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Abwendung einer drohenden Überversorgung. Hingegen darf in Leistungen, die auf
Eigenbeiträgen der Arbeitnehmer beruhen, wegen deren besonderer Schutzwürdigkeit gar nicht eingegriffen werden. Diese Grenze hat in der Praxis allerdings kaum
Relevanz, da der von den Arbeitnehmern zu leistende Beitrag verglichen mit dem
des Arbeitgebers meist relativ gering ist.
c) Nicht erdiente Anwartschaftsteile
Zum Ablösungsstichtag noch nicht erdiente Anwartschaftsteile genießen keinen mit
erdienten Versorgungsanwartschaften vergleichbaren Schutz. Die Möglichkeit, auch
in Zukunft weitere Versorgungsanwartschaften erdienen zu können, ist eine bloße
Erwerbsaussicht, auf die wegen der jederzeitigen Abänderbarkeit von Versorgungstarifverträgen nicht in schutzwürdiger Weise vertraut werden darf. Anders als erdiente sind nicht erdiente Versorgungsrechte zudem nur durch die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt. Da diese unter einem weiten Schrankenvorbehalt steht,
spricht Entscheidendes dafür, dass die Kürzung nicht erdienter Anwartschaftsteile
die betroffenen Arbeitnehmer nicht ungewöhnlich belastet, die staatliche Schutzpflicht also nicht ausgelöst wird. Die Tarifvertragsparteien können daher in zum
Ablösungsstichtag noch nicht erdiente Versorgungsanwartschaften eingreifen.
Schranken bestehen insoweit nicht.
E. Pflicht der Tarifvertragsparteien zur Gleichbehandlung
I. Grundlagen
Im Zusammenhang mit ablösenden Versorgungstarifverträgen stellt sich oftmals
auch die Frage, inwieweit die Tarifvertragsparteien bei der Ausgestaltung des
Schutzes von Besitzständen an Gleichbehandlungsgebote gebunden sind.802 Gleichbehandlung heißt, dass Gleiches nicht ohne sachlichen Grund ungleich und Ungleiches nicht ohne sachlichen Grund gleich behandelt werden darf. Die Gleichbehandlungspflicht trifft in erster Linie den Gesetzgeber (Art. 3 i.V.m. Art. 1 Abs. 3 GG).
Für Privatpersonen gilt sie demgegenüber grundsätzlich nicht. Die grundrechtlich
geschützte Privatautonomie ist vorrangig. Privatpersonen dürfen, auch willkürlich,
differenzieren.
Eine Ausnahme besteht nur dort, wo der Gesetzgeber Private ausdrücklich an
Gleichbehandlungsgebote bindet oder sich eine Gleichbehandlungspflicht ganz
ausnahmsweise aus verfassungsrechtlichen Vorgaben ergibt. Das gilt vor allem für
das Arbeitsrecht. Dort statuiert seit August 2006 das Allgemeine Gleichbehand-
802
Zum verbandsrechtlichen Gebot einer formalen Gleichbehandlung der Mitglieder vgl. oben
Kap. 3 A I, S. 111 f.
206
lungsgesetz (AGG)803 umfassende Diskriminierungsverbote, zu denen etwa auch ein
Verbot der Diskriminierung wegen Alters zählt. Für ablösende Versorgungstarifverträge stellt sich infolgedessen die Frage, ob in ihnen, wie vorstehend angenommen,
weiterhin zwischen rentennahen und rentenfernen Jahrgängen differenziert werden
darf oder die Einsparungen gleichmäßig auf alle versorgungsberechtigten Arbeitnehmer zu verteilen sind. Intensiv diskutiert wird zudem die Frage, inwieweit die
Tarifvertragsparteien bei ihrer Normsetzung darüber hinaus an das in Art. 3 GG
verankerte Gleichbehandlungsgebot gebunden sind. Da sich hieraus ebenfalls Anforderungen an ablösende Versorgungstarifverträge ergeben können, wird auch
dieser Frage im Folgenden näher nachzugehen sein.
II. Gleichbehandlung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) v.
29.6.2006
1. Überblick
Das AGG setzt die sog. Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union804
in deutsches Recht um. Zentrale Vorschrift ist § 1 AGG, der im Anwendungsbereich
des Gesetzes jede Benachteiligung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität verbietet.
Das AGG enthält nach § 2 Abs. 3 Satz 1 keine abschließenden Regelungen. Bereits bestehende Diskriminierungsverbote werden vom Inkrafttreten des AGG nicht
berührt.
2. Anwendbarkeit des AGG auf ablösende Versorgungstarifverträge
Die in § 1 AGG angeführten Diskriminierungsverbote gelten gemäß § 6 Abs. 1
AGG für Arbeitnehmer und die ihnen nach § 6 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3 AGG gleichgestellten Personen. Diese dürfen – insbesondere bei der Einstellung (§ 2 Abs. 1 Nr. 1
803
BGBl. I (2006), S. 1897.
804
RL 2000/43/EG des Rates vom 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes
ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. EG Nr. L 180, S. 22; RL
2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der
Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. EG Nr. L 303, S. 16; RL 2002/73/EG
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.9.2002 zur Änderung der Richtlinie
76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. EG Nr. L 269, S. 15; RL
2004/113/EG des Rates vom 13.12.2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und
Dienstleistungen, ABl. EG Nr. L 373, S. 37.
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References
Zusammenfassung
Die gesetzliche Rente ist längst nicht mehr sicher. Schutz gegen drohende Versorgungslücken bieten Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung. Neben betriebsbezogenen Versorgungssystemen gewinnen in der Praxis auch solche auf tariflicher Grundlage zunehmend an Bedeutung. Doch wie verhält sich ein solches System im Krisenfall? In welchem Umfang sind Eingriffe in Versorgungsrechte zur Rettung von Unternehmen möglich?
Diesen in Literatur und Rechtsprechung umstrittenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Untersucht wird, ob die vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Drei-Stufen-Theorie auf ablösende Versorgungstarifverträge übertragbar ist und welche Bedeutung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vertrauensschutzgesichtspunkte haben. Auf der Grundlage staatlicher Schutzpflichten entwickelt der Autor ein eigenes Lösungsmodell.
Das Werk wurde mit dem Südwestmetall-Föderpreis 2008 ausgezeichnet.