217
gleichbehandlung innerhalb der Gruppe der rentenfernen Jahrgänge.852 Dem ist
zuzustimmen. Wie dargelegt führt die Berechnung der erdienten Versorgungsanwartschaft nach § 18 Abs. 2 BetrAVG dazu, dass ein Teil der Arbeitnehmer, vor
allem solche mit längeren Ausbildungszeiten, die zugesagte Voll-Leistung von
vornherein nicht erreichen kann und deshalb überproportionale Abschläge hinnehmen muss.853 Diese Ungleichbehandlung ist weder durch die Besonderheiten der
Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes noch durch den Wunsch der Tarifvertragsparteien nach einer standardisierten Berechnung sachlich gerechtfertigt.854
Künftig wird der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz im Bereich der betrieblichen Altersversorgung neben den speziellen Diskriminierungsverboten des AGG
nur noch eine relativ geringe Bedeutung haben. Genügt ein ablösender Versorgungstarifvertrag den Anforderungen des AGG, ist er – wegen der insoweit geringeren
Anforderungen – auch aus dem Blickwinkel des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht zu beanstanden. Eine zwischen rentennahen und rentenfernen
Jahrgängen differenzierende Besitzstandsregelung, die den Anforderungen des AGG
entspricht, ist auch mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar.
Die Ungleichbehandlung ist durch das besondere Schutzbedürfnis rentennaher Jahrgänge gerechtfertigt. Eine eigenständige Bedeutung kommt dem allgemeinem
Gleichbehandlungsgrundsatz daher in Zukunft nur bei Ungleichbehandlungen zu,
die nicht unter die speziellen Diskriminierungsverbote des AGG gefasst werden
können.
IV. Ergebnis
Verschlechternde Versorgungstarifverträge dürfen zwischen den von der Kürzung
betroffenen Arbeitnehmern grundsätzlich keine Unterschiede machen. Das ergibt
sich zum einen aus dem AGG, zum anderen aus Art. 3 Abs. 1 GG, der zwar nicht
direkt, aber über seine Schutzpflichtfunktion Anwendung findet. Insofern sind die
Gerichte zur Entwicklung von Mechanismen verpflichtet, die eine sachgrundlose
Ungleichbehandlung der betroffenen Arbeitnehmer verhindern. Hinsichtlich der
Gruppenbildung steht den Tarifvertragsparteien ein gewisser Einschätzungsspielraum zu. Dabei ist die Vereinbarung unterschiedlicher Besitzstandsregelungen für
rentennahe und rentenferne Jahrgänge sowohl mit dem AGG als auch mit grundrechtlichen Gleichbehandlungspflichten vereinbar.
852
BGH 14.11.2007, 203 (Ziff. 122 ff., insoweit nicht veröffentlicht).
853
Oben Kap. 2 C II 2 c aa, S. 105.
854
BGH 14.11.2007, BetrAV 2008, 203 (Ziff. 122 ff., 133 ff., insoweit nicht veröffentlicht).
218
F. Zusammenfassung
Ablösenden Versorgungstarifverträgen sind im arbeitsrechtlichen Grundverhältnis
gegenüber den gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern durch grundrechtliche
Schutzpflichten Grenzen gesetzt. Der Umfang des, mangels gesetzlicher Regelung,
von den Gerichten konkret sicherzustellenden Schutzes wird durch eine Interessenabwägung bestimmt. Hierin einander gegenüberzustellen sind das Interesse der versorgungsberechtigten Arbeitnehmer an der Beibehaltung der zugesagten Versorgungsrechte und das Änderungsinteresse der Tarifvertragsparteien. Auf Arbeitnehmerseite ist dabei vor allem zu berücksichtigen, dass sich das durch den Eingriff
betroffene Rechtsgut danach unterscheidet, ob in ein erdientes oder ein noch nicht
erdientes Versorgungsrecht eingegriffen wird. Nur erdiente Versorgungsrechte genießen den höheren Schutz des Art. 14 GG, zugesagte, noch nicht erdiente Versorgungsrechte sind dagegen lediglich durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt. Auch das
Maß des Vertrauensschutzes unterscheidet sich: Während erdiente Versorgungsrechte als „betätigtes Vertrauen“ besonders geschützt sind, darf wegen der jederzeitigen
Abänderbarkeit von Versorgungsrechten nicht in den Fortbestand zugesagter, aber
noch nicht erdienter Versorgungsrechte vertraut werden.
Auf Seiten der Tarifvertragsparteien sind vor allem das durch Art. 9 Abs. 3 GG
gewährte Recht zur eigenverantwortlichen Interessenwahrnehmung und der, damit
in Zusammenhang stehende, Umstand zu berücksichtigen, dass die gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer die Tätigkeit der Gewerkschaften durch ihren Verbandsbeitritt legitimiert haben. Einzubeziehen ist weiterhin das berechtigte Interesse der
(verbandsangehörigen) Arbeitgeber, die eigenen Beitragsverpflichtungen stabil und
das Zusatzversorgungssystem damit finanzierbar zu halten. Dies führt im Vergleich
mit der staatlichen Grundrechtsbindung zu einem geringeren Schutz. Im Einzelnen
gilt dabei:
1. In Versorgungsansprüche der bereits verrenteten Arbeitnehmer dürfen die Tarifvertragsparteien – abgesehen von Fällen der Überversorgung und eines ausnahmsweise nicht schutzwürdigen Vertrauens der Arbeitnehmer – nicht eingreifen.
Eingriffe in die (nicht erdienbare) Rentendynamik sind dagegen zulässig.
2. Bei Eingriffen in erdiente Versorgungsanwartschaften ist zwischen rentennahen und rentenfernen Jahrgängen zu differenzieren: Erdiente Versorgungsanwartschaften rentennaher Jahrgänge können grundsätzlich um bis zu zehn Prozent, die
Versorgungsanwartschaften rentenferner Jahrgänge um bis zu 25 Prozent gekürzt
werden. Ausnahmen hiervon bestehen bei einer drohenden Überversorgung und
ausnahmsweise nicht schutzwürdigem Vertrauen der Arbeitnehmer; in beiden Fällen
sind weiter gehende Eingriffe möglich. In auf Eigenbeiträgen der Arbeitnehmer
beruhende Leistungen darf hingegen nicht eingegriffen werden.
3. In zum Ablösungsstichtag noch nicht erdiente Versorgungsleistungen (zu denen auch die sog. erdiente Anwartschaftsdynamik zählt) darf eingegriffen werden;
Schranken bestehen insoweit nicht.
Auch bei Herleitung der Eingriffsgrenzen aus der Schutzpflichtfunktion gelangt
man damit (wie auch beim Widerruf individualvertraglicher Versorgungszusagen
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die gesetzliche Rente ist längst nicht mehr sicher. Schutz gegen drohende Versorgungslücken bieten Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung. Neben betriebsbezogenen Versorgungssystemen gewinnen in der Praxis auch solche auf tariflicher Grundlage zunehmend an Bedeutung. Doch wie verhält sich ein solches System im Krisenfall? In welchem Umfang sind Eingriffe in Versorgungsrechte zur Rettung von Unternehmen möglich?
Diesen in Literatur und Rechtsprechung umstrittenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Untersucht wird, ob die vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Drei-Stufen-Theorie auf ablösende Versorgungstarifverträge übertragbar ist und welche Bedeutung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vertrauensschutzgesichtspunkte haben. Auf der Grundlage staatlicher Schutzpflichten entwickelt der Autor ein eigenes Lösungsmodell.
Das Werk wurde mit dem Südwestmetall-Föderpreis 2008 ausgezeichnet.