) der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und (mit den dargestellten Einschränkungen) die Rückwirkungslehre des
BVerfG gelten. Allerdings ergeben sich gegenüber der Allgemeinverbindlicherklärung keine weiter gehenden Gesichtspunkte, ehemalige Gewerkschaftsmitglieder
sind insbesondere nicht schutzwürdiger als andere nichtorganisierte Arbeitnehmer.
Demgemäß haben die Tarifvertragsparteien auch gegenüber ehemaligen Gewerkschaftsmitgliedern die oben in Kapitel 4 F, S. 218 f. dargestellten Grenzen zu beachten.
916
Oben Kap. 2 B II 4, S. 93 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die gesetzliche Rente ist längst nicht mehr sicher. Schutz gegen drohende Versorgungslücken bieten Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung. Neben betriebsbezogenen Versorgungssystemen gewinnen in der Praxis auch solche auf tariflicher Grundlage zunehmend an Bedeutung. Doch wie verhält sich ein solches System im Krisenfall? In welchem Umfang sind Eingriffe in Versorgungsrechte zur Rettung von Unternehmen möglich?
Diesen in Literatur und Rechtsprechung umstrittenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Untersucht wird, ob die vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Drei-Stufen-Theorie auf ablösende Versorgungstarifverträge übertragbar ist und welche Bedeutung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vertrauensschutzgesichtspunkte haben. Auf der Grundlage staatlicher Schutzpflichten entwickelt der Autor ein eigenes Lösungsmodell.
Das Werk wurde mit dem Südwestmetall-Föderpreis 2008 ausgezeichnet.