226
Zusatzversorgungseinrichtung zu versichern, bei der ihr Arbeitgeber Mitglied/Beteiligter ist. Damit profitieren auch die nichtorganisierten Arbeitnehmer
unmittelbar von der Tätigkeit der Tarifvertragsparteien. Ihr Arbeitgeber ist (sofern er
selbst Tarifvertragspartei ist, schuldrechtlich, ansonsten mitgliedschaftlich) verpflichtet, die nichtorganisierten Arbeitnehmer bei der Zusatzversorgungseinrichtung
zu versichern, ihnen also (als Gegenleistung für die gezeigte Betriebstreue) Versorgungsleistungen zukommen zu lassen; diese Verpflichtung wird durch die dynamische Bezugnahme im Verhältnis zum Arbeitnehmer umgesetzt. Es wäre wertungswidersprüchlich, wenn die nichtorganisierten Arbeitnehmer einerseits von der Tätigkeit der Tarifvertragsparteien profitieren, sie andererseits aber besser als
organisierte Arbeitnehmer gegen den Abbau von Versorgungsleistungen geschützt
sind.876 Eine derartige Besserstellung können sie billigerweise nicht erwarten. Sie ist
auch nicht erforderlich: Kommt es den Tarifvertragsparteien – wie denen des öffentlichen Dienstes – gerade auf die Einbeziehung der nichtorganisierten Arbeitnehmer
in ein von ihnen getragenes tarifliches Versorgungssystem an, ist gewährleistet, dass
deren Interessen angemessen berücksichtigt werden. Insofern erstreckt sich die tarifliche Richtigkeitsgewähr also auch auf Außenseiter.877
Daher spricht Entscheidendes dafür, nichtorganisierte Arbeitnehmer, deren Arbeitsvertrag auf das tarifliche Versorgungswerk verweist, nicht nur bei der Ausgestaltung von Versorgungszusagen den tarifgebundenen Arbeitnehmern gleichzustellen (wie von § 17 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 BetrAVG vorgesehen), sondern auch
beim nachträglichen Eingriff.878 Eine nicht mehr hinnehmbare Tarifänderung, die
den Überraschungsschutz nach § 305c Abs. 1 BGB auslöst, liegt folglich nur dann
vor, wenn der ablösende Versorgungstarifvertrag die für tarifgebundene Arbeitnehmer geltenden Grenzen überschreitet.
III. Ergebnis
Die tatsächlichen Grenzen ablösender Versorgungstarifverträge sind im Fall beiderseitiger Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer und im Fall einer
arbeitsvertraglichen Bezugnahme gleich. Für nichtorganisierte Arbeitnehmer, deren
Arbeitsvertrag auf den jeweils geltenden Versorgungstarifvertrag dynamisch verweist, besteht also kein gegenüber organisierten Arbeitnehmern weiter gehender
Schutz. Es gelten die oben in Kapitel 4 F, S. 218 f. dargelegten Grenzen.
876
Allgemein zu dem bei einer AGB-Inhaltskontrolle arbeitsvertraglicher Bezugnahmen entstehenden Wertungswiderspruch Däubler, NZA 2001, 1329, 1335; Löwisch/Rieble, TVG, § 1
Rn. 165, § 3 Rn. 263; Rieble, Anm. BAG 29.8.2001, SAE 2003, 11, 15 f.
877
Ob sich die tarifliche Richtigkeitsgewähr über den genannten Fall hinaus generell auf Außenseiter erstreckt, ist dagegen fraglich; dies ablehnend Bayreuther, RdA 2003, 81, 84; Löwisch/-
Rieble, TVG, § 1 Rn. 168, § 3 Rn. 263; Rieble, Anm. BAG 29.8.2001, SAE 2003, 11, 15; bejahend hingegen Däubler, NZA 2001, 1329, 1335.
878
So im Ergebnis auch BAG 27.6.2006, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 49 (B II), – freilich
ohne sich mit den aufgezeigten Problemen auseinanderzusetzen.
