180
d) Interessen des Arbeitgeberverbands
Der Schutz der Verbandsminderheit verkürzt nicht nur die Rechte der eigenen Verbandsmehrheit, er greift zugleich auch in Rechtspositionen des Arbeitgeberverbands
ein. Dadurch dass belastenden Tarifverträgen zum Schutz der gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer Grenzen gezogen werden, wird dem Arbeitgeberband zugleich
versagt, den Interessen der eigenen Mitglieder weiter gehend Raum zu verschaffen.
Besteht bei den im Verband organisierten Arbeitgebern der Bedarf, tarifliche Löhne
wegen einer ungünstigen wirtschaftlichen Entwicklung rückwirkend zu senken und
wird dem zum Schutz der betroffenen Arbeitnehmer ein Riegel vorgeschoben, werden die Interessen des Arbeitgeberverbandes unabhängig davon begrenzt, ob die
Forderung – etwa zum Erhalt von Arbeitsplätzen – zwischen den Tarifvertragsparteien konsensfähig gewesen wäre. Schutzpflichten zum Schutz gewerkschaftsangehöriger Arbeitnehmer greifen folglich immer auch in die durch Art. 9 Abs. 3 GG
geschützten Interessen des Arbeitgeberverbandes ein. Sie dürfen diese nicht unverhältnismäßig beschränken.
III. Bestimmung des Schutzniveaus
Innerhalb der vorgenannten äußeren Grenzen muss sich auch der Schutz der gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer vor ablösenden Versorgungstarifverträgen bewegen. Welches Schutzniveau der Staat konkret sicherzustellen hat, muss aber noch
näher bestimmt werden.
1. Erste Schritte zur Konkretisierung des Schutzniveaus
a) Vergleich mit unmittelbarer Grundrechtsbindung
Diesbezüglich stellt sich insbesondere die Frage, ob eine ungewöhnliche, die
Schutzverpflichtung des Staats auslösende Belastung immer schon dann vorliegt,
wenn ein staatlicher Eingriff in Versorgungsrechte unverhältnismäßig wäre, die
Schutzpflichtfunktion der Grundrechte also ebenso weit reicht wie deren Abwehrfunktion. Dies ist in Rechtsprechung und Literatur trotz zunehmender Anerkennung
der Schutzpflichtenlehre lebhaft umstritten.
Der Siebte Senat des BAG hat dazu in seinen beiden grundlegenden Entscheidungen aus dem Jahr 1998 ausgeführt, die Schutzpflichtfunktion verpflichte staatliche
Grundrechtsadressaten, einzelne Grundrechtsträger vor einer unverhältnismäßigen
Beschränkung ihrer Grundrechte zu bewahren.691 Die anderen Senate sind dem
691
BAG 11.3.1998, AP TVG § 1 Tarifverträge: Luftfahrt Nr. 12 (III 2 b); BAG 25.2.1998, AP
TVG § 1 Tarifverträge: Luftfahrt Nr. 11 (3 b).
181
überwiegend gefolgt.692 Das BAG geht damit zwar augenscheinlich von dem gleichen Schutzniveau wie bei unmittelbarer Grundrechtsbindung aus. Es hat die Frage
aber, zumal der Siebte Senat in seinen Entscheidungen auch von einem grundrechtlichen „Mindestschutz“ spricht, der aus den grundrechtlichen Schutzpflichten folge,693 noch nicht abschließend entschieden.
Die überwiegende Ansicht in der Literatur nimmt eine abgeschwächte Schutzintensität an,694 wobei im Einzelnen aber erhebliche Unterschiede bestehen. Es finden
sich zudem Stellungnahmen, die ein unverändertes695 oder, diametral zur privatautonomen Herleitung, sogar ein höheres696 Schutzniveau befürworten. Vereinzelt wird
überdies zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite unterschieden697.
Zutreffend ist es, von einer im Regelfall geringeren Schutzintensität auszugehen.
Die abweichende Ansicht berücksichtigt zu wenig, dass die organisierten Arbeitnehmer der Gewerkschaft aufgrund eines freiwilligen Entschlusses und in eigener
Verantwortung beigetreten sind. Aus diesem Grund können den Gewerkschaftsmitgliedern weiter gehende Nachteile zugemutet werden, als sie Bürger bei staatlichen
Eingriffen hinnehmen müssen. Gewerkschaftsmitglieder können zudem auf die
gewerkschaftliche Willensbildung einen wesentlich direkteren Einfluss nehmen, als
Bürger auf die Entscheidungen des Staates.698 Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Gewerkschaftsmitglieder aus der Gewerkschaft auch wieder austreten und
sich damit der Tarifvertragsgeltung entziehen können – wenn auch nur in den durch
§ 3 Abs. 3, § 4 Abs. 5 TVG gezogenen Grenzen. Eine ungewöhnliche, die staatliche
Schutzpflicht auslösende Belastung liegt daher nicht bereits dann vor, wenn ein
gleichartiger staatlicher Eingriff übermäßig belastend und damit unverhältnismäßig
wäre. Verbandsmitgliedern kann aufgrund ihres Verbandsbeitritts grundsätzlich
mehr zugemutet werden als Bürgern; Schutzpflicht- und Abwehrfunktion der
Grundrechte entsprechen sich nicht. Nicht ausgeschlossen ist jedoch, dass sich das
692
BAG 27.5.2004, AP TVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 5 (B II 2 und 3 a); BAG 4.4.2000, AP
TVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 2 (III 2); im Ergebnis auch BAG 26.6.2001, AP TVG § 1 Tarifverträge: Verkehrsgewerbe Nr. 8 (I 1 b bb).
693
BAG 11.3.1998, AP TVG § 1 Tarifverträge: Luftfahrt Nr. 12 (III 2 b); BAG 25.2.1998, AP
TVG § 1 Tarifverträge: Luftfahrt Nr. 11 (3 b).
694
Aus der Literatur vgl. insbesondere Dieterich, FS Schaub, S. 117, 121 f., 126 ff.; ders., Anm.
BAG 4.4.2000, RdA 2001, 112, 117; im Anschluss daran auch Bayreuther, Tarifautonomie,
S. 243; Burkiczak, RdA 2007, 17, 19; Däubler/Schiek, TVG, Einleitung Rn. 216; Kühnast,
Grenzen, S. 105; Schliemann, FS Hanau, S. 577, 587; ders., ZTR 2000, 198, 202 f.; A.
Wiedemann, Bindung, S. 141 ff., 151 f.; Zachert, Anm. BAG 24.4.2001, AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 243 unter III; vgl. zuvor bereits f. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 527.
695
So Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 250 ff., 270 f.; Kempen/Zachert/Kempen,
TVG, Grundlagen Rn. 214 f.; Schwarze, ZTR 1996, 1, 7 und – bezogen auf die Anwendung
des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – Waltermann, FS 50 Jahre BAG, S. 913, 924 f.
696
MünchArbR/Richardi, Bd. 1, § 10 Rn. 29.
697
Singer, ZfA 1995, 611, 630 ff.
698
BAG 23.11.1994, AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 12 (II 2 c cc); Biedenkopf, Grenzen, S. 243.
182
Schutzniveau bei Rechtsgütern von besonders hoher Bedeutung699 ausnahmsweise
deckt.
Dass der Staat gegenüber den gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern einen
geringeren Schutz als bei unmittelbarer Grundrechtsbindung sicherzustellen hat,
führt grundsätzlich dazu, dass an tarifvertragliche Eingriffe in Rechtspositionen
verbandsangehöriger Arbeitnehmer geringere Rechtmäßigkeitsanforderungen zu
stellen sind, als an die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags oder an
eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel. Es kommt zu einer „gespaltenen Tarifkontrolle“.700 Das ist aber nicht zwingend. Es sind auch Fallkonstellationen vorstellbar, in denen der Schutz der nichtorganisierten Arbeitnehmer an dem für organisierte Arbeitnehmer ausgerichtet werden muss, vor allem wenn Leistungen für organisierte und nichtorganisierte Arbeitnehmer nach gleichen Grundsätzen erbracht
werden sollen (dazu ausführlich unten Kapitel 5).
b) Keine Reduzierung auf den unverzichtbaren Kernbereich
Insbesondere Dieterich, im Anschluss an ihn aber auch Schliemann, hat sich dafür
ausgesprochen, den Schutz organisierter Arbeitnehmer auf einen Kernbereich zu
begrenzen.701 Zur Begründung verweisen sie auf den Verbandsbeitritt. In diesem
liege ein partieller Grundrechtsverzicht. Grenzen der tariflichen Regelungsmacht
ergäben sich aber daraus, dass Grundrechtsträger nicht unbegrenzt über ihre Grundrechte verfügen könnten. Ein Kernbereich sei stets unverzichtbar.702 Zu diesem
Kernbereich zählt Dieterich u.a. den unverzichtbaren Menschenwürdekern (Art. 1
Abs. 1, 19 Abs. 2 GG) sowie bestimmte Grundrechte, die zugleich öffentlichen
Interessen dienen und daher nicht zur freien Disposition stehen.703 Für den Schutz
der Berufsfreiheit folgert er daraus, dass eine staatliche Schutzpflicht nur bei außerordentlich einschneidenden tariflichen Regelungen besteht, die unerträglich seien.704
Dieterich ist zuzugeben, dass eine staatliche Schutzpflicht jedenfalls dann besteht,
wenn in den Kernbereich eines Grundrechts eingegriffen wird. Es wäre jedoch zu
eng, das Eingreifen staatlicher Schutzpflichten auf diesen Fall zu beschränken. Der
699
Zu denken wäre beispielsweise an Leben, Gesundheit oder die speziellen Diskriminierungsverbote des Grundgesetzes. Zur Bindung der Tarifvertragsparteien an Gleichbehandlungserfordernisse unten E, S. 205 ff.
700
So der Einwand von Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 254; Rieble, Anm. BAG 29.8.2001, SAE
2003, 11, 15 f.; vgl. auch Gamillscheg, gem. Anm. BAG 30.8.2000 und 25.10.2000, AuR
2001, 226, 228.
701
Dieterich, FS Schaub, S. 117, 126 ff., 128; ders. in ErfK, Einl. GG Rn. 56; Schliemann, FS
Hanau, S. 577, 587; im Ergebnis ebenso A. Wiedemann, Bindung, S. 124, der die Kompetenz
zur richterlichen Rechtsfortbildung auf die Statuierung von verfassungsrechtlich unverzichtbaren Kernforderungen beschränkt sieht.
702
Dieterich, FS Schaub, S. 117, 127 f.
703
A.a.O., S. 128; zustimmend Schliemann, FS Hanau, S. 577, 587.
704
Dieterich, FS Schaub, S. 117, 127 f.; ders. in ErfK, Einl. GG Rn. 56.
183
Arbeitnehmer will seine Rechtsstellung durch den Beitritt verbessern und nicht zusätzliche Eingriffsmöglichkeiten begründen, die seine Rechtsstellung weiter (zusätzlich zur ohnehin bestehenden strukturellen Unterlegenheit gegenüber dem Arbeitnehmer) verschlechtern.705 Im Beitritt kann demgemäß kein Verzicht auf grundrechtlichen Schutz gesehen werden. Das wäre eine bloße Fiktion.706 Ein mit der
Beitrittserklärung erklärter Verzicht wäre darüber hinaus wohl auch unzulässig, da
er sich nicht auf einen konkreten Einzelfall bezöge und deswegen nicht hinreichend
bestimmt wäre.707 Demgemäß hat der Staat gegenüber ablösenden Versorgungstarifverträgen ein Schutzniveau zu schaffen, das über einen Kernbereich hinausgeht.
Eine ungewöhnliche Belastung der gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer liegt
nicht erst dann vor, wenn sie – im Sinne Dieterichs – unerträglich ist.
