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B. Schutz der nichtorganisierten Arbeitnehmer vor einer Allgemeinverbindlicherklärung des ablösenden Versorgungstarifvertrags
I. Ausgangslage
Wird ein Versorgungstarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt, erstreckt sich die
Normwirkung nach § 5 Abs. 4 TVG auch auf die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Im Unterschied zum staatlichen Geltungsbefehl in § 4
Abs. 1 TVG, der die privatautonom begründete Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien im Verhältnis zu ihren Mitgliedern lediglich umsetzt,879 ist die Allgemeinverbindlicherklärung selbst der die Rechtsetzung legitimierende Akt. Der Staat
nimmt die Tarifnormen mit der Allgemeinverbindlicherklärung in seinen Willen auf
und legitimiert so die Rechtsnormerstreckung auf die nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.880 Das die Allgemeinverbindlicherklärung erklärende
Bundesministerium ist unmittelbar an Grundrechte und das Rechtsstaatsprinzip
gebunden.881 Es darf damit einen ablösenden Versorgungstarifvertrag, der unverhältnismäßig in grundrechtlich geschützte Besitzstände eingreifen würde oder mit
der vom BVerfG entwickelten Rückwirkungslehre nicht vereinbar ist, nicht für allgemeinverbindlich erklären. Eine gleichwohl ausgesprochene Allgemeinverbindlichkeit verstieße gegen höherrangiges Recht und wäre nichtig.
Die Wirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung beurteilt sich folglich nach
anderen rechtlichen Maßstäben als ein Tarifvertrag, der kraft beiderseitiger Tarifbindung oder vertraglicher Bezugnahme gilt. Durch die Allgemeinverbindlicherklärung bewirkte Eingriffe in Versorgungsrechte der nichtorganisierten Arbeitnehmer
sind nur rechtmäßig, wenn sie verhältnismäßig sind und nicht unzulässig rückwirken; es gelten damit grundsätzlich strengere Rechtmäßigkeitsanforderungen. Für
ablösende Versorgungstarifverträge gelten jedoch – wie bereits die Ausführungen
zur vertraglichen Inbezugnahme gezeigt haben882 – einige Besonderheiten, die eine
vom Normalfall abweichende Betrachtung rechtfertigen können. Auszugehen ist von
§ 5 Abs. 1 TVG, der die Allgemeinverbindlicherklärung insbesondere vom Bestehen
eines „öffentlichen Interesses“ abhängig macht; die in § 5 Abs. 1 TVG genannten
weiteren Voraussetzungen (50-Prozent-Klausel, Antrag) werden dagegen regelmä-
ßig erfüllt sein.
879
Zum staatlichen Geltungsbefehl oben Kap. 1 B III 3, S. 43 f.
880
BVerfG 24.5.1977, E 44, 322, 348 f.; Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 41; ErfK/Franzen, § 5
TVG Rn. 1; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 16.
881
Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 41, 160; ErfK/Franzen, § 5 TVG Rn. 15 ff.; Löwisch/Rieble,
TVG, § 5 Rn. 52, 57.
882
Oben A, S. 220 ff.
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II. Bestehen eines „öffentlichen Interesses“ an der Allgemeinverbindlicherklärung
ablösender Versorgungstarifverträge
1. Unbestimmter Rechtsbegriff
Der Begriff des „öffentlichen Interesses“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der
sich angesichts der Vielzahl möglicher Fallgestaltungen kaum allgemeingültig definieren lässt und daher für jeden Einzelfall gesondert zu konkretisieren ist.883 Dafür
sind die unterschiedlichen Interessen der durch die Allgemeinverbindlicherklärung
betroffenen Gruppen gegeneinander abzuwägen und zum Ausgleich zu bringen;
neben dem Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung müssen dabei auch verfassungsrechtliche Wertentscheidungen berücksichtigt werden.884
2. Kriterien der Interessenabwägung
a) Grundlagen
In die Interessenabwägung dürfen nur diejenigen Belange eingestellt werden, die
dem Schutzzweck der Allgemeinverbindlicherklärung entsprechen.885 Außerhalb des
Schutzzwecks liegende allgemeine Interessen der Öffentlichkeit, beispielsweise an
einer Förderung des Wirtschaftsstandorts Deutschlands oder der Verringerung der
Arbeitslosigkeit, können durch die Allgemeinverbindlicherklärung zwar mittelbar
gefördert werden, vermögen für sich genommen aber noch kein öffentliches Interesse zu begründen.
b) Interesse der Außenseiter
Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung ist zum einen, angemessene Arbeitsbedingungen auch für nichtorganisierte Arbeitnehmer sicherzustellen. Die in § 5 TVG
vorgesehene Möglichkeit, einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären,
zieht die Konsequenz daraus, dass tarifliche Arbeitsbedingungen unmittelbar und
zwingend nur für organisierte Arbeitnehmer gelten, angesichts der wirtschaftlichen
Überlegenheit des Arbeitgebers aber auch ein Bedürfnis nach der Einbeziehung der
nichtorganisierten Arbeitnehmer in den tariflich geschaffenen Schutz besteht. Die
883
Ansey/Koberski, AuR 1987, 230, 232 f.; v. Hoyningen-Huene, BB 1986, 1909, 1910;
Wiedemann/Wank, TVG, § 5 Rn. 68; Wonneberger, Funktionen, S. 69 f.
884
V. Hoyningen-Huene, BB 1986, 1909, 1910.
885
BAG 28.3.1990, AP TVG § 5 Nr. 25; Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 155; ErfK/Franzen, § 5
TVG Rn. 12; Gamillscheg, KollArbR, Bd. I, S. 884; Lakies, AR-Blattei SD 1550.10 Rn. 117;
Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 99; im Grundsatz auch BVerwG 3.11.1988, E 80, 355, 367.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die gesetzliche Rente ist längst nicht mehr sicher. Schutz gegen drohende Versorgungslücken bieten Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung. Neben betriebsbezogenen Versorgungssystemen gewinnen in der Praxis auch solche auf tariflicher Grundlage zunehmend an Bedeutung. Doch wie verhält sich ein solches System im Krisenfall? In welchem Umfang sind Eingriffe in Versorgungsrechte zur Rettung von Unternehmen möglich?
Diesen in Literatur und Rechtsprechung umstrittenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Untersucht wird, ob die vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Drei-Stufen-Theorie auf ablösende Versorgungstarifverträge übertragbar ist und welche Bedeutung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vertrauensschutzgesichtspunkte haben. Auf der Grundlage staatlicher Schutzpflichten entwickelt der Autor ein eigenes Lösungsmodell.
Das Werk wurde mit dem Südwestmetall-Föderpreis 2008 ausgezeichnet.