227
B. Schutz der nichtorganisierten Arbeitnehmer vor einer Allgemeinverbindlicherklärung des ablösenden Versorgungstarifvertrags
I. Ausgangslage
Wird ein Versorgungstarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt, erstreckt sich die
Normwirkung nach § 5 Abs. 4 TVG auch auf die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Im Unterschied zum staatlichen Geltungsbefehl in § 4
Abs. 1 TVG, der die privatautonom begründete Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien im Verhältnis zu ihren Mitgliedern lediglich umsetzt,879 ist die Allgemeinverbindlicherklärung selbst der die Rechtsetzung legitimierende Akt. Der Staat
nimmt die Tarifnormen mit der Allgemeinverbindlicherklärung in seinen Willen auf
und legitimiert so die Rechtsnormerstreckung auf die nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.880 Das die Allgemeinverbindlicherklärung erklärende
Bundesministerium ist unmittelbar an Grundrechte und das Rechtsstaatsprinzip
gebunden.881 Es darf damit einen ablösenden Versorgungstarifvertrag, der unverhältnismäßig in grundrechtlich geschützte Besitzstände eingreifen würde oder mit
der vom BVerfG entwickelten Rückwirkungslehre nicht vereinbar ist, nicht für allgemeinverbindlich erklären. Eine gleichwohl ausgesprochene Allgemeinverbindlichkeit verstieße gegen höherrangiges Recht und wäre nichtig.
Die Wirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung beurteilt sich folglich nach
anderen rechtlichen Maßstäben als ein Tarifvertrag, der kraft beiderseitiger Tarifbindung oder vertraglicher Bezugnahme gilt. Durch die Allgemeinverbindlicherklärung bewirkte Eingriffe in Versorgungsrechte der nichtorganisierten Arbeitnehmer
sind nur rechtmäßig, wenn sie verhältnismäßig sind und nicht unzulässig rückwirken; es gelten damit grundsätzlich strengere Rechtmäßigkeitsanforderungen. Für
ablösende Versorgungstarifverträge gelten jedoch – wie bereits die Ausführungen
zur vertraglichen Inbezugnahme gezeigt haben882 – einige Besonderheiten, die eine
vom Normalfall abweichende Betrachtung rechtfertigen können. Auszugehen ist von
§ 5 Abs. 1 TVG, der die Allgemeinverbindlicherklärung insbesondere vom Bestehen
eines „öffentlichen Interesses“ abhängig macht; die in § 5 Abs. 1 TVG genannten
weiteren Voraussetzungen (50-Prozent-Klausel, Antrag) werden dagegen regelmä-
ßig erfüllt sein.
879
Zum staatlichen Geltungsbefehl oben Kap. 1 B III 3, S. 43 f.
880
BVerfG 24.5.1977, E 44, 322, 348 f.; Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 41; ErfK/Franzen, § 5
TVG Rn. 1; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 16.
881
Däubler/Lakies, TVG, § 5 Rn. 41, 160; ErfK/Franzen, § 5 TVG Rn. 15 ff.; Löwisch/Rieble,
TVG, § 5 Rn. 52, 57.
882
Oben A, S. 220 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die gesetzliche Rente ist längst nicht mehr sicher. Schutz gegen drohende Versorgungslücken bieten Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung. Neben betriebsbezogenen Versorgungssystemen gewinnen in der Praxis auch solche auf tariflicher Grundlage zunehmend an Bedeutung. Doch wie verhält sich ein solches System im Krisenfall? In welchem Umfang sind Eingriffe in Versorgungsrechte zur Rettung von Unternehmen möglich?
Diesen in Literatur und Rechtsprechung umstrittenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Untersucht wird, ob die vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Drei-Stufen-Theorie auf ablösende Versorgungstarifverträge übertragbar ist und welche Bedeutung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vertrauensschutzgesichtspunkte haben. Auf der Grundlage staatlicher Schutzpflichten entwickelt der Autor ein eigenes Lösungsmodell.
Das Werk wurde mit dem Südwestmetall-Föderpreis 2008 ausgezeichnet.