2. Erfordernis einer Interessenabwägung
Bei der Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte sind, das hat die
bisherige Untersuchung gezeigt, vielfältige Interessen zu beachten. Dem Interesse
der gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer am unveränderten Fortbestand ihrer
Versorgungsrechte stehen Interessen der Gewerkschaft, der den Tarifabschluss unter
Umständen billigenden Mitgliedermehrheit sowie des Arbeitgeberverbands gegen-
über. Jeder dieser Rechtspositionen ist der Staat grundsätzlich zum Schutz verpflichtet. Will er seine sich aus den grundrechtlichen Schutzpflichtfunktion ergebende
Verpflichtung verwirklichen, muss er die grundrechtlich geschützten Rechtspositionen der beteiligten Grundrechtsträger voneinander abgrenzen;708 hierfür ist eine
Interessenabwägung erforderlich.709
Ausgangspunkt für die Interessenabwägung ist, dass keinem der widerstreitenden
Interessen ein genereller Vorrang gebührt. Vielmehr muss ein Ausgleich der Gegensätze versucht werden. Für diesen gilt das Prinzip praktischer Konkordanz710: Ziel
der Interessenabwägung ist demnach, die im Gegensatz stehenden Interessen möglichst zu jeweils optimaler Wirksamkeit gelangen zu lassen. Der Staat muss zur
Erfüllung seiner grundrechtlichen Schutzpflichten Vorkehrungen treffen, die einen,
unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter, angemessenen Schutz ge-
705
Kühnast, Grenzen, S. 102.
706
Kühnast, Grenzen, S. 101 f.; A. Wiedemann, Bindung, S. 175.
707
Kühnast, Grenzen, S. 102 m.w.N.
708
Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 1577 f.
709
BVerfG 28.5.1993, E 88, 203, 254 f.; ErfK/Dieterich, Einl. GG Rn. 42; f. Kirchhof, Private
Rechtsetzung, S. 527; Michael, JuS 2001, 148, 151; Rassow, ZG 2005, 262, 269; Stern,
Staatsrecht, Bd. III/1, S. 1572, 1576 f.
710
St. Rspr. des BVerfG, vgl. BVerfG 2.10.2003, NJW 2004, 47, 48; BVerfG 16.5.1995, E 93, 1,
21; BVerfG 17.12.1975, E 41, 29, 50 f.; für die Anwendbarkeit des Prinzips auf die Schutzpflichtproblematik vgl. auch BAG 27.5.2004, AP TVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 5 (B II a);
Kühnast, Grenzen, S. 102 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 1576 f.
184
währleisten.711 Dabei hängt die Intensität der Schutzpflichten, außer von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, vor allem von (1) Art und Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts, (2) Art, Nähe und Ausmaß möglicher Gefahren sowie (3) von den bereits vorhandenen gesetzlichen Regelungen ab.712
Die Abwägungskriterien sind mit denen einer Verhältnismäßigkeitskontrolle vergleichbar. Auch bei der Verhältnismäßigkeitskontrolle ist, im Anschluss an die Prüfung der Geeignetheit und Erforderlichkeit eines staatlichen Eingriffs, im Rahmen
der Angemessenheitsprüfung eine Interessenabwägung vorzunehmen. Dennoch
führt die Interessenabwägung nicht automatisch zu demselben Ergebnis. Anders als
bei einseitigen staatlichen Eingriffen stehen sich bei der Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten zwei grundsätzlich gleichgeordnete Rechtsträger gegenüber,
die sich durch den Vertragsschluss ihrer Freiheit partiell begeben und dadurch der
jeweils anderen Vertragspartei die Möglichkeit eröffnet haben, im vertraglich bestimmten Umfang auf die eigenen Rechte zuzugreifen. Diese privatautonome Entscheidung muss im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigt werden. Sie
führt dazu, dass den Interessen des jeweils nach staatlichem Schutz Suchenden in
der Abwägung grundsätzlich ein geringeres Gewicht zukommt, als den Interessen
der anderen Vertragspartei.
3. Berücksichtigung gesetzlicher Wertentscheidungen
Bei der Entwicklung eines Schutzpflichtmodells sind andererseits auch gesetzgeberische Wertentscheidungen zu berücksichtigen, soweit sie die Interessenabwägung
konkretisieren. Für Gerichte folgt diese Pflicht bereits aus der Kompetenzverteilung
des Grundgesetzes.713 Aber auch im Übrigen sind die Wertentscheidungen des Gesetzgebers zu beachten. Dem Gesetzgeber steht bei der Erfüllung grundrechtlicher
Schutzpflichten ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu, insbesondere kann er bei
der Erfüllung der Schutzpflicht auch über das verfassungsrechtlich geforderte Mindestmaß hinausgehen.714 Eine ausdrückliche Regelung darüber, wie weit der Schutz
verbandsangehöriger Arbeitnehmer vor ablösenden Versorgungstarifverträgen
reicht, enthält das Betriebsrentengesetz zwar nicht. Gleichwohl lassen sich dem
Betriebsrentengesetz – wie Steinmeyer715 erstmals herausgearbeitet hat – gewisse
Anhaltspunkte für einen Interessenausgleich entnehmen.
711
BVerfG 28.5.1993, E 88, 203, 254.
712
BVerfG 14.1.1981, E 56, 54, 78; BVerfG 8.8.1978, E 49, 89, 142; Stern, Staatsrecht, Bd.
III/1, S. 1576, 1577 f.; vgl. auch Maunz/Dürig/Herdegen, GG, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rn. 64,
wonach das Abstellen auf die Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung einen Maßstab liefert, welcher der Schutzpflichtproblematik angemessen Rechnung trägt.
713
Zum Verhältnis von Gesetzgeber und Rechtsprechung bei der Erfüllung grundrechtlicher
Schutzpflichten oben C, S. 174 f.
714
Oben C II, S. 174.
715
GedS Blomeyer, S. 423, 434 ff.; bei Steinmeyer fehlt allerdings der Hinweis auf die Schutzpflichtenlehre.
185
a) § 17 Abs. 3 BetrAVG
Das Betriebsrentengesetz bestimmt den Umfang der tariflichen Regelungsbefugnis
nur in § 17 Abs. 3 Satz 1 BetrAVG näher. § 17 Abs. 3 Satz 1 BetrAVG (§ 7 Abs. 2
Satz 1 BetrAVG a.F.) enthält eine Tariföffnungsklausel, nach der in Tarifverträgen
auch zu Ungunsten des Arbeitnehmers von den §§ 1a, 2 bis 5, 16, 18 a Satz 1, §§ 27
und 28 BetrAVG abgewichen werden kann. § 17 Abs. 3 Satz 1 BetrAVG bestätigt
damit zunächst die allgemeine Feststellung, dass die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien über diejenige der Arbeitsvertragsparteien und der Betriebsparteien
hinausgeht. Der Gesetzgeber des Betriebsrentengesetzes stützt die Sonderstellung
des Tarifvertrags ebenfalls auf die geringere Schutzbedürftigkeit der betroffenen
Arbeitnehmer. Die Tariföffnungsklausel beruht nach der Gesetzesbegründung716 auf
der Erwägung, dass „tarifvertragliche Regelungen hinreichend Gewähr für eine
angemessene Berücksichtigung auch der Interessen der Arbeitnehmer bieten, da
hier (...) grundsätzlich von der Parität der Vertragspartner ausgegangen werden
kann...“.
Die in § 17 Abs. 3 Satz 1 BetrAVG genannten tarifdispositiven Vorschriften
betreffen unmittelbar allerdings nur die Ausgestaltung von Versorgungszusagen.717
Für die Bestimmung der Eingriffsgrenzen kann § 17 Abs. 3 BetrAVG daher nur
herangezogen werden, wenn beide Fallkonstellationen vergleichbar sind.
b) Übertragbarkeit auf die Eingriffsproblematik
Mit der Frage, ob der Eingriff in tariflich zugesagte Versorgungsrechte mit deren
Ausgestaltung vergleichbar ist, hat sich bereits Steinmeyer näher befasst.718 Steinmeyer bejaht eine Vergleichbarkeit und stützt sich hierzu maßgeblich auf die Gesetzesbegründung zu § 17 Abs. 3 Satz 1 BetrAVG (§ 7 Abs. 2 Satz 1 BetrAVG a.F.).
Diese enthält im Anschluss an die oben wiedergegebene Textpassage einen ausdrücklichen Hinweis719 auf eine BAG-Entscheidung aus dem Jahr 1970720, in der
sich das BAG erstmalig mit den Grenzen ablösender Versorgungsbetriebsvereinbarungen auseinandersetzen musste. Die Gesetzesbegründung bezieht sich ersichtlich
auf einen Urteilsabschnitt, in dem das BAG Betriebsvereinbarungen einen geringeren Regelungsspielraum als Tarifverträgen zubilligt und dies vor allem mit der im
Vergleich zu Gewerkschaften geringeren Unabhängigkeit der Betriebsräte erklärt.721
Steinmeyer deutet den Umstand, dass der Gesetzgeber zur Begründung des § 17
Abs. 3 BetrAVG ausgerechnet auf eine BAG-Entscheidung verweist, die sich mit
716
BT-Drs. 7/1281, S. 30 f.
717
Vgl. bereits Steinmeyer, GedS Blomeyer, S. 423, 435.
718
GedS Blomeyer, S. 423, 434 ff.; vgl. auch Stebel, BetrAV 2004, 333, 338.
719
BT-Drs. 7/1281, S. 31.
720
BAG 30.1.1970, AP BGB § 242 Ruhegehalt Nr. 142.
721
Unter B IV 3 b der Gründe.
186
den Eingriffsgrenzen befasst, als Beleg dafür, dass der Gesetzgeber von der grundsätzlichen Vergleichbarkeit von Ausgestaltung und Eingriff ausgeht.722
Auch das BAG stellte bereits mehrfach einen entsprechenden Zusammenhang
her. In seiner Entscheidung vom 24.8.1993 führte es beispielsweise aus, auch eine
zugesagte Rentendynamik sei nicht unantastbar, da nach § 17 Abs. 3 Satz 1 und 2
BetrAVG sogar von der Pflicht zur Anpassung laufender, nicht dynamisierter Renten abgewichen werden könne.723 Eine derartige Querverbindung zwischen § 17
Abs. 3 Satz 1 BetrAVG und den von Tarifvertragsparteien zu beachtenden Eingriffsgrenzen findet sich aber auch in der Entscheidung des Dritten Senats vom
13.12.2005, in welcher der Senat einen besonderen Schutz der Anwartschaften bereits aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschiedener Arbeitnehmer verneint und zur
Begründung § 17 Abs. 3 Satz 1 BetrAVG heranzieht. § 17 Abs. 3 Satz 1 BetrAVG
zeige – so der Dritte Senat –, dass der Gesetzgeber den Schutz ausgeschiedener
Arbeitnehmer vor tariflichen Eingriffen dem Primat der Tarifautonomie untergeordnet habe.724 Das BAG zieht demzufolge ebenfalls die vom Gesetzgeber in § 17
Abs. 3 Satz 1 BetrAVG getroffene Wertentscheidung für die Ermittlung der Eingriffsgrenzen heran. Dem ist beizupflichten. § 17 Abs. 3 Satz 1 BetrAVG ist Ergebnis einer sorgfältigen Interessenabwägung. Der Gesetzgeber räumt den Tarifvertragsparteien darin zwar grundsätzlich einen großen Regelungs- und Gestaltungsspielraum ein, indem er bedeutsame Schutzvorschriften wie die Berechnungsregelung in § 2 Abs. 1 BetrAVG oder die in § 16 BetrAVG enthaltene Anpassungsprüfungspflicht tarifdispositiv gestaltet. Andererseits berücksichtigt er in § 17 Abs. 3
BetrAVG zugleich das Schutzbedürfnis der Versorgungsberechtigten, indem er
zentrale Vorschriften für tariffest erklärt. Die Voraussetzungen für das Vorliegen
betrieblicher Altersversorgung in § 1 BetrAVG sind danach ebenso unabdingbar wie
die in § 1b BetrAVG geregelte Unverfallbarkeit von Versorgungsanwartschaften
und der in § 7 BetrAVG normierte Insolvenzschutz. Der Interessenkonflikt bei tariflichen Eingriffen ist der gleiche. Wie bei der Ausgestaltung tariflicher Versorgungszusagen gilt es auch hier, der grundsätzlich weiten Einwirkungsbefugnis der Tarifvertragsparteien zum Schutz des Arbeitnehmers Schranken zu setzen. Bleibt den
Tarifvertragsparteien bei der Ausgestaltung ein Regelungsspielraum, muss er ihnen
daher grundsätzlich auch beim Eingriff zustehen.
c) Abdingbarkeit von § 16 BetrAVG
Interessant und vorliegend von Bedeutung ist zunächst, dass die Tarifvertragsparteien nach § 17 Abs. 3 Satz 1 BetrAVG zu Lasten der Arbeitnehmer von der in § 16
BetrAVG vorgesehenen Anpassungsprüfungspflicht abweichen können. Der Gesetz-
722
GedS Blomeyer, S. 423, 435, 437.
