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oder nur unvollständig geregelt, dürfen die Gerichte die bestehende Lücke schließen.
Dabei müssen sie den gesetzgeberischen Willen bei der Auslegung von Normen
berücksichtigen oder, wenn eine Norm fehlt, bei der Rechtsfortbildung an Wertentscheidungen des Gesetzgebers in vergleichbaren Fällen anknüpfen.
Damit sind die Gerichte bei der Konkretisierung staatlicher Schutzpflichten in
doppelter Hinsicht beschränkt: In materieller Hinsicht haben sie die dem Schutzbedürfnis der gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer entgegenstehenden Rechtspositionen der Tarifvertragsparteien zu beachten, in formeller Hinsicht die Wertentscheidungen des Gesetzgebers.
D. Entwicklung eines Schutzpflichtmodells für verbandsangehörige Arbeitnehmer
I. Grundlagen
Nach der bisherigen Untersuchung sind der Gesetzgeber und die Gerichte bei der
Ausgestaltung der Privatrechtsordnung verpflichtet, die unterlegene Vertragspartei
bei Bestehen einer typisierbaren Ungleichgewichtslage vor ungewöhnlichen Belastungen zu schützen. Will man die Grenzen ablösender Versorgungstarifverträge aus
der Schutzpflichtfunktion der Grundrechte herleiten, muss man sich dementsprechend die Frage stellen, woraus sich im Tarifvertragsrecht die Ungleichgewichtslage
ergibt, die eine Schutzpflicht auslöst, und wann eine ungewöhnliche Benachteiligung der verbandsangehörigen Arbeitnehmer vorliegt.
Im Vertragsrecht ergibt sich das die Schutzpflicht auslösende Schutzbedürfnis aus
der Ungleichheit der Verhandlungsstärke. Diese vom BVerfG in der Handelsvertreter-666 und in der Bürgschaftsentscheidung667 aufgestellte Anforderung ist auf Tarifverträge nicht ohne weiteres übertragbar.668 Die Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich gleich mächtig;669 eine typisierbare Ungleichgewichtslage, aus der sich bei
Individualverträgen das die Schutzpflicht auslösende Schutzbedürfnis ergibt, besteht
zwischen den Tarifvertragsparteien daher nicht. Tarifverträge unterscheiden sich von
Individualverträgen allerdings dadurch, dass sie nicht nur die (Tarif-)Vertragsparteien verpflichten, sondern auch die zwar nicht am Vertragsschluss beteiligten,
der vertragsschließenden Gewerkschaft aber zuvor beigetretenen Arbeitnehmer.
Insofern entscheidet sich das Bestehen einer staatlichen Schutzpflicht bei Tarifverträgen auch nach dem Verhältnis von Arbeitnehmer und Gewerkschaft. Auch aus
enger Gesetzespositivismus, noch eine vom Gesetz sich lösende „freiheitliche“ Position mit
Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar ist.
666
BVerfG 7.2.1990, E 81, 242, 254 f.
667
BVerfG 19.10.1993, E 89, 214, 234.
668
Däubler/Schiek, TVG, Einleitung Rn. 210 f.; Dieterich, FS Schaub, S. 117, 125; Kühnast,
Grenzen, S. 97; Schliemann, FS Hanau, S. 577, 585 f.
669
Zur Mächtigkeit als Voraussetzung für die Tariffähigkeit vgl. etwa BAG 14. 12.2004, AP
TVG § 2 Tariffähigkeit Nr. 1 (B III 1).
