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Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich gleich mächtig, weswegen Tarifverträgen
eine materielle Richtigkeitsgewähr zukommt.579 Das gilt im öffentlichen Dienst und
in der Privatwirtschaft gleichermaßen. Die im öffentlichen Dienst beschäftigten
Arbeitnehmer bedürfen somit keines stärkeren Schutzes als er gegenüber privaten
Arbeitgebern besteht.580
III. Ergebnis
Die Tarifvertragsparteien sind weder an das Rechtsstaatsprinzip noch unmittelbar an
die Grundrechte gebunden, aus denen sich das Verhältnismäßigkeitsprinzip herleitet.
Daher sind ablösende Versorgungstarifverträge grundsätzlich keiner Verhältnismä-
ßigkeitsprüfung zu unterziehen. Anderes kann nur ausnahmsweise und nur für den
Fall gelten, dass dem Staat eine aus Grundrechten folgende Schutzverpflichtung zu
Gunsten der tarifunterworfenen Verbandsmitglieder obliegt, die so umfassend ist,
dass sie eine Bindung der Tarifvertragsparteien an Verhältnismäßigkeitserfordernisse gebietet; zur Entwicklung eines Schutzpflichtmodells für Verbandsmitglieder
unten Kapitel 4.
F. Vertrauensschutz
Tarifverträge, die bereits entstandene oder bereits zugesagte Versorgungsrechte
herabsetzen, wirken auf Sachverhalte ein, die in der Vergangenheit begonnen haben.
Indem sie diese ändern, enttäuschen sie das Vertrauen der betroffenen Arbeitnehmer
in den Fortbestand der einmal begründeten, günstigeren Rechtslage. Dementsprechend sind ablösende Versorgungstarifverträge nach Ansicht des BAG581 und des
BGH582 außer am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch anhand des Vertrauensschutzprinzips zu überprüfen (zu dessen Grundlagen unten I). Vor allem das BAG
zieht dabei konkretisierend die Grundsätze heran, die das BVerfG für die Rückwirkung von Gesetzen entwickelt hat (dazu unten II 1 und 2).583 Das setzt allerdings
579
BAG 24.3.2004, AP BGB § 138 Nr. 59 (I 2 b); BAG 6.9.1995, AP BGB § 611 Ausbildungsbeihilfe Nr. 22 (III 1); Franzen, RdA 2001, 1, 4; Gamillscheg, KollArbR, Bd. I, S. 284 f.;
Löwisch/Rieble, TVG, Grundl. Rn. 48.
580
Zutreffend Däubler/Schiek, TVG, Einleitung Rn. 236.
581
BAG 28.7.2005, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 47 (B I 2 a bb); BAG 25.5.2004, AP
BetrAVG § 1 Überversorgung Nr. 11 (B I 4 b bb [4]); BAG 19.11.2002, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 40 (B I 3 c dd); BAG 20.8.2002, AP BetrAVG § 1 Überversorgung Nr. 9 (B II 2 b
cc); BAG 24.4.1990, AP BetrAVG § 1 Zusatzversorgungskassen Nr. 43 (II 3).
582
BGH 14.11.2007, BetrAV 2008, 203, 207; BGH 16.3.1988, AP BetrAVG § 1 Zusatzversorgungskassen Nr. 25 (II 2 d).
583
So BAG 19.11.2002, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 40 (B I 3 c dd); BAG 5.12.1995, Az. 3
AZR 226/95, n.v. (B I 3 f); BAG 24.4.1990, AP BetrAVG § 1 Zusatzversorgungskassen
Nr. 43 (III 3).
157
voraus, dass die vom BVerfG entwickelten Grundsätze auf ablösende Versorgungstarifverträge übertragbar sind (dazu unten II 3). Die komplexe Materie soll dabei auf
das Notwendige reduziert werden; umfangreichere Darstellungen finden sich an
anderer Stelle584.
I. Grundlagen
Das Vertrauensschutzprinzip wurde im Verwaltungsrecht entwickelt. Das BVerwG
verwendete es, um die ehemals unbeschränkt mögliche Aufhebung von Verwaltungsakten zu begrenzen (nunmehr kodifiziert in §§ 48 f. BVwVfG).585 Das BVerfG
hat den Vertrauensschutzgedanken aufgegriffen und ihn zunächst nur zur Begrenzung der Rückwirkung von Gesetzen586, dann aber weiter gehend auch zur Bindung
der Gesetzgebung im Allgemeinen587 fruchtbar gemacht. Heutzutage ist der Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht mehr auf das öffentliche Recht beschränkt. Er
durchzieht die gesamte Rechtsordnung, insbesondere das Zivil-588 und das Prozessrecht589.
In seiner ursprünglichen – öffentlich-rechtlichen – Funktion trägt das Vertrauensschutzprinzip dem Umstand Rechnung, dass der Bürger an den Fortbestand der
bestehenden Rechtslage glaubt. Es steht damit in engem Zusammenhang mit dem
rechtsstaatlichen Gebot der Rechtssicherheit, welches aber, anders als das Vertrau-
584
Aus dem umfangreichen Schrifttum seien nur folgende Darstellungen genannt: Blanke, Vertrauensschutz; Isensee/Kirchhof/Maurer, HdbStR, Bd. IV, § 79; Maunz/Dürig/Grzeszick, GG,
Bd. 3, Art. 20 VII, Rn. 69 ff.; Pieroth, Rückwirkung, S. 119 ff.; Schmidt, JuS 1973, 529;
Sobota, Rechtsstaat, S. 154 ff. jeweils m.w.N. Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer hat sich 1973 ausführlich mit dem Vertrauensschutz im Verwaltungsrecht auseinandergesetzt, vgl. dazu die Berichte von Kisker und Püttner, VVDStRL 32 (1974), S. 149 ff.,
S. 200 ff. sowie die Diskussionsbeiträge a.a.O., S. 228 ff. Zum Vertrauensschutzgedanken im
Recht der EU Altmeyer, Vertrauensschutz.
585
Grundlegend BVerwG 8.3.1956, E 3, 199, 203; vgl. nachfolgend BVerwG 17.10.1975, E 49,
244, 249 f.; BVerwG 15.6.1972, E 40, 147, 150; BVerwG 23.4.1968, E 29, 291, 295;
BVerwG 12.5.1960, E 10, 308, 309.
586
Grundlegend BVerfG 31.5.1960, E 11, 139, 145 f. Vgl. auch BVerfG 9.12.2003, E 109, 96,
122; BVerfG 5.2.2002, E 105, 17, 36 f.; BVerfG 12.3.1996, E 94, 241, 258 f.; BVerfG
14.5.1986, E 72, 200, 242 f.
587
Vgl. BVerfG 15.3.2000, E 102, 68, 96 f.; BVerfG 23.3.1971, E 30, 392, 404.
588
So beruht das zivilrechtliche Rechtsinstitut der culpa in contrahendo (§§ 311 Abs. 2, 280
Abs. 1 BGB) nach herrschender, wenn auch nicht unumstrittener Ansicht, auf der Inanspruchnahme und Gewährung eines besonderen Vertrauens; grundlegend Ballerstedt, AcP 151
(1950/1951), 501, 505 ff.; Canaris, Vertrauenshaftung, S. 442 (Fn. 16), 532. Das gilt ebenso
für die Vertretereigenhaftung nach § 311 Abs. 3 BGB. Auch die Möglichkeit gutgläubigen
Erwerbs beruht auf dem in die Eigentümerstellung des Veräußerers gesetzten Vertrauen des
(gutgläubigen) Erwerbers, statt aller: MünchKommBGB/Quack, Bd. 6, § 932 Rn. 1 m.w.N.
589
Burmeister, Vertrauensschutz im Prozeßrecht; zum Vertrauensschutz gegenüber Rechtsprechungsänderungen jüngst Höpfner, RdA 2006, 156 m.w.N.
158
ensschutzprinzip, zumindest primär objektivrechtlichen Charakter hat.590 Das Vertrauensschutzprinzip enthält dagegen eine individuelle, den einzelnen Bürger und
sein in die Rechtslage gesetztes Vertrauen schützende Verbürgung. Es berücksichtigt, dass der Bürger aufgrund der bisherigen Rechtslage bereits finanzielle Dispositionen getroffen hat und er darauf vertraut, sein dem jeweils geltenden Recht entsprechendes Verhalten werde nicht rückwirkend anders bewertet und gewährte Vorteile würden nicht wieder entzogen. Deswegen ist es verfassungsrechtlich
bedenklich, wenn das in die bestehende Rechtslage investierte Vertrauen durch den
rückwirkenden Entzug oder die rückwirkende Neubewertung einer Rechtsposition
enttäuscht wird. Andererseits muss der Staat, will er handlungsfähig bleiben, in der
Lage sein, die bestehende Rechtslage an politische oder gesellschaftliche Veränderungen anzupassen. Das Vertrauen des Bürgers kann daher nicht in jeder denkbaren
Fallkonstellation geschützt sein. Vielmehr ist stets eine Abwägung zwischen dem
Vertrauen des Bürgers und den staatlichen Interessen erforderlich.
Wie, d.h. nach welchem Maßstab die gegenläufigen Interessen zum Ausgleich zu
bringen sind, erweist sich oftmals als schwierig. Das Vertrauensschutzprinzip ist nur
an wenigen Stellen ausdrücklich gesetzlich normiert. Verlässliche Maßstäbe fehlen.
Das Vertrauensschutzprinzip wurde deswegen nicht selten als diffus591 oder, plastischer, als „Weichmacher der Verfassungsmaßstäbe“592 bezeichnet. Eine allgemeingültige, auf alle Fallkonstellationen anwendbare Formel ist wegen der vielgestaltigen Ausprägungen, die der Vertrauensschutz in der Rechtsordnung erfahren hat,
zwar nicht zu erzielen. Es haben sich aber mit der Zeit einige allgemeine Grundsätze
herauskristallisiert.593 Danach greift der Vertrauensschutz ein, wenn (1) der Staat
einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat oder ihm ein solcher zurechenbar ist, (2)
der Bürger auf den Vertrauenstatbestand in schutzwürdiger Weise vertraut und (3)
der Staat dennoch von ihm abweicht. Gegen dieses Abweichen richtet sich der Vertrauensschutz. Er verpflichtet den Staat, das Vertrauen des Bürgers gegen die öffentlichen Interessen abzuwägen und ihm gegebenenfalls durch Übergangsregelungen
Rechnung zu tragen.594 In die Abwägung einzustellen ist neben der Art des jeweiligen Vertrauenstatbestandes (Gesetz, Verwaltungsakt, öffentlich-rechtlicher Vertrag,
mündliche Zusage, etc.)595 vor allem, ob der Bürger sein Vertrauen bereits betätigt
hat, insbesondere Dispositionen getroffen oder gewährte Leistungen bereits ver-
590
Nach v. Mangoldt/Klein/Sommermann, GG, Bd. 2, Art. 20 Rn. 239 ist die Rechtssicherheit
Hauptelement der Rechtsstaatlichkeit im formellen Sinne; vgl. auch Sobota, Rechtsstaat,
S. 507: allein objektiv-rechtliche Norm.
591
Isensee/Kirchhof/Maurer, HdbStR, Bd. III, § 60 Rn. 4 (Vorauflage); in der dritten Auflage
(HdbStR, Bd. IV § 79 Rn. 7 f.) fehlt dieser Hinweis.
592
Ossenbühl, VVDStRL 39 (1981), S. 189; ähnlich Götz, FG BVerfG, S. 421, 422: „alle Formtypik und Stringenz des Rechts (...) unterminierendes Prinzip“.
593
Vgl. die Zusammenstellung bei Isensee/Kirchhof/Maurer, HdbStR, Bd. IV, § 79 Rn. 13, 15.
594
BVerfG 5.2.2002, E 105, 17, 37; BVerfG 18.2.1998, E 97, 271, 289 f. Ebenso BVerwG
23.4.1968, E 29, 291, 295; BVerwG 30.8.1961, E 13, 28, 32; BVerwG 12.5.1960, E 10, 308,
309; BVerwG 24.4.1959, E 8, 261, 269.
595
Kisker, VVDStRL 32 (1974), S. 149, 163 f.
159
braucht hat,596 ob er mit der Änderung rechnete oder zumindest mit ihr rechnen
musste, sowie Art und Gewicht der die Änderung bedingenden Gründe.
II. Grenzen rückwirkender Rechtsnormsetzung
Die referierten allgemeinen Grundsätze hat das BVerfG in ständiger Rechtsprechung
für rückwirkende, den Bürger belastende Gesetze konkretisiert und dabei eine eigenständige Rückwirkungslehre entwickelt,597 die später vom BAG auch für rückwirkende Tarifverträge herangezogen wurde.
1. Die Rückwirkungslehre des Bundesverfassungsgerichts
a) Die traditionelle Differenzierung zwischen echter und unechter Rückwirkung
In welchem Umfang das Vertrauen gegenüber rückwirkenden Gesetzen geschützt
ist, hängt danach entscheidend davon ab, ob das Gesetz „echte“ oder „unechte“
Rückwirkung entfaltet.
Von echter (retroaktiver) Rückwirkung spricht der Erste Senat des BVerfG, wenn
ein Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende
Tatbestände eingreift. Unechte (retrospektive) Rückwirkung liege demgegenüber
vor, wenn das Gesetz auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und
Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirke und damit die betroffene Rechtsposition nachträglich entwerte.598 Diese Differenzierung ist in der Literatur vielfach kritisiert worden599 und stößt auch innerhalb des BVerfG bisweilen auf Widerspruch,
596
BVerwG 18.12.1995, NVwZ 1996, 890, 891; BVerwG 18.9.1984, E 70, 127, 136 f.; BVerwG
7.7.1966, E 24, 294, 296; BVerwG 19.12.1963, E 17, 335, 338. Vgl. aber auch BVerfG
5.2.2002, E 105, 17, 44, wonach der große Umfang einer getätigten Disposition für sich genommen dem Vertrauen noch kein besonderes Gewicht verleiht.
597
Grundlegend BVerfG 19.12.1961, E 13, 261, 270 ff.; vgl. nachfolgend BVerfG 5.2.2004, E
109, 133, 180 ff.; BVerfG 3.12.1997, E 97, 67, 78; BVerfG 14.5.1986, E 72, 200, 241 ff.
598
BVerfG 23.3.1971, E 30, 392, 402 f.; vgl. weiterhin BVerfG 15.10.1996, E 95, 64, 86;
BVerfG 13.3.1979, E 50, 386, 394 f.; BVerfG 23.3.1971, E 30, 367, 385 f.; BVerfG 7.7.1964,
E 18, 135, 142 ff.
599
Dreier/Schultze-Fielitz, GG, Bd. 2, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 155; Friauf, BB 1972, 669,
674 ff.; Leisner, FS Berber, S. 273, 284 ff.; Grabitz, DVBl. 1973, 675, 676 ff.;
Maunz/Dürig/Grzeszick, GG, Bd. 3, Art. 20 VII Rn. 77; Muckel, Kriterien, S. 70 ff.; ders., JA
1994, 13, 14; Pieroth, Rückwirkung, S. 79 ff.; Rensmann, JZ 1999, 168, 170 f.; Seuffert, BB
1972, 1065, 1066; Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 835 ff. Weitere Nachweise bei Isensee/-
Kirchhof/Maurer, HdbStR, Bd. IV, § 79 Rn. 22 (Fn. 32 m. Fn. 25) und Pieroth, a.a.O., S. 83
(Fn. 14).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die gesetzliche Rente ist längst nicht mehr sicher. Schutz gegen drohende Versorgungslücken bieten Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung. Neben betriebsbezogenen Versorgungssystemen gewinnen in der Praxis auch solche auf tariflicher Grundlage zunehmend an Bedeutung. Doch wie verhält sich ein solches System im Krisenfall? In welchem Umfang sind Eingriffe in Versorgungsrechte zur Rettung von Unternehmen möglich?
Diesen in Literatur und Rechtsprechung umstrittenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Untersucht wird, ob die vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Drei-Stufen-Theorie auf ablösende Versorgungstarifverträge übertragbar ist und welche Bedeutung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vertrauensschutzgesichtspunkte haben. Auf der Grundlage staatlicher Schutzpflichten entwickelt der Autor ein eigenes Lösungsmodell.
Das Werk wurde mit dem Südwestmetall-Föderpreis 2008 ausgezeichnet.