723
AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 19 (B II 2 b).
724
BAG 13.12.2005, AP BetrAVG § 2 Nr. 49 (III 2 a); ähnlich jüngst die Ausführungen im
Urteil vom 27.6.2006, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 49 (B II 2 a).
187
geber gibt demnach dem Interesse der Tarifvertragsparteien Vorrang vor dem durch
§ 16 BetrAVG gewährleisteten Schutz der Versorgungsrenten gegen eine inflationsbedingte Geldentwertung. Diese gesetzgeberische Wertentscheidung haben auch die
Gerichte zu beachten. Sie wird durch das Grundgesetz bestätigt. Versorgungsrenten
unterfallen als vermögenswerte Rechte zwar grundsätzlich dem Schutzbereich des
Art. 14 GG, weswegen der Staat verpflichtet ist, sie auch gegenüber den Tarifvertragsparteien zu schützen. Art. 14 GG schützt jedoch nicht vor einer Geldentwertung.725 Die Rentendynamik ist zudem nicht erdienbar.726 Zu ihrem Schutz greift
insofern allenfalls die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit ein, die aber wesentlich weiteren Schranken unterliegt und deswegen auch nur
geringere Schutzverpflichtungen des Staates begründen kann. Aus diesem Grund ist
auch aus grundrechtlicher Sicht nichts gegen Eingriffe der Tarifvertragsparteien in
die Rentendynamik von Versorgungsrenten einzuwenden. Das muss auch dann gelten, wenn die Tarifvertragsparteien eine Rentendynamik zugesagt haben, die über
das von § 16 BetrAVG zugesagte Maß hinausgeht, beispielsweise eine Anpassung
der Versorgungsrenten an die Steigerung der Aktivenbezüge,727 und die nun auf die
von § 16 BetrAVG getroffene Regelung zurückgeführt oder sogar gänzlich beseitigt
werden soll. Sind die bereits laufenden Versorgungsrenten nicht einmal vor einer
Geldentwertung geschützt, kommt ein Schutz der darüber hinausgehenden Rentendynamik erst recht nicht in Betracht.728
Die Schutzpflichtfunktion der Grundrechte fordert demnach keinen Schutz der
erdienten Rentendynamik. Die Tarifvertragsparteien können in die Rentendynamik
eingreifen. Grenzen haben sie insoweit nicht zu beachten. Die gegenteilige Rechtsprechung des BAG, die Eingriffe in die Rentendynamik anhand der allgemeinen
Prinzipien des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit überprüft,729 ist
damit abzulehnen.
d) Abdingbarkeit von § 2 BetrAVG
Aufschlussreich ist darüber hinaus die Abdingbarkeit von § 2 Abs. 1 BetrAVG.
Indem der Gesetzgeber in § 17 Abs. 3 Satz 1 BetrAVG § 2 BetrAVG für tarifdispositiv erklärt, gestattet er den Tarifvertragsparteien, die Höhe der bei Ausscheiden des
725
BVerfG 5.2.2002, E 105, 17, 30; BVerfG 31.3.1998, E 97, 350, 371; Dreier/Wieland, GG, Bd.
1, Art. 14 Rn. 57; Jarass/Pieroth/Jarass, GG, Art. 14 Rn. 20a; v. Mangoldt/Klein/Starck/-
Depenheuer, GG, Bd. 1, Art. 14 Rn. 157 f.; v. Münch/Kunig/Bryde, GG, Art. 14 Rn. 24; a.A.
Maunz/Dürig/Papier, GG, Bd. 2, Art. 14 Rn. 184 ff.: Tauschwert prinzipiell gewährleistet.
726
Es gelten die gleichen Gesichtspunkte wie bei der Anwartschaftsdynamik, vgl. oben Kap. 2 C
I 2 c, S. 100.
727
Eine derartige Versorgungsregelung enthält der Versorgungstarifvertrag für die Beschäftigten
der TKK, vgl. oben Kap. 2 C I 2 b, S. 99 f.
728
Ebenso wohl Steinmeyer, GedS Blomeyer, S. 423, 438, der Eingriffe in den Anpassungsmechanismus ganz allgemein für zulässig hält.
729
BAG 27.3.2007, AP BetrAVG § 1 Zusatzversorgungskassen Nr. 68 (Ziff. 52 ff.).
188
Arbeitnehmers bereits erdienten, unverfallbaren Versorgungsanwartschaft abweichend von dem in § 2 Abs. 1 BetrAVG vorgesehenen m/ntel-Verfahren zu berechnen. Die Tarifvertragsparteien können demgemäß auch eine den betroffenen Arbeitnehmern ungünstigere Berechnungsweise vorsehen, die in den ersten Jahren der
Betriebszugehörigkeit erwiesene Betriebstreue beispielsweise geringer bewerten.
Andererseits sind die in § 1b BetrAVG normierten Voraussetzungen der Unverfallbarkeit gerade nicht tariflich abdingbar. Insofern besteht ein gewisses Spannungsverhältnis: Durch die Tarifdispositivität des § 2 BetrAVG dürfen einerseits die Unverfallbarkeitsvoraussetzungen des § 1b BetrAVG nicht ausgehöhlt werden, andererseits muss eine Abweichung von § 2 Abs. 1 BetrAVG aber möglich sein, wenn
§ 17 Abs. 3 BetrAVG nicht leer laufen soll. Das BVerfG schließt daraus, dass die
Tarifvertragsparteien den Wert der Versorgungsanwartschaft zumindest nicht in
beliebiger Weise schmälern dürfen.730 Dem ist, auch wenn dieser Maßstab nur wenig
aussagekräftig ist, sicherlich zuzustimmen. In der Literatur finden sich demgegen-
über konkretere Maßstäbe. Eine (mit der Gesetzeslage freilich kaum mehr in Einklang zu bringende) Extremposition vertritt Höhne. Nach ihm soll die Unverfallbarkeitsregelung des § 1b BetrAVG über von § 2 BetrAVG abweichende Regelungen
„weitestgehend ausgehöhlt“ werden können, ohne dass § 1b BetrAVG dadurch
„dem Grunde nach formell angetastet wird“.731 Höfer fordert dagegen, dass zumindest die Hälfte des nach § 2 Abs. 1 BetrAVG berechneten Anwartschaftswerts erhalten bleibt.732 Am restriktivsten ist die (auf Blomeyer zurückgehende) Ansicht von
Rolfs, nach dem § 17 Abs. 3 BetrAVG zwar von § 2 BetrAVG abweichende Berechnungsmodalitäten gestattet, die Anwartschaft als solche aber, auch wertmäßig,
erhalten bleiben müsse.733 Eine ähnliche Auffassung vertritt Steinmeyer, der wegen
der grundsätzlichen Unentziehbarkeit bereits erdienter Anwartschaften davon ausgeht, dass sich die aus § 17 Abs. 3 BetrAVG ergebenden Möglichkeiten auf Eingriffe in noch nicht erdiente Anwartschaftsteile beschränken müssen.734
Die dargestellten Ansichten beziehen sich (mit Ausnahme der Ansicht Steinmeyers) allerdings nur auf tarifliche Regelungen, die für den Fall des vorzeitigen Ausscheidens von § 2 Abs. 1 BetrAVG abweichende Berechnungsregeln vorsehen. Bei
tariflichen Eingriffen in Versorgungsrechte besteht das Arbeitsverhältnis dagegen
fort. Insofern ergeben sich gewisse Unterschiede. Rolfs beispielsweise stützt seine
Auffassung, nach welcher der Anwartschaftswert auch wertmäßig erhalten bleiben
muss, ganz wesentlich darauf, dass der Arbeitnehmer in seiner Entscheidung, den
Betrieb zu verlassen, nicht mehr frei wäre, wenn der Tarifvertrag für den Fall des
730
BVerfG 15.7.1998, E 98, 365, 393 f.
731
Heubeck/Höhne/Paulsdorff/Weinert/Höhne, BetrAVG, § 17 Rn. 115.
732
Höfer, BetrAVG, Rn. 5652.
733
B/R/O/Rolfs, BetrAVG, § 17 Rn. 173.
734
ErfK/Steinmeyer, § 17 BetrAVG Rn. 22; ders., FS Schaub, S. 727, 732 f.; anders freilich ders.
in GedS Blomeyer, S. 423, 436, 438, wonach zwar grundsätzlich auf den Wert der erdienten
Anwartschaften und Ansprüche abzustellen sein soll, gewisse Modifikationen des Werts –
auch in Bezug auf bereits erdiente Versorgungsrechte – aber möglich sein sollen; unentschieden Stebel, BetrAV 2004, 333, 338.
189
Ausscheidens eine Berechnungsregel vorsehen dürfte, die zu seinem Nachteil von
§ 2 Abs. 1 BetrAVG abweicht.735 Für diese Ansicht lassen sich gute Gründe finden,
zumal die Freiheit den Beruf bzw. Arbeitsplatz zu wechseln immerhin durch Art. 12
GG geschützt ist.736 Bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis greift das Argument
jedoch nicht. Aus demselben Grund muss auch die u.a. bei Steinmeyer anklingende
Befürchtung unberücksichtigt bleiben, bei Änderungen des § 2 Abs. 1 BetrAVG
versage die tarifliche Richtigkeitsgewähr, weil tarifliche Regelungen zu Lasten vorzeitig ausgeschiedener Arbeitnehmer tarifpolitisch leichter durchzusetzen seien.737
Andererseits ist bei Eingriffen in bereits erdiente Versorgungsrechte zu beachten,
dass die betroffenen Arbeitnehmer auf deren Aufrechterhaltung vertraut haben. Die
zum Verhältnis von § 17 Abs. 3 Satz 1, § 2 und § 1b BetrAVG in der Literatur vertretenen Ansichten besitzen für die Frage des Eingriffs daher nur einen begrenzten
Erkenntniswert.
Aus der vom Gesetzgeber in § 17 Abs. 3 BetrAVG getroffenen Wertentscheidung
folgt somit zunächst nur, dass die Tarifvertragsparteien nicht in beliebiger Weise in
bereits erdiente, unverfallbare Versorgungsanwartschaften und -ansprüche eingreifen dürfen, ein Eingriff aber generell möglich sein muss. Ob gleiches auch für erdiente, aber noch verfallbare Versorgungsanwartschaften gilt, ist hingegen fraglich,
da nur unverfallbare Versorgungsanwartschaften durch § 1b BetrAVG besonders
geschützt sind.738 Konkrete Anhaltspunkte für die vorzunehmende Interessenabwägung und damit für die Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten lassen sich § 17
Abs. 3 Satz 1 BetrAVG insoweit nicht entnehmen. In jedem Fall aber bleibt festzuhalten, dass sich der Gesetzgeber in § 17 Abs. 3 BetrAVG für die grundsätzliche
Möglichkeit eines tariflichen Eingriffs auch in erdiente Versorgungsrechte ausgesprochen hat. An diese – zugegebenermaßen sehr unbestimmte – Wertentscheidung
sind die Gerichte gebunden.
e) Zwischenergebnis
Die in § 17 Abs. 3 BetrAVG erklärte Abdingbarkeit des § 16 BetrAVG zeigt, dass
der Gesetzgeber einen Schutz der Rentendynamik vor ablösenden Versorgungstarifverträgen nicht für erforderlich hält, eine Sichtweise, die auch durch das Grundgesetz bestätigt wird. Die Tarifvertragsparteien dürfen demnach in die Rentendynamik
eingreifen. Aus der in § 17 Abs. 3 BetrAVG zugleich erklärten Abdingbarkeit des
§ 2 Abs. 1 BetrAVG folgt dagegen zunächst nur, dass die Tarifvertragsparteien nicht
735
B/R/O/Rolfs, BetrAVG, § 17 Rn. 173 a.E.
736
Vgl. dazu insbesondere BVerfG 15.7.1998, E 98, 365, 397 sowie BVerfG 20.3.2001, E 103,
172, 183; BVerfG 3.11.1982, E 62, 117, 146; BVerfG 8.2.1977, E 43, 291, 363; Jarass/-
Pieroth/Jarass, GG, Art. 12 Rn. 8; Maunz/Dürig/Scholz, GG, Bd. 2, Art. 12 Rn. 291.
737
FS Schaub, S. 727, 732.
738
Zur Frage einer Differenzierung zwischen verfallbaren und unverfallbaren Versorgungsanwartschaften unten 5 b, S. 203 f.
190
in beliebiger Weise in erdiente Versorgungsrechte (Versorgungsansprüche und unverfallbare Versorgungsanwartschaften) eingreifen dürfen. Dies ergibt sich indes
bereits aus dem oben dargestellten Erfordernis einer Interessenabwägung.739 Eine
die Interessenabwägung konkretisierende Wertentscheidung des Gesetzgebers enthält das Betriebsrentengesetz insoweit also nicht. Demgemäß ist zur Bestimmung
des Schutzniveaus auf die allgemeinen Abwägungskriterien abzustellen, insbesondere auf Ranghöhe und Art des betroffenen Rechtsguts, auf Art, Höhe und Ausmaß
drohender Gefahren und auf die Bedeutung der den Eingriff fordernden Interessen.
4. Die Abwägungskriterien im Einzelnen
a) Interessen des Arbeitnehmers
aa) Ranghöhe und Art des bedrohten Rechtsguts
Bereits erdiente Versorgungsrechte genießen einen anderen grundrechtlichen Schutz
als Versorgungsrechte, die zum Ablösungsstichtag noch nicht erdient sind. Während
erdiente Versorgungsrechte zum verfassungsrechtlich geschützten Eigentum zählen
und damit dem Schutzbereich des Art. 14 GG unterfallen, sind nicht erdiente Versorgungsrechte lediglich durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt.740 Demgemäß ist zu
unterscheiden:
(1) Erdiente Versorgungsrechte
Die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG steht – in den Worten des BVerfG – in einem
„inneren Zusammenhang mit der Gewährleistung persönlicher Freiheit“741 und enthält eine „Wertentscheidung von besonderer Bedeutung für den sozialen Rechtsstaat“742. Sie soll dem Grundrechtsträger einen Freiraum im vermögensrechtlichen
Bereich sichern und ihm so eine eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens
ermöglichen.743
739
Oben 2, S. 183 f.
740
Zum grundrechtlichen Schutz von Versorgungsrechten vgl. oben Kap. 2 A IV, S. 80 ff.
741
BVerfG 14.6.2004, WM 2004, 1378, 1379; BVerfG 16.2.2000, E 102, 1, 15; BVerfG
28.2.1980, E 53, 257, 290; BVerfG 1.3.1979, E 50, 290, 339; BVerfG 7.8.1962, E 14, 263,
277.
742
BVerfG 16.2.2000, E 102, 1, 15; BVerfG 24.3.1976, E 42, 64, 76; BVerfG 7.8.1962, E 14,
263, 277.
743
BVerfG 18.1.2006, NJW 2006, 1191, 1192; BVerfG 16.2.2000, E 102, 1, 15; BVerfG
31.3.1998, E 97, 350, 371; BVerfG 9.1.1991, E 83, 201, 208; BVerfG 28.2.1980, E 53, 257,
290; BVerfG 18.12.1968, E 24, 367, 389.
191
Einen besonders ausgeprägten Schutz genießt das Eigentum nach Auffassung des
BVerfG, wenn es sich als Element der Sicherung persönlicher Freiheit darstellt.744
Dies ist, da sich die persönliche Freiheit ganz wesentlich nach den eigenen finanziellen Verhältnissen sichert, bei der Zusage von Leistungen aus einer betrieblichen
Altersversorgung der Fall. Mit den zugesagten Versorgungsleistungen soll dem
Arbeitnehmer oder seinen Hinterbliebenen ermöglicht werden, den bisherigen Lebensstandard auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zumindest annähernd aufrechtzuerhalten.745 Versorgungsleistungen sind daher ein Element der Sicherung persönlicher Freiheit und gegen einen Entzug in der Anwartschafts- oder
Rentenphase grundsätzlich umfassend geschützt. Besonderen Schutz genießen dabei
Versorgungsleistungen, die der Arbeitnehmer durch Beiträge selbst finanziert hat;
sie müssen dem Arbeitnehmer in jedem Fall erhalten bleiben. Eine Enteignung – die
an den engen Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 3 GG zu messen wäre – liegt in dem
Entzug bereits erdienter Versorgungsrechte allerdings nicht. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG tragen aus Tarifnormen erwachsende Einzelansprüche von
vornherein die Schwäche ihrer rückwirkenden Abänderbarkeit in sich.746 Das heißt
nichts anderes, als dass die Tarifvertragsparteien grundsätzlich ermächtigt sind, auch
eigentumsgeschützten Versorgungsrechten rückwirkend einen anderen Inhalt zu
geben. Die Herabsetzung bereits erdienter Versorgungsrechte ist damit keine Enteignung, sondern eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums (Art. 14
Abs. 1 Satz 2 GG).747 Gleichwohl genießen erdiente Versorgungsrechte – als Element der Sicherung persönlicher Freiheit – grundsätzlich einen besonderen Schutz.
Andererseits betont das BVerfG in ständiger Rechtsprechung, dass die Befugnis
des Gesetzgebers zur Inhalts- und Schrankenbestimmung umso weiter reicht, je
mehr das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug und einer sozialen Funktion
steht.748 Dies müsste an sich auch für die Eingriffsbefugnis der Tarifvertragsparteien
gelten. Insofern könnte man daran denken, die Rechtsprechung des BVerfG zur
gesetzlichen Rentenversicherung heranzuziehen, für die das BVerfG einen sozialen
Bezug angenommen hat. Bei rentenversicherungsrechtlichen Ansprüchen und Anwartschaften lasse sich – so das BVerfG – die Berechtigung des einzelnen „Eigentümers“ von den Rechten und Pflichten anderer nicht lösen, sondern füge sich in
einen Gesamtzusammenhang ein, der auf dem Gedanken der Solidargemeinschaft
744
BVerfG 14.7.1999, E 101, 54, 75; BVerfG 2.3.1999, E 100, 226, 241; BVerfG 15.10.1996, E
95, 64, 84; BVerfG 19.6.1985, E 70, 191, 201; BVerfG 8.7.1976, E 42, 263, 294.
745
Vgl. BAG 20.12.2001, AP BetrAVG § 1 Invaliditätsrente Nr. 13 (II 2 e bb); BAG 3.11.1998,
AP BetrAVG § 1 Nr. 36 (B II); BAG 8.5.1990, AP BetrAVG § 7 Nr. 58 (I 2 b).
746
BAG 23.11.1994, AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 12 (II 2 c cc).
747
So im Ergebnis auch BAG 23.11.1994, AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 12 (II 2 c cc): rückwirkende Herabsetzung eines aus einer Tarifnorm erwachsenen Einzelanspruchs keine Enteignung; bestätigt durch BAG 14.11.2001, EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 16 (B 1 d bb); vgl.
zuvor schon Biedenkopf, Grenzen, S. 241 f.
748
BVerfG 14.7.1999, E 101, 54, 75 f.; BVerfG 2.3.1999, E 100, 226, 241; BVerfG 15.10.1996,
E 95, 64, 84; BVerfG 28.2.1980, E 53, 257, 292.
192
und des „Generationenvertrages“ beruhe.749 Ein äußerer Zusammenhang besteht
zwar auch bei tariflichen Versorgungssystemen, da die Versorgungsleistungen nach
einheitlichen Grundsätzen erbracht werden und, wichtiger, für alle Arbeitnehmer
über denselben Versorgungsträger abgewickelt werden, der meist zugleich eine
gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien ist. Dennoch können die für die
gesetzliche Rentenversicherung entwickelten Grundsätze nicht übertragen werden.750 Entscheidend ist, dass die versprochenen Versorgungsleistungen trotz des
kollektiven Bezugs Entgelt für vorgeleistete Betriebstreue sind. Sie beruhen unmittelbar auf einer eigenen Leistung des Arbeitnehmers. Prägend für die betriebliche
Altersversorgung ist damit deren Entgeltcharakter, nicht der Solidargedanke. Entsprechend kommt Versorgungsrechten – auch soweit sie auf einem Tarifvertrag
beruhen – keine ausgeprägte soziale Funktion zu, die eine über das Normalmaß
hinausgehende Eingriffsbefugnis rechtfertigen würde.
Im Vergleich zu anderen Grundrechten ergibt sich freilich ein etwas anderes Bild.
Gegenstand der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie ist nach Art. 9 Abs. 3 GG
gerade die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Im
Hinblick hierauf erfolgt auch der Verbandsbeitritt. Mit dem Verbandsbeitritt bezwecken die beitretenden Arbeitnehmer, dass die Gewerkschaft ihre Arbeitsbedingungen durch Vereinbarung mit dem Arbeitgeberverband regelt. Dafür bedarf es eines
Handlungsspielraums. Dieser muss umso weiter reichen, je enger die zu regelnde
Materie mit dem Zweck des Verbandsbeitritts in Zusammenhang steht. Insofern
stehen insbesondere die wirtschaftlichen Grundrechte der Art. 12 und 14 GG zur
Disposition der Tarifvertragsparteien.751 In sie können die Tarifvertragsparteien
weiter gehend eingreifen, als etwa in die Meinungs-, Gewissens- oder Religionsfreiheit.
Insgesamt zeigt sich jedoch, dass erdiente Versorgungsrechte einen erheblichen
eigentumsrechtlichen Schutz genießen; das gilt vor allem, soweit sie auf Eigenbeiträgen der Arbeitnehmer beruhen.
(2) Künftig zu erdienende Versorgungsrechte
Lediglich durch die in Art. 2 Abs. 1 GG verankerte allgemeine Handlungsfreiheit
geschützt werden dagegen zugesagte, aber zum Ablösungsstichtag noch nicht erdiente Versorgungsrechte; zu diesen zählt entgegen der Auffassung des BAG auch
die sog. „erdiente Dynamik“752. Die allgemeine Handlungsfreiheit steht unter einem
weiten Schrankenvorbehalt. Art. 2 Abs. 1 GG schützt die wirtschaftliche Betätigung
nur, soweit sie nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstößt. Da zu dieser
749
BVerfG 1.7.1981, E 58, 81, 109 f.; BVerfG 28.2.1980, E 53, 257, 292.
750
Zutreffend Steinmeyer, GedS Blomeyer, S. 423, 427.
751
Däubler/Schiek, TVG, Einleitung Rn. 275; Dieterich, FS Schaub, S. 117, 126 f.; vgl. auch
Zachert, Anm. BAG 24.4.2001, AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 243 (III).
752
Oben Kap. 2 A II 2, S. 71 f.
193
alle formell und materiell verfassungsgemäßen Gesetze zählen,753 ist der durch die
allgemeine Handlungsfreiheit gewährleistete Schutz nicht erdienter Versorgungsanwartschaften erheblich geringer anzusetzen, als der bereits erdienter Versorgungsanwartschaften und -ansprüche.
bb) Vertrauensschutz
In engem Zusammenhang mit den grundrechtlichen Gewährleistungsgehalten steht
das Vertrauensschutzprinzip, das seine Grundlage nicht nur im Rechtsstaatsprinzip,
sondern auch in den einzelnen Grundrechtsverbürgungen findet754 und das für vermögenswerte Rechte in Art. 14 GG eine besondere Ausprägung erfahren hat.755
Insoweit in bereits erdiente Versorgungsrechte rückwirkend eingegriffen wird, verstärkt daher das Vertrauen der Arbeitnehmer den eigentumsrechtlichen Schutz. Gleiches gilt grundsätzlich auch für noch nicht erdiente Versorgungsrechte. Da diese
nicht in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie fallen, ist insofern allerdings
Art. 2 Abs. 1 GG anzuwenden.
Das Maß des Vertrauensschutzes bestimmt sich entgegen der Auffassung des
BAG nicht nach den Grundsätzen über die echte und unechte Rückwirkung von
Gesetzen. Die Tarifvertragsparteien sind – was eine Übertragung auf Tarifverträge
voraussetzen würde – weder unmittelbar an die Grundrechte noch an das Rechtsstaatsprinzip gebunden. Der Umfang des Vertrauensschutzes kann folglich nur durch
einen Rückgriff auf allgemeine Grundsätze bestimmt werden. Entscheidend ist, (1)
ob der betroffene Arbeitnehmer auf den Fortbestand des Versorgungsrechts generell
vertrauen durfte, (2) inwieweit gerade das in einen Tarifvertrag gesetzte Vertrauen
schutzwürdig ist, (3) ob der Arbeitnehmer sein Vertrauen bereits betätigt hat und (4)
ob der betroffene Arbeitnehmer mit einer Änderung der tariflichen Versorgungsregelungen gerechnet hat oder hätte rechnen müssen.
(1) Bestehen schutzwürdigen Vertrauens
Insoweit sie die ihnen obliegende Leistung bereits erbracht haben, dürfen Arbeitnehmer grundsätzlich auf den Fortbestand zugesagter Versorgungsrechte vertrau-
753
BVerfG 3.4.2001, E 103, 197, 215; BVerfG 10.4.1997, E 96, 10, 21; BVerfG 8.4.1997, E 95,
267, 306; BVerfG 9.3.1994, E 90, 145, 171 f.; die Schranken der „Rechte anderer“ und des
„Sittengesetzes“ sind neben der der „verfassungsmäßigen Ordnung“ ohne praktische Bedeutung, vgl. stellvertretend Jarass/Pieroth/Jarass, GG, Art. 2 Rn. 18 f.
754
Zur Verankerung des Vertrauensschutzprinzips in der Rechtsordnung vgl. oben Kap. 3 F II 3,
S. 168 f.
755
BVerfG 23.11.1999, E 101, 239, 257, 262 ff.; BVerfG 15.10.1996, E 95, 64, 81 f., 86 f.
194
en.756 Sie haben die Versorgungsleistungen bereits mit ihrer Betriebstreue erdient,
sind also in Vorleistung getreten.757 Eine Herabsetzung der bereits erdienten Versorgungsansprüche und Versorgungsanwartschaften würde ihnen rückwirkend die Gegenleistung entziehen. Ihr Vertrauen ist dabei umso schutzwürdiger, je näher der
Versorgungsfall heranrückt.
Andererseits ist nicht jedes Vertrauen schutzwürdig. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG dürfen Arbeitnehmer nicht in schutzwürdiger Weise darauf vertrauen, nach Eintritt des Versorgungsfalls eine Versorgungsrente zu erhalten, die ihr
letztes Nettoaktiveneinkommen bzw. das Nettoeinkommen vergleichbarer aktiver
Arbeitnehmer übersteigt. Die Zusage von Versorgungsleistungen diene dazu, den
versorgungsberechtigten Arbeitnehmern nach Eintritt des Versorgungsfalls eine
annähernde Aufrechterhaltung ihres bisherigen Lebensstandards zu ermöglichen. Ihr
Zweck sei dagegen nicht, Arbeitnehmern darüber hinausgehende Leistungen zu
verschaffen. Der Abbau einer planwidrigen und im öffentlichen Dienst – wegen des
Gebots des sparsamen und wirtschaftlichen Haushaltens – auch einer plangemäßen
Überversorgung ist daher aus Vertrauensschutzgesichtspunkten nicht zu beanstanden.758 Insoweit kann also in bereits erdiente Versorgungsrechte, auch rentennaher
Jahrgänge, eingegriffen werden.
Ebenfalls nicht schutzwürdig ist das Vertrauen der Arbeitnehmer in die Halbanrechnung von Vordienstzeiten, wie sie etwa die VBL-Satzung bis zur Umstellung
des Gesamtversorgungssystems 2002 vorsah. Arbeitnehmer, die vor ihrer Übernahme in den öffentlichen Dienst in der Privatwirtschaft beschäftigt waren, wurden
durch sie regelmäßig schlechter gestellt als Arbeitnehmer, die ausschließlich im
öffentlichen Dienst tätig waren. Das BVerfG hat die Halbanrechnung von Vordienstzeiten folgerichtig wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz
zum Ablauf des 31.12.2000 für verfassungswidrig erklärt.759 Da eine verfassungswidrige und damit nichtige Bestimmung kein schutzwürdiges Vertrauen begründen
kann,760 konnten die bei der Systemumstellung 2002 noch rentenfernen Arbeitnehmer, bei denen sich die Halbanrechnung ausnahmsweise günstig auswirkte, nicht in
schutzwürdiger Weise auf die Fortdauer der Halbanrechnung vertrauen.761
756
Etwa BVerfG 19.10.1983, E 65, 196, 214; BAG 17.4.1985, AP BetrAVG § 1 Unterstützungskassen Nr. 4 (B II 3 c [3]); B/R/O/Rolfs, BetrAVG, Anh § 1 Rn. 619; Höfer, BetrAVG,
Rn. 573 f. jeweils m.w.N.
757
Zum Bestehen eines Austauschverhältnisses zwischen Betriebstreue und Versorgungsleistung
vgl. oben Kap. 1 A II, S. 30 f.
758
St. Rspr., BAG 11.12.2001, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 36 (II 1); BAG 28.7.1998, AP
BetrAVG § 1 Überversorgung Nr. 4 (B I 3 a); BAG 23.9.1997, AP BetrAVG § 1 Ablösung
Nr. 26 (B II 3 a); B/R/O/Rolfs, BetrAVG, Anh § 1 Rn. 498 ff., 501; ErfK/Steinmeyer, Vorbem. BetrAVG Rn. 24a, 32; F/R/C/S, BetrAVG, § 1 Rn. 229 ff.; zum (zulässigen) Abbau einer plangemäßen Überversorgung im öffentlichen Dienst vgl. BAG 19.11.2002, AP BetrAVG
§ 1 Ablösung Nr. 40 (B I 3 c aa); BAG 20.2.2001, EzA BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 24 (I 2 a
aa und bb).
759
BVerfG 22.3.2000, AP BetrAVG § 18 Nr. 27.
760
BVerfG 17.1.1979, E 50, 177, 193 f.; BVerfG 16.11.1965, E 19, 187, 197.
761
BGH 14.11.2007, BetrAV 2008, 203, 212.
195
Nicht schutzwürdig ist auch die Erwartung der versorgungsberechtigten Arbeitnehmer, das tarifliche Versorgungssystem werde in Zukunft nicht geändert und es
werde ihnen deswegen möglich sein, auch künftig Versorgungsanwartschaften nach
den bislang geltenden tariflichen Regelungen zu erdienen.762 Tarifverträge können
durch einen zeitlich nachfolgenden Tarifvertrag jederzeit mit Wirkung für die Zukunft abgeändert werden. Schutzwürdiges Vertrauen auf den unveränderten Fortbestand eines tariflichen Versorgungssystems kann damit nicht entstehen. Dies entspricht im Übrigen auch der Ansicht des BGH. Dieser ist in mehreren Entscheidungen davon ausgegangen, in einem Dauerschuldverhältnis dürfe nicht darauf vertraut
werden, dass dieses nicht mit Wirkung für die Zukunft gekündigt werde.763 Zugesagte, zum Ablösungsstichtag aber noch nicht erdiente Versorgungsanwartschaften
genießen daher keinerlei Vertrauensschutz.
(2) Tarifvertrag als Vertrauensgrundlage
Vertrauen knüpft stets an eine bestimmte Grundlage an.764 Bei tariflichen Eingriffen
in die betriebliche Altersversorgung ist Vertrauensgrundlage der bisherige, dem
versorgungsberechtigten Arbeitnehmer günstigere Versorgungstarifvertrag. An ihm
richtet er sein Verhalten aus. Im Unterschied zu anderen Rechtsakten, die als Vertrauensgrundlage in Betracht kommen (individualvertragliche Zusage, Betriebsvereinbarung), trägt bereits das Tarifrecht selbst dem Vertrauen weitgehend Rechnung.
Anders als bei individualvertraglichen Zusagen und Betriebsvereinbarungen ist zur
verschlechternden Abänderung einer tariflichen Versorgungszusage in aller Regel
eine Einigung der Tarifvertragsparteien erforderlich. Da die Tarifvertragsparteien
zudem gleich mächtig sind, ist grundsätzlich gewährleistet, dass die Interessen der
Arbeitnehmerseite – und damit auch das in den Fortbestand der tariflichen Regelung
gesetzte Vertrauen – im ablösenden Tarifvertrag angemessen berücksichtigt sind.
Das bedeutet umgekehrt, dass das Vertrauen des Arbeitnehmers, wenn eine Einigung zwischen den Tarifvertragsparteien einmal zustande gekommen ist, weniger
schutzwürdig ist. An ablösende Versorgungstarifverträge sind daher grundsätzlich
geringere Vertrauensschutzanforderungen als an den Widerruf individualvertraglicher Versorgungszusagen oder an ablösende Betriebsvereinbarungen zu stellen.
Der Umfang des Vertrauensschutzes hängt aber nicht nur von der Vertrauensgrundlage selbst, sondern auch davon ab, wie stark sie Anlass gegeben hat, auf den
762
Käppler, Anm. BAG 11.5.1999, AP BetrAVG § 1 Betriebsvereinbarung Nr. 6 (5); Kraft,
Anm. BAG 18.4.1989, SAE 1990, 184, 186; im Ergebnis auch Blomeyer/Vienken, Anm. BAG
17.8.1999, SAE 2000, 230, 236.
763
BGH 17.3.1994, NJW 1994, 3156, 3157; BGH 8.7.1993, NJW 1993, 3131; BGH 20.2.1992,
NJW-RR 1992, 780, 781; BGH 7.1.1982, NJW 1982, 2181, 2182.
764
Vgl. Isensee/Kirchhof/Maurer, HdbStR, Bd. IV, § 79 Rn. 13; Mainka, Vertrauensschutz,
S. 31; Muckel, Kriterien, S. 80; Ossenbühl, Rücknahme, S. 80 f.; Renck, NJW 1970, 737, 739;
Weber-Dürler, Vertrauensschutz, S. 79; Kisker, VVDStRL 32 (1974), S. 149, 163 f.
196
Fortbestand der Rechtslage zu vertrauen.765 Besonders schutzwürdig ist das Vertrauen, wenn erst die Regelung, in die das Vertrauen gesetzt wird, bei dem Betroffenen
ein bestimmtes Verhalten hervorgerufen hat (sog. Lenkungsnorm), etwa indem ihm
hierfür ein finanzieller Vorteil versprochen wurde.766 So verhält es sich auch bei
Versorgungstarifverträgen. Diese lenken das Verhalten des Arbeitnehmers, indem
sie ihm für seine Betriebstreue Versorgungsleistungen versprechen. Dadurch wird
ein finanzieller Anreiz geschaffen, den Arbeitsplatz nicht zu wechseln. Das Vertrauen in zugesagte und bereits erdiente tarifliche Versorgungsrechte ist demgemäß
schutzwürdiger, als beispielsweise dasjenige in den Fortbestand eines Entgelt- oder
Arbeitszeittarifvertrags.
(3) Besonderer Schutz betätigten Vertrauens
Betätigtes Vertrauen genießt besonderen Schutz.767 Ein Arbeitnehmer, der ein ihm
zugesagtes Versorgungsrecht bereits erdient hat, hat sein Vertrauen dadurch betätigt,
dass er dem Betrieb bis zum Ablösungsstichtag treu geblieben ist und die ihm obliegende Leistung damit erbracht hat. Außerdem wird er es im Hinblick auf die zugesagten Versorgungsleistungen regelmäßig unterlassen haben, eine adäquate Eigenvorsorge zu treffen. Auch hierdurch hat er sein Vertrauen betätigt.
(4) Vorhersehbarkeit einer Änderung des Versorgungssystems
Das Entstehen schutzwürdigen Vertrauens ist dagegen ausgeschlossen, soweit die
versorgungsberechtigten Arbeitnehmer die Änderung des Versorgungssystems vorhersehen konnten, d.h. in dem Zeitpunkt, auf den der Tarifvertrag zurückbezogen
wird, mit einer Änderung der Rechtslage rechneten oder rechnen mussten.768
Setzt ein Tarifvertrag Versorgungsleistungen herab, ohne die Kürzung auf einen
bestimmten Zeitabschnitt zu beschränken, wirkt er auf den Zeitpunkt zurück, in dem
die Versorgungszusage erteilt wurde. Dieser Zeitpunkt unterscheidet sich von Arbeitnehmer zu Arbeitnehmer. Wird die für den Versorgungsfall zugesagte Leistung
z.B. um ein Fünftel herabgesetzt, sinkt der Wert der vom Arbeitnehmer je Monat
erbrachten Betriebstreue von der Erteilung der Versorgungszusage an ebenfalls um
ein Fünftel. Der Eingriff wirkt damit bereits auf einen sehr frühen Zeitpunkt zurück,
765
Muckel, Kriterien, S. 81 f.
766
BVerfG 3.12.1997, E 97, 67, 80; Arndt/Schumacher, NJW 1998, 1538, 1539; Isensee/-
Kirchhof/Maurer, HdbStR, Bd. IV, § 79 Rn. 84 (bezogen auf Maßnahmegesetze); Kisker,
VVDStRL 32 (1974), S. 149, 162, 164 ff.; Muckel, Kriterien, S. 81 f.; Rensmann, JZ 1999,
168, 171 f.
767
Kap. 3 F II 2 b, S. 165 ff.
768
BVerfG 15.10.1996, E 95, 64, 87; BVerfG 23.3.1971, E 30, 367, 387; BVerfG 19.12.1961, E
13, 261, 272.
197
in dem der Arbeitnehmer regelmäßig nicht mit einer Änderung rechnen konnte.
Anders sieht es aus, wenn die Tarifvertragsparteien den Eingriff ausdrücklich auf die
dem Ablösungsstichtag vorangegangenen Monate beschränken, etwa die in einem
Zeitraum von sechs Monaten vor Inkrafttreten des Tarifvertrags sowie die künftig
gezeigte Betriebstreue nur noch mit der Hälfte des bisherigen Faktors berücksichtigen wollen. Ein Vertrauensschutz der Arbeitnehmer in diesem Zeitraum ist damit
(jedenfalls soweit die Absicht der Tarifvertragsparteien, die tariflichen Versorgungsrechte neu zu regeln, öffentlich bekannt geworden ist) ausgeschlossen. Eine derartige Regelung wird jedoch regelmäßig nicht geeignet sein, die Kosten des Versorgungssystems nachhaltig zu senken. Die Kürzungen der erdienten Versorgungsrechte mögen zwar in dem fraglichen Zeitraum zu hohen Kosteneinsparungen führen,
fallen bezogen auf die gesamte bisherige Laufzeit der Versorgungszusage jedoch
kaum ins Gewicht.
In der Rechtsprechung wird unterschiedlich beurteilt, ab welchem Zeitpunkt die
Normunterworfenen mit einer Neuregelung rechnen müssen. So soll es nach einer
frühen Entscheidung des BVerfG bei staatlichen Gesetzen nicht genügen, dass Berichte über einen Gesetzesentwurf oder Gesetzesinitiativen bekannt werden. Vielmehr sei der Zeitpunkt maßgeblich, in dem der Bundestag das Gesetz beschließe.769
In einigen Entscheidungen hat es das BVerfG dagegen genügen lassen, dass sich
eine bestimmte Entwicklung abzeichnet770 oder das Bundeskabinett einen entsprechenden Beschluss fasst771. Für Tarifverträge hat das BAG demgegenüber angenommen, dass eine gemeinsame Erklärung der Tarifvertragsparteien, eine ungekündigte tarifliche Regelung werde zu einem bestimmten Zeitpunkt einen anderen,
näher beschriebenen Inhalt erhalten, jedenfalls geeignet sei, das Vertrauen zu zerstören.772 Darüber hinaus wird man das Vertrauen der Arbeitnehmer auch dann als
zerstört anzusehen haben, wenn eine Tarifvertragspartei den bestehenden Versorgungstarifvertrag kündigt und eine Herabsetzung der Versorgungsleistungen fordert.
Ebenfalls erschüttert sein kann das Vertrauen im Einzelfall auch durch eine intensive
öffentliche Diskussion über die Notwendigkeit, die tariflich zugesagten Versorgungsleistungen herabzusetzen, wie sie etwa 1983 dem Abbau der Überversorgung
im öffentlichen Dienst voranging.773 Auch eine Information der Mitglieder in Flugblättern über geführte Verhandlungen kann bei einer Gesamtbetrachtung ausreichend sein.774 Dabei genügt die Kenntnis der betroffenen Kreise, um das in den
769
BVerfG 11.10.1962, E 14, 288, 298; bestätigt durch BVerfG 3.12.1997, E 97, 67, 79; BVerfG
10.3.1971, E 30, 272, 287; BVerfG 29.10.1969, E 27, 167, 173 f.
770
BVerfG 20.10.1971, E 32, 111, 126.
771
BVerfG 15.1.1992, NJW 1992, 2877, 2878.
772
BAG 17.5.2000, AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 19 (I 2 b bb); BAG 23.11.1994, AP TVG § 1
Rückwirkung Nr. 12 (II 2 c dd).
773
BGH 16.3.1988, AP BetrAVG § 1 Zusatzversorgungskassen Nr. 25 (II 2 d). Umfangreiche
Nachweise zu der der Änderung vorangegangenen öffentlichen Diskussion bei Hautmann,
Zusatzversorgung, S. 1 Fn. 1.
774
BAG 17.5.2000, AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 19 (I 2 c).
198
Tarifvertrag gesetzte Vertrauen zu zerstören.775 Die Kenntnis jedes Einzelnen ist
nicht erforderlich.
(5) Zwischenergebnis
Das in den Fortbestand einer tariflichen Regelung gesetzte Vertrauen ist nur schutzwürdig, soweit es sich auf bereits erdiente Versorgungsrechte erstreckt. Das Vertrauen in zugesagte, aber noch nicht erdiente Versorgungsrechte ist demgegenüber
(wegen der jederzeitigen Abänderbarkeit von Tarifverträgen) nicht schutzwürdig.
Gleiches gilt für das Vertrauen in die Aufrechterhaltung einer Überversorgung und
in die Beibehaltung der Halbanrechnung von Vordienstzeiten.
Soweit das Vertrauen schutzwürdig ist, ist der Schutz grundsätzlich umfassend.
Der Arbeitnehmer hat die ihm nach der Versorgungszusage obliegende Leistung
bereits erbracht und sein Vertrauen damit betätigt; er kann die erbrachte Leistung
nicht zurückfordern. Ein hohes Schutzniveau folgt zudem aus dem Lenkungscharakter von Versorgungszusagen. Das Vertrauen des Arbeitnehmers ist dabei umso
schutzwürdiger, je näher der Versorgungsfall bevorsteht.
Im Vergleich zu Versorgungszusagen, die auf einer individualvertraglichen Abrede oder einer Betriebsvereinbarung beruhen, ist der Vertrauensschutz allerdings
geringer. Das Einigungserfordernis bürgt grundsätzlich dafür, dass das vom Arbeitnehmer in den unveränderten Fortbestand des Tarifvertrags gesetzte Vertrauen angemessen berücksichtigt wurde.
cc) Angewiesenheit auf die Verbandsmitgliedschaft?
Ein erhöhtes Schutzbedürfnis könnte aber daraus folgen, dass Arbeitnehmer infolge
ihrer strukturellen Unterlegenheit gegenüber Arbeitgebern auf eine Mitgliedschaft in
der Gewerkschaft angewiesen sind, der Beitritt also nur bedingt freiwillig erfolgt.776
Die Rechtswirklichkeit zeigt jedoch, dass die Gewerkschaften kontinuierlich an
Mitgliedern verlieren.777 Der Austritt bleibt fast immer folgenlos, da der Tarifinhalt
in tarifgebundenen Betrieben zumeist ohnehin arbeitsvertraglich vereinbart wird.
Zudem orientieren sich zahlreiche nicht tarifgebundene Arbeitgeber am Tarifver-
775
BAG 22.10.2003, AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 21 (II 3 a); BAG 20.4.1999, AP BetrVG
1972 § 77 Tarifvorbehalt Nr. 12 (III); BAG 23.11.1994, AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 12 (II
2 c dd); BAG 1.6.1988, Az. 4 AZR 27/88, n.v.
776
Diese Überlegung findet sich beispielsweise bei Däubler/Schiek, TVG, Einleitung Rn. 232.
777
Vgl. Ebbinghaus, Mitgliederschwund, Working Paper 02/3 des Max-Planck-Instituts für
Gesellschaftsforschung, März 2002, abrufbar unter www.mpi-fg-koeln.mpg.de/pu/workpap/wp02-3/wp02-3.html (letzter Abruf 15.10.2008).
199
trag.778 Das einzelne Verbandsmitglied ist somit nicht zwingend auf die Mitgliedschaft angewiesen.
b) Gewicht der die Änderung fordernden Interessen
Den angeführten Interessen der versorgungsberechtigten Arbeitnehmer stehen andererseits auch Interessen gegenüber, die eine Änderung des Versorgungstarifvertrages
fordern.
aa) Kollektive Koalitionsfreiheit
(1) Recht zur eigenverantwortlichen Interessenwahrnehmung
Auch die Tarifvertragsparteien sind Grundrechtsträger. Ihre Interessen sind durch
die in Art. 9 Abs. 3 GG verankerte kollektive Koalitionsfreiheit geschützt. Von
Art. 9 Abs. 3 GG ist insbesondere das Recht zur eigenverantwortlichen Interessenwahrnehmung umfasst.779 Dazu gehört auch, mehrheitlich einen Beschluss zu fassen
und diesen in den darauf folgenden Tarifverhandlungen auch mit Wirkung für die in
der Abstimmung unterlegene Verbandsminderheit umzusetzen. Grundrechtliche
Schutzpflichten, die Tarifverträgen zu Gunsten der Verbandsminderheit die rechtliche Anerkennung versagen, beschränken dieses Recht. Sie sind deshalb im Wege
praktischer Konkordanz mit der kollektiven Koalitionsfreiheit in Ausgleich zu bringen.
Der kollektiven Koalitionsfreiheit kommt in der Interessenabwägung ein hohes
Gewicht zu. Die Gleichgewichtigkeit der Tarifvertragsparteien bürgt grundsätzlich
für einen angemessenen Ausgleich der kollidierenden Interessen. Ihnen kommt –
gerade auch aufgrund ihrer besonderen Sachnähe – ein Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu. Das hat auch der Gesetzgeber anerkannt, indem er in § 17 Abs. 3
Satz 1 BetrAVG zentrale Vorschriften des Betriebsrentengesetzes zur Disposition
der Tarifvertragsparteien stellte. Jeder staatliche Eingriff in die kollektive Koalitionsfreiheit, sei es auch nur zum Schutz der Verbandsminderheit vor der eigenen
Tarifvertragspartei, bedarf daher einer besonderen Rechtfertigung. Die die Änderung
des tariflichen Versorgungssystems fordernde kollektive Koalitionsfreiheit ist demgemäß, wie auf der anderen Seite auch der Eigentumsschutz erdienter Versorgungsrechte, von zentraler Bedeutung.
778
Zur Leitfunktion von Tarifverträgen vgl. die Publikation des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit „Tarifvertragliche Arbeitsbedingungen im Jahr 2004“, S. 10 f.
779
BVerfG 2.3.1993, E 88, 103, 114 f.
200
(2) Legitimierende Wirkung des Verbandsbeitritts
Das Gewicht der kollektiven Koalitionsfreiheit wird durch die legitimierende Wirkung des Verbandsbeitritts verstärkt. Mit dem Beitritt unterwirft sich das Mitglied
der tariflichen Regelungsgewalt. Ein Vorbehalt, nur günstige Regelungen gegen sich
gelten zu lassen, ist nicht erklärt. Er wäre zudem auch unwirksam, da er die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems in Frage stellte.780 Dem Mitglied ist bewusst,
dass ein Beitritt Chancen und Risiken birgt. Daran muss es sich grundsätzlich festhalten lassen.
(3) Verfahrensrechtlicher Schutz der Verbandsminderheit
Das Verhältnis der kollektiven Koalitionsfreiheit zu den Individualgrundrechten der
Mitglieder wird ganz erheblich durch die Teilhabe an der innerverbandlichen Willensbildung bestimmt: Je stärker die Rechte der Verbandsminderheit bereits verfahrensrechtlich, durch Stimm- oder andere Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte, abgesichert sind, desto höher ist das Gewicht der kollektiven Koalitionsfreiheit im
Verhältnis zu den Individualgrundrechten der Mitglieder.781
Grundsätzlich gilt, dass die Normsetzung gegenüber den Verbandsmitgliedern
hinreichend legitimiert sein muss. Der Beitritt zum Verband legitimiert die tarifliche
Normsetzungsbefugnis zwar, reicht für sich allein aber noch nicht aus. Den Verbandsmitgliedern muss über den Beitritt hinaus eine gleichberechtigte und effektive
Teilnahme an der innerverbandlichen Willensbildung offen stehen.782 Die Tarifvertragsparteien sind deswegen auf einen demokratischen Mindeststandard verpflichtet;
dieser schreibt zumindest ein satzungsförmiges allgemeines und gleiches Wahlrecht
zu den Verbandsorganen vor.783 Zwischen dem einzelnen Verbandsmitglied und
dem die konkrete Entscheidung treffenden Organ muss eine ununterbrochene Legitimationskette bestehen.784
Wegen des kleineren Mitgliederkreises kann das Verbandsmitglied auf die Willensbildung der Tarifvertragspartei zwar wesentlich direkter einwirken als der Bürger auf die Willensbildung von Parlament und Regierung.785 Zahlreiche Untersu-
780
Vgl. Dieterich, FS Schaub, S. 117, 126; A. Wiedemann, Bindung, S. 127; zur legitimierenden
Wirkung des Verbandsbeitritts oben Kap. 1 B III 5, S. 45 f.
781
Eine Korrelation von verfahrensrechtlicher Teilhabe und richterlicher Schutzverpflichtung
betont auch A. Wiedemann, Bindung, S. 181; grundsätzlich auch Däubler/Schiek, TVG, Einleitung Rn. 233, der auf „Repräsentanzdefizite im Verhältnis der Koalitionen zu ihren Mitgliedern“ abstellt.
782
ErfK/Franzen, § 2 TVG Rn. 15; Kempen/Zachert/Kempen, TVG, § 2 Rn. 33; Lessner, RdA
2005, 285, 287 f.; Löwisch/Rieble, TVG, § 2 Rn. 30; Wiedemann/Oetker, TVG, § 2
Rn. 341 ff.; vgl. auch BAG 18.7.2006, NZA 2006, 1225, 1230.
783
Kempen/Zachert/Kempen, TVG, § 2 Rn. 33; Lessner, RdA 2005, 285, 287 f.
784
Kempen/Zachert/Kempen, TVG, § 2 Rn. 33.
785
BAG 23.11.1994, AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 12 (II 2 c cc).
201
chungen belegen jedoch, dass die tatsächliche tarifpolitische Willensbildung786 meist
von „oben nach unten“ erfolgt, der tatsächliche Einfluss des einzelnen Verbandsmitglieds auf das Tarifergebnis also als eher gering einzuschätzen ist.787 Das oftmals zu
beobachtende Desinteresse der Verbandsmitglieder an der Tarifpolitik verstärkt
diese Tendenz.788 Daran wird deutlich, dass das verfahrensrechtliche Teilhaberecht
für sich genommen nicht genügt, einen hinreichenden Individualrechtsschutz der
Mitglieder sicherzustellen. Ein materieller Schutz der Verbandsminderheit ist unentbehrlich.789 Die Beteiligung der Verbandsminderheit an der tarifpolitischen Willensbildung kann die Schutzverpflichtung daher nicht wesentlich reduzieren.790
bb) Finanzierbarkeit des Zusatzversorgungssystems
Änderungen der Rechtslage, vor allem des Steuer- und Sozialversicherungsrechts,
aber auch gerichtliche Entscheidungen wie die Halbanrechnungsentscheidung des
BVerfG791 führen zu einer höheren Beitragslast der Arbeitgeber und können so die
Finanzierbarkeit des tariflichen Versorgungssystems in Frage stellen. Deswegen ist
anerkannt, dass es grundsätzlich möglich sein muss, ein bestehendes Versorgungssystem sich verändernden Gegebenheiten anzupassen und auf absehbare Fehlentwicklungen zu reagieren; Versorgungsregelungen dürfen nicht „versteinern“792.
Die Kürzung von Versorgungsrechten kann im Interesse sowohl der Arbeitgeberals auch der Arbeitnehmerseite liegen. Offensichtlich ist, dass Arbeitgeber generell
bemüht sind, ihre Beitragsverpflichtungen gegenüber dem Versorgungsträger möglichst gering zu halten, den Arbeitgeberverband bei steigenden Beitragssätzen also
zu Kürzungen der Versorgungsrechte drängen werden. Dieses Arbeitgeberinteresse
ist legitim und deshalb in der Interessenabwägung zu berücksichtigen. Steigende
Beitragssätze engen den unternehmerischen Handlungsspielraum ein und können im
Extremfall sogar die Fortführung des Unternehmens gefährden.
Die Rückführung ausufernder Versorgungslasten kann aber auch im Interesse der
versorgungsberechtigten Arbeitnehmer liegen. Ist der Fortbestand des tariflichen
Versorgungssystems nur um den Preis von Kürzungen der Versorgungsrechte zu
sichern, wird es für einen nicht unerheblichen Teil der Arbeitnehmer günstiger sein,
Minderungen ihrer bereits erdienten Versorgungsrechte hinzunehmen, wenn ihnen
dafür die Möglichkeit erhalten bleibt, in Zukunft weitere, den Kürzungsbetrag über-
786
Grundmuster zur tarifpolitischen Willensbildung bei Lessner, RdA 2005, 285, 288.
787
Ausführlich zuletzt Lessner, RdA 2005, 285 ff., insbes. 288 f.; vgl. des Weiteren Hanau/-
Stindt, Der Staat 1971, S. 539 ff.; Rieble, RdA 2004, 78, 81; Schüren, Legitimation, S. 160 ff.;
weitere Nachweise bei Lessner a.a.O., S. 288.
788
Lessner, RdA 2005, 285, 288 m.w.N.
789
Dieterich, FS Schaub, S. 117, 125.
790
Enger A. Wiedemann, Bindung, S. 181 f., der den Schutzstandard durch die verfahrensrechtliche Teilhabe überhaupt nicht abgesenkt wissen will.
791
BVerfG 22.3.2000, AP BetrAVG § 18 Nr. 27.
792
BAG 30.1.1970, AP BGB § 242 Ruhegehalt Nr. 142 (B I).
202
steigende Versorgungsleistungen zu erdienen. Dabei wird es sich vorwiegend um
jüngere Arbeitnehmer handeln, die bis zum Ablösungsstichtag nur einen geringen
Teil der zugesagten Versorgungsleistungen erdient haben. Ältere, rentennahe Arbeitnehmer werden dagegen regelmäßig am Erhalt der bereits erdienten Versorgungsleistungen interessiert sein.
Tarifliche Versorgungssysteme werden in aller Regel über eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien abgewickelt oder über einen Versorgungsträger,
an dem die Tarifvertragsparteien maßgeblich beteiligt sind. Das rückt den Fortbestand des Versorgungssystems, unabhängig von den Forderungen der jeweiligen
Verbandsmitglieder, auch in das gemeinsame Interesse beider Tarifvertragsparteien.
Die künftige Finanzierbarkeit des Versorgungssystems liegt damit im Interesse Vieler. Sie bildet neben der kollektiven Koalitionsfreiheit einen gewichtigen, für die
Wirksamkeit von Kürzungen der Versorgungsleistungen sprechenden Grund.793
cc) Abbau von Überversorgungen
Sind im Versorgungssystem Überversorgungen eingetreten oder drohen sie einzutreten, besitzt das Änderungsinteresse der Tarifvertragsparteien hohes Gewicht. In
diesem Fall wird der Zweck der betrieblichen Altersversorgung verfehlt, dem Arbeitnehmer einen angemessenen Lebensstandard im Alter zu sichern. Der Arbeitnehmer darf in die Überversorgung nicht in schutzwürdiger Weise vertrauen.794
5. Durchführung der Abwägung
Die bisherige Untersuchung hat eine Vielzahl von Abwägungskriterien offen gelegt,
anhand derer zu ermitteln ist, unter welchen Voraussetzungen ein ablösender Versorgungstarifvertrag die betroffenen verbandsangehörigen Arbeitnehmer ungewöhnlich belastet und ein Eingreifen des Staates erforderlich ist. Die Benennung einer
konkreten Grenze ablösender Versorgungstarifverträge aus einer Vielzahl von Kriterien führt dabei notwendigerweise zu einer gewissen Vergröberung; Besonderheiten
können daher im Einzelfall eine abweichende Betrachtung rechtfertigen.
793
BAG 28.5.2002, AP RuhegeldG Hamburg § 2a Nr. 1 (B II 1 e aa); OLG Karlsruhe 22.9.2005,
ZTR 2005, 588 (B IV 11 f, insoweit nicht veröffentlicht).
794
Oben 4 a bb (1), S. 193 f.
203
a) Versorgungsansprüche
Es spricht vieles dafür, dass die Tarifvertragsparteien, von dem bereits genannten
Fall einer Überversorgung und Eingriffen in die Rentendynamik abgesehen,795 in
bereits entstandene Versorgungsansprüche überhaupt nicht eingreifen dürfen. Mit
Eintritt des Versorgungsfalls hat der versorgungsberechtigte Arbeitnehmer die ihm
obliegende Leistung vollständig erbracht. Sein durch Art. 14 GG geschütztes Vertrauen, die versprochene Leistung zu erhalten, ist daher besonders schutzwürdig,
zumal er Kürzungen seiner Versorgungsleistungen nicht mehr durch eine private
Eigenvorsorge ausgleichen kann. Die kollektive Koalitionsfreiheit muss hinter dieses Interesse zurücktreten.
Versorgungsansprüche sind demgemäß als grundsätzlich unentziehbar zu qualifizieren. Eine Abweichung von diesem Grundsatz kann aber gerechtfertigt sein, wenn
der versorgungsberechtigte Arbeitnehmer bereits vor Eintritt des Versorgungsfalls
mit der Herabsetzung seiner Versorgungsleistungen rechnen musste,796 etwa weil die
Tarifvertragsparteien öffentlich über eine verschlechternde Neuregelung diskutiert
haben und der Versorgungsfall noch vor dem Abschluss eines entsprechenden Tarifvertrags eingetreten ist. Auch insoweit ist ein Eingriff jedoch nicht schrankenlos
zulässig. Es gelten die auf Eingriffe in erdiente Versorgungsanwartschaften rentennaher Arbeitnehmer anzuwendenden Grenzen (dazu sogleich).
b) Erdiente Versorgungsanwartschaften
Tarifliche Eingriffe in den erdienten Teilbetrag einer Versorgungsanwartschaft können ebenfalls nur in eng gestecktem Rahmen zulässig sein. Auch insoweit haben die
versorgungsberechtigten Arbeitnehmer die Gegenleistung bereits erbracht, wenn
auch – anders als bei Versorgungsansprüchen – noch nicht vollständig. Ihr Vertrauen genießt folglich einen ähnlichen Schutz. Eingriffe sind aber, wie auch die in § 17
Abs. 3 BetrAVG getroffene gesetzgeberische Wertentscheidung zeigt, möglich.
Ein Lösungsmodell muss grundsätzlich nach rentennahen und rentenfernen Jahrgängen differenzieren. Rentennahe Jahrgänge sind schutzwürdiger als rentenferne
Jahrgänge, da Versorgungslücken umso schwerer zu schließen sind, je näher der
Versorgungsfall heranrückt.
Fraglich ist, ob darüber hinaus auch zwischen noch verfallbaren und bereits unverfallbaren Versorgungsanwartschaften zu differenzieren ist. § 17 Abs. 3 BetrAVG
bestimmt nur, dass unverfallbare Versorgungsanwartschaften nicht in beliebiger
Weise geschmälert werden dürfen. Keine Aussage trifft § 17 Abs. 3 BetrAVG über
noch verfallbare Versorgungsanwartschaften. Daraus ließe sich folgern, dass in noch
verfallbare Versorgungsanwartschaften weiter gehend eingegriffen werden darf, als
795
Vgl. oben 4 a bb (1), S. 193 f. und 3 c, S. 186 f.
796
Ebenso BAG 21.8.2007, AP BetrAVG § 1 Zusatzversorgungskassen Nr. 69 (B IV 2 b bb [2]).
204
in unverfallbare Versorgungsanwartschaften.797 Eine solche Differenzierung ist aber
mit der herrschenden Meinung798 abzulehnen. Auch die noch verfallbaren Versorgungsanwartschaften sind durch die Betriebstreue des Arbeitnehmers erdient und
deswegen in gleichem Maße durch Art. 14 GG geschützt.799
Der Punkt, ab dem das Interesse der Arbeitnehmer das Änderungsinteresse überwiegt und die Schutzpflicht ausgelöst wird, ist nicht einfach zu bestimmen. Das
Schutzniveau muss angesichts der Bedeutung der betrieblichen Altersversorgung für
die Sicherung des Lebensstandards im Alter, des Vertrauensschutzes und des zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber bestehenden Austauschverhältnisses aber recht
hoch angesetzt werden. Kürzungen von einem Drittel und mehr sind daher jedenfalls
unzulässig.800 Bei geringeren Kürzungen rücken dagegen die Interessen der Mitgliedermehrheit und der Tarifvertragsparteien mehr und mehr in den Vordergrund. Kürzungen erdienter Versorgungsleistungen um wenige Prozentpunkte mögen für die
betroffenen Arbeitnehmer zwar spürbar sein, bewirken im Alter aber keine wesentliche Minderung des Lebensstandards, zumal die gesetzliche Rente die elementarsten
Bedürfnisse befriedigt. Insoweit überwiegt das Interesse der Mitgliedermehrheit und
der Tarifvertragsparteien an der künftigen Finanzierbarkeit des Zusatzversorgungssystems. Kann diese nicht durch Herabsetzungen der zum Ablösungsstichtag noch
nicht erdienten Anwartschaftsteile sichergestellt werden, muss demgemäß auch ein
Eingriff in erdiente Anwartschaftsteile möglich sein. Dem hat das Verbandsmitglied
durch seinen Beitritt – zumindest im Grundsatz – zugestimmt. Für rentennahe Jahrgänge erscheint es daher gerechtfertigt, Kürzungen von bis zu 10 Prozent, für rentenferne Jahrgänge von bis zu 25 Prozent801 als zulässig anzusehen; zur Vereinbarkeit einer solchen Differenzierung mit dem AGG und dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz unten E II 3, S. 210 ff. und E III 2, S. 216 f.
Von diesen Grenzen sind allerdings Ausnahmen zu machen. Mussten die betroffenen Arbeitnehmer mit einer Herabsetzung ihrer Versorgungsleistungen rechnen,
können die zugesagten Versorgungsleistungen ab dem Zeitpunkt der Kenntniserlangung stark gekürzt werden, so dass es insgesamt, d.h. auf die gesamte Laufzeit der
Versorgungszusage bezogen, zu einer Überschreitung der genannten Grenzen kommen kann. Ebenfalls über die genannten Grenzen hinaus zulässig sind Eingriffe zur
797
Angedeutet bei Höfer, BetrAVG, Rn. 575.
798
BAG 17.8.1999, AP BetrVG 1972 § 77 Nr. 79 (B II 4 a); BAG 26.4.1988, AP BetrAVG § 1
Geschäftsgrundlage Nr. 3 (IV); B/R/O/Rolfs, BetrAVG, Anh § 1 Rn. 620; ErfK/Steinmeyer,
Vorbem. BetrAVG Rn. 24 a; F/R/C/S, BetrAVG, § 1 Rn. 250; G. Griebeling, NZA 1989, Beilage 3, 26, 32 f.; vgl. auch Steinmeyer, GedS Blomeyer, S. 423, 438, der aus § 17 Abs. 3
BetrAVG „Schlussfolgerungen für unverfallbare aber entsprechend auch für noch verfallbare
Anwartschaften ziehen“ will.
799
Inwieweit erdiente Versorgungsanwartschafen in den Schutzbereich des Art. 14 GG fallen, ist
streitig; vgl. dazu die Ausführungen oben unter Kap. 2 A IV 1, S. 81 ff.
800
Ähnlich OLG Karlsruhe 22.9.2005, ZTR 2005, 588, 592, das – allerdings unter Anwendung
des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – zu dem Ergebnis gelangt, dass Abschläge von 25 bis
50 Prozent die Versicherten übermäßig und unzumutbar belasten.
801
Enger – unter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – OLG Karlsruhe 22.9.2005,
ZTR 2005, 588 (B IV 11 f bb [5], insoweit nicht veröffentlicht): bis zu 10 Prozent.
205
Abwendung einer drohenden Überversorgung. Hingegen darf in Leistungen, die auf
Eigenbeiträgen der Arbeitnehmer beruhen, wegen deren besonderer Schutzwürdigkeit gar nicht eingegriffen werden. Diese Grenze hat in der Praxis allerdings kaum
Relevanz, da der von den Arbeitnehmern zu leistende Beitrag verglichen mit dem
des Arbeitgebers meist relativ gering ist.
c) Nicht erdiente Anwartschaftsteile
Zum Ablösungsstichtag noch nicht erdiente Anwartschaftsteile genießen keinen mit
erdienten Versorgungsanwartschaften vergleichbaren Schutz. Die Möglichkeit, auch
in Zukunft weitere Versorgungsanwartschaften erdienen zu können, ist eine bloße
Erwerbsaussicht, auf die wegen der jederzeitigen Abänderbarkeit von Versorgungstarifverträgen nicht in schutzwürdiger Weise vertraut werden darf. Anders als erdiente sind nicht erdiente Versorgungsrechte zudem nur durch die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt. Da diese unter einem weiten Schrankenvorbehalt steht,
spricht Entscheidendes dafür, dass die Kürzung nicht erdienter Anwartschaftsteile
die betroffenen Arbeitnehmer nicht ungewöhnlich belastet, die staatliche Schutzpflicht also nicht ausgelöst wird. Die Tarifvertragsparteien können daher in zum
Ablösungsstichtag noch nicht erdiente Versorgungsanwartschaften eingreifen.
Schranken bestehen insoweit nicht.
E. Pflicht der Tarifvertragsparteien zur Gleichbehandlung
I. Grundlagen
Im Zusammenhang mit ablösenden Versorgungstarifverträgen stellt sich oftmals
auch die Frage, inwieweit die Tarifvertragsparteien bei der Ausgestaltung des
Schutzes von Besitzständen an Gleichbehandlungsgebote gebunden sind.802 Gleichbehandlung heißt, dass Gleiches nicht ohne sachlichen Grund ungleich und Ungleiches nicht ohne sachlichen Grund gleich behandelt werden darf. Die Gleichbehandlungspflicht trifft in erster Linie den Gesetzgeber (Art. 3 i.V.m. Art. 1 Abs. 3 GG).
Für Privatpersonen gilt sie demgegenüber grundsätzlich nicht. Die grundrechtlich
geschützte Privatautonomie ist vorrangig. Privatpersonen dürfen, auch willkürlich,
differenzieren.
Eine Ausnahme besteht nur dort, wo der Gesetzgeber Private ausdrücklich an
Gleichbehandlungsgebote bindet oder sich eine Gleichbehandlungspflicht ganz
ausnahmsweise aus verfassungsrechtlichen Vorgaben ergibt. Das gilt vor allem für
das Arbeitsrecht. Dort statuiert seit August 2006 das Allgemeine Gleichbehand-
802
Zum verbandsrechtlichen Gebot einer formalen Gleichbehandlung der Mitglieder vgl. oben
Kap. 3 A I, S. 111 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die gesetzliche Rente ist längst nicht mehr sicher. Schutz gegen drohende Versorgungslücken bieten Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung. Neben betriebsbezogenen Versorgungssystemen gewinnen in der Praxis auch solche auf tariflicher Grundlage zunehmend an Bedeutung. Doch wie verhält sich ein solches System im Krisenfall? In welchem Umfang sind Eingriffe in Versorgungsrechte zur Rettung von Unternehmen möglich?
Diesen in Literatur und Rechtsprechung umstrittenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Untersucht wird, ob die vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Drei-Stufen-Theorie auf ablösende Versorgungstarifverträge übertragbar ist und welche Bedeutung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vertrauensschutzgesichtspunkte haben. Auf der Grundlage staatlicher Schutzpflichten entwickelt der Autor ein eigenes Lösungsmodell.
Das Werk wurde mit dem Südwestmetall-Föderpreis 2008 ausgezeichnet.