176
diesem Verhältnis kann sich ein die Schutzpflicht auslösendes Ungleichgewicht
ergeben.670
Fragt man danach, woraus sich ein Ungleichgewicht zwischen Gewerkschaft und
Mitglied ergeben kann, lässt sich feststellen, dass Arbeitnehmer im Zeitpunkt ihres
Beitritts die konkreten Folgen ihres Verbandsbeitritts oftmals kaum übersehen können. Einerseits kennen sie den Inhalt künftig abgeschlossener Tarifverträge nicht
und damit auch nicht das Ausmaß der ihnen tariflich auferlegten Pflichten. Andererseits können sie die Wirkung des Verbandsbeitritts auch nicht auf bestimmte Tarifverträge bzw. Tarifinhalte beschränken. Das TVG sieht eine Modifikation der tarifrechtlichen Wirkungen des Verbandsbeitritts nicht vor. Bei Vorliegen der mitgliedschaftlichen Voraussetzungen ist die Tarifgebundenheit stets zu bejahen.671 Darüber
hinaus können sich die Mitglieder dem Tarifvertrag kaum entziehen, wegen der in
§ 3 Abs. 3 TVG angeordneten Nachbindung und der sich daran anschließenden
Nachwirkung. Bereits hieraus resultiert – wie insbesondere Dieterich672 zutreffend
dargelegt hat – eine Ungleichgewichtslage zwischen Arbeitnehmer und Gewerkschaft. Dieterich ist auch darin zuzustimmen, dass sich ein ebenso starkes Schutzbedürfnis aus dem die verbandsinterne Willensbildung bestimmenden Mehrheitsprinzip ergibt.673 Gewerkschaften seien – so Dieterich – zwar zu einer demokratischen
Organisation674 verpflichtet, dies mache einen Schutz von Minderheiten aber nicht
entbehrlich, da Mehrheitsentscheidungen zur Unterbewertung gegenläufiger Sonderinteressen tendierten.675 Hiervon ausgehend ist das Schutzbedürfnis der Verbandsminderheit sogar besonders stark. Schließlich ist, da Tarifverträge auf einem Kompromiss von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerforderungen beruhen, nicht einmal
sichergestellt, dass sich die Position der Mitgliedermehrheit in den Tarifverhandlungen durchsetzt.
Im Ergebnis besteht somit zwischen den gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern und der Gewerkschaft ein typisierbares Ungleichgewicht, das ein Schutzbedürfnis vor ungewöhnlich belastenden Tarifverträgen begründet. Unter welchen
Voraussetzungen ein Vertrag den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastet,
hat das BVerfG zwar für die Vereinbarung eines Wettbewerbsverbots für Handels-
670
Ebenso Däubler/Schiek, TVG, Einleitung Rn. 212, 218 ff.; Dieterich, FS Schaub, S. 117,
125 f.; Kühnast, Grenzen, S. 97 f.; Singer, ZfA 1995, 611, 627 f.; A. Wiedemann, Bindung,
S. 118.
671
Wiedemann/Oetker, TVG, § 3 Rn. 9 m.w.N.; zur Möglichkeit einer OT-Mitgliedschaft (die
keine echte Mitgliedschaft i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG ist) vgl. statt vieler ErfK/Franzen, § 2 TVG
Rn. 9; Wiedemann/Oetker, TVG, § 3 Rn. 136 f. m.w.N.
672
Dieterich, FS Schaub, S. 117, 126; ihm folgend Schliemann, FS Hanau, S. 577, 586.
673
Dieterich, FS Schaub, S. 117, 125; zustimmend Kempen/Zachert/Kempen, TVG, Grundlagen
Rn. 213; Singer, ZfA 1995, 611, 627; enger Däubler/Schiek, TVG, Einleitung Rn. 218 ff.: kein
Minderheitenschutz bei strukturell gleichlaufenden, insbesondere wirtschaftlichen Interessen.
674
Zum Erfordernis demokratischer Organisation vgl. stellvertretend Kempen/Zachert/Kempen,
TVG, Grundlagen Rn. 68; Löwisch/Rieble, TVG, § 2 Rn. 30; Wiedemann/Oetker, TVG § 2
Rn. 341 jeweils m.w.N.
675
Dieterich, FS Schaub, S. 117, 125; zustimmend Kempen/Zachert/Kempen, TVG, Grundlagen
Rn. 213; Singer, ZfA 1995, 611, 627.
177
vertreter und die Übernahme einer Bürgschaft entschieden.676 Jedoch können die
dort entwickelten Grundsätze auf ablösende Versorgungstarifverträge schwerlich
übertragen werden. Pauschallösungen scheiden von der Sache her aus. Das vom
Gesetzgeber bzw. von den Gerichten zu gewährleistenden Schutzniveau ist vielmehr
vom jeweiligen Einzelfall abhängig, insbesondere von dem betroffenen Grundrecht
und der Eingriffsintensität.677 Daher sind bei der Entwicklung eines Schutzpflichtmodells die spezifischen Besonderheiten des jeweils betroffenen Sachbereichs zu
beachten. Es bestehen aber auch Gemeinsamkeiten: Staatlichen Schutzpflichten sind
stets äußerste Grenzen gesetzt, die nicht überschritten werden dürfen und innerhalb
derer folglich das vom Staat sicherzustellende Schutzniveau liegen muss.
II. Äußere Grenzen staatlicher Schutzpflichten
1. Wesensgehalt der Grundrechte als absolutes Schutzminimum
Das von den Gerichten mindestens zu gewährleistende Schutzniveau wird durch den
Wesensgehalt der Grundrechte definiert.678 Der Wesensgehalt setzt nicht nur staatlichen Eingriffen eine äußerste Grenze (vgl. Art. 19 Abs. 2 GG), als verfassungsrechtliche Wertentscheidung ist er auch im Privatrechtsverkehr zwischen Privatrechtssubjekten zu beachten.679 Der Staat hat deshalb sicherzustellen, dass zumindest ein
absoluter Kernbereich der Grundrechte stets gewährleistet ist. Hinter diesen Kernbereich darf das Schutzniveau nicht zurückfallen. Anders ausgedrückt liegt eine die
staatliche Schutzpflicht auslösende ungewöhnliche Belastung immer, aber nicht nur
dann vor, wenn durch eine privatrechtliche Vereinbarung in den Wesensgehalt eines
Grundrechts eingegriffen wird.
Der Wesensgehalt ist für jedes Grundrecht gesondert zu bestimmen.680 Die Grenze, bis zu der ein tariflicher Eingriff äußerstenfalls gerechtfertigt sein kann, ist demgemäß für erdiente Versorgungsanwartschaften und -ansprüche und für noch nicht
erdiente Versorgungsrechte unterschiedlich. Erdiente Versorgungsrechte unterfallen
676
BVerfG 19.10.1993, E 89, 214, 234 ff. (Bürgschaftsübernahme); BVerfG 7.2.1990, E 81, 242,
254 ff. (Wettbewerbsverbot).
677
Vgl. dazu im Einzelnen unten III 2 und 4, S. 183 f., 190 ff.
678
Vgl. Dieterich, FS Schaub, S. 117, 127 f.; ders., ErfK GG Einl. Rn. 55; Kempen/Zachert/Kempen, TVG, Grundlagen Rn. 212; Rassow, ZG 2005, 262, 270 f.; Schliemann,
ZTR 2000, 198, 203; Singer, ZfA 1995, 611, 638; A. Wiedemann, Bindung, S. 173 f.; vgl.
auch Canaris, JuS 1989, 161, 163; Singer, GedS Jeand´Heur, S. 171, 186.
679
Singer, GedS Jeand´Heur, S. 171, 186; im Ergebnis auch ErfK/Dieterich, GG Einl. Rn. 55, 66;
Kempen/Zachert/Kempen, TVG, Grundlagen Rn. 212; Schliemann, ZTR 2000, 198, 203; a.A.
A. Wiedemann, Bindung, S. 172.
680
BVerfG 5.2.2004, E 109, 133, 156; BVerfG 18.7.1967, E 22, 180, 219; Dreier/Dreier, GG,
Bd. 1, Art. 19 II Rn. 14; ErfK/Dieterich, GG Einl. Rn. 66; Jarass/Pieroth/Jarass, GG, Art. 19
Rn. 9.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die gesetzliche Rente ist längst nicht mehr sicher. Schutz gegen drohende Versorgungslücken bieten Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung. Neben betriebsbezogenen Versorgungssystemen gewinnen in der Praxis auch solche auf tariflicher Grundlage zunehmend an Bedeutung. Doch wie verhält sich ein solches System im Krisenfall? In welchem Umfang sind Eingriffe in Versorgungsrechte zur Rettung von Unternehmen möglich?
Diesen in Literatur und Rechtsprechung umstrittenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Untersucht wird, ob die vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Drei-Stufen-Theorie auf ablösende Versorgungstarifverträge übertragbar ist und welche Bedeutung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vertrauensschutzgesichtspunkte haben. Auf der Grundlage staatlicher Schutzpflichten entwickelt der Autor ein eigenes Lösungsmodell.
Das Werk wurde mit dem Südwestmetall-Föderpreis 2008 ausgezeichnet.