130
zuzustimmen.461 Auch nach ihrer Entstehung bleiben aus einem Tarifvertrag erwachsende Ansprüche stets mit diesem verknüpft. Sie lösen sich nicht von ihrer
tarifrechtlichen Grundlage, treten also insbesondere nicht in eine Art „kollektivfreien Individualbereich“ über.462 Da entstandene tarifliche Ansprüche ihren Charakter
beibehalten und die Tarifvertragsparteien den zeitlichen Geltungsbereich eines Tarifvertrags im Rahmen der ihnen durch den Verbandsbeitritt eingeräumten Regelungsbefugnis frei festlegen können, können sie auch einen Tarifvertrag vereinbaren,
der auf den Zeitpunkt der Anspruchsentstehung zurückwirkt. Sie können den bereits
entstandenen Anspruch damit auch rückwirkend abändern, vorausgesetzt sie versto-
ßen dadurch nicht gegen höherrangiges Recht.
Soweit sich der Dritte Senat an die Rechtsprechung des Vierten Senats angelehnt
hat, ist dem jedenfalls seit der Rechtsprechungsänderung die Grundlage entzogen.
Legt man die Rechtsprechung des Dritten Senats zugrunde, ist eine Schranke unentziehbarer Besitzstände auch tarifrechtlich kaum begründbar. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vertrauensschutzprinzip gehen jeweils davon aus, dass in geschützte
Besitzstände jedenfalls bei Vorliegen hinreichend gewichtiger Gründe eingegriffen
werden kann. Einen tariffesten Kern von Besitzständen schaffen beide nicht. Das
verdeutlicht, dass der Rechtsprechung des Dritten Senats eine tragfähige Begründung fehlt. Sie ist daher, soweit der Dritte Senat überhaupt an ihr festhalten will,463
abzulehnen.
E. Verhältnismäßigkeit des Eingriffs
Das BAG, der BGH und die überwiegende Meinung in der Literatur gehen – häufig
ohne dies näher zu begründen – davon aus, dass tarifvertragliche Eingriffe in bestehende Versorgungsrechte zwar nicht durch das Drei-Stufen-Modell, wohl aber durch
den diesem (neben dem Vertrauensschutzprinzip) zugrunde liegenden Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit begrenzt sind (zum Vertrauensschutz unten F).464 Ob der Verder Versorgungsempfänger ausgeht, BGH 16.3.1988, AP BetrAVG § 1 Zusatzversorgungskassen Nr. 25 (II).
461
Vgl. auch die insoweit zust. Anm. v. Buchner und Wiedemann, BAG 23.11.1994, AP TVG
§ 1 Rückwirkung Nr. 12; im Ergebnis ebenso Däubler/Deinert, TVG, § 4 Rn. 50;
ErfK/Franzen, § 4 TVG Rn. 18 ff.; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 295 jeweils m.w.N.
462
So die ältere Literatur, vgl. vor allem Herschel, Tariffähigkeit und Tarifmacht, S. 50 f. sowie
Siebert, FS Nipperdey, S. 119, 132 f. und Stahlhacke, RdA 1959, 266, 268.
463
Da sich in neueren Entscheidungen kein Hinweis mehr auf unentziehbare Besitzstände und
sonstige eigentumsgleiche Rechte findet, bestehen hieran erhebliche Zweifel.
464
BAG 27.6.2006, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 49 (B II 2 a); BAG 13.12.2005, AP
BetrAVG § 2 Nr. 49 (III 2 a); BAG 28.7.2005, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 47 (B II 1 a);
BAG 25.5.2004, AP BetrAVG § 1 Überversorgung Nr. 11 (B I 4 b bb [1]); BAG 20.2.2001,
EzA BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 24 (I 2 a); BAG 24.8.1993, AP BetrAVG § 1 Ablösung
Nr. 19 (B II 2); BAG 24.4.1990, AP BetrAVG § 1 Zusatzversorgungskassen Nr. 43 (III 4);
BGH 14.11.2007, BetrAV 2008, 203, 207; OLG Karlsruhe 22.9.2005, ZTR 2005, 588, 591;
ErfK/Steinmeyer, Vorbem. BetrAVG Rn. 23; ders., GedS Blomeyer, S. 423, 438; Höfer,
131
hältnismäßigkeitsgrundsatz auf Tarifverträge anwendbar ist, ist angesichts der privatautonomen Herleitung der tariflichen Regelungsbefugnis allerdings fraglich und
bedarf einer eingehenden Überprüfung (dazu unten II). Zuvor soll jedoch kurz dargestellt werden, welche Folgen es hätte, wenn die Tarifvertragsparteien an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden wären.
I. Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf ablösende Versorgungstarifverträge
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besagt bekanntlich, dass ein Eingriff in eine
geschützte Rechtsposition einem legitimen Zweck dienen, zur Zweckerreichung
geeignet und erforderlich sowie in Relation zum verfolgten Zweck angemessen
(auch: zumutbar, verhältnismäßig i.e.S.) sein muss.465 Mit der Herabsetzung von
Versorgungsleistungen verfolgen die Tarifvertragsparteien in aller Regel entweder
wirtschaftliche Zwecke oder wirken einer Fehlentwicklung des Versorgungssystems
entgegen; beide Zwecke sind grundsätzlich legitim.466 Da die Herabsetzung von
Versorgungsleistungen regelmäßig auch zur Zweckerreichung geeignet ist, liegt das
Hauptaugenmerk der Verhältnismäßigkeitsprüfung – wenn man eine solche mit der
herrschenden Ansicht für erforderlich hält – auf den Geboten der Erforderlichkeit
und der Angemessenheit.
Das Gebot der Erforderlichkeit als Kern des Übermaßverbotes verlangt, dass es
kein milderes, die Rechtspositionen der Betroffenen weniger stark beschränkendes
Mittel gibt, das zur Zweckerreichung gleich geeignet ist.467 Alternative Mittel zur
Begegnung wirtschaftlicher Schwierigkeiten können etwa die Aussetzung von Tariflohnerhöhungen, die Kürzung anderer tariflicher Zulagen oder die Verlängerung der
tariflichen Arbeitszeit sein. Ob eines dieser Mittel gleich geeignet und im Vergleich
zur Herabsetzung von Versorgungsleistungen weniger einschneidend ist, müsste
dabei für jeden Einzelfall geprüft werden. Dabei wäre auch der tarifliche Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum468 zu beachten.
Das Gebot der Angemessenheit zwingt zusätzlich zu einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden
Gründe mit den Rechtspositionen des Betroffenen. Je stärker in eine bestehende
Versorgungszusage eingegriffen wird, desto schwerwiegender müssten die Ein-
BetrAVG, Rn. 567.1; Hügelschäffer, ZTR 2004, 231, 237 f.; Küttner/Kreitner, Betriebliche
Altersversorgung Rn. 73; eingehender jüngst Bieder, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 311 ff.,
321 ff.
465
Statt aller BVerfG 11.5.2005, E 112, 368, 397 f.; BVerfG 26.4.1995, E 92, 262, 273;
Maunz/Dürig/Grzeszick, GG, Bd. 3, Art. 20 VII Rn. 110 ff. m.w.N.
466
Vgl. BAG 13.12.2005, AP BetrAVG § 2 Nr. 49 (III 2 c); BAG 28.5.2002, AP RuhegeldG
Hamburg § 2 a Nr. 1 (B II 1 d aa).
467
BVerfG 19.7.2000, E 102, 197, 217; BVerfG 26.4.1995, E 92, 262, 273; BVerfG 7.11.1991, E
85, 97, 107; BVerfG 20.6.1984, E 67, 157, 176.
468
Dazu oben B II, S. 114 ff.
132
griffsgründe sein. Dabei darf der Eingriff den Betroffenen nicht übermäßig belasten,
darf ihm also nicht unzumutbar sein.469 Gerade die Angemessenheitsprüfung eröffnet damit erhebliche Bewertungsspielräume, bei deren Ausfüllung wiederum dem
tariflichen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum Rechnung zu tragen wäre.
Welche Anforderungen auf der jeweiligen Stufe an ablösende Versorgungstarifverträge zu stellen sind, hat das BAG bislang nicht näher präzisiert. Keine Bedenken
unter dem Blickwinkel der Verhältnismäßigkeit hatte es aber jedenfalls gegen den
Abbau eingetretener Überversorgungen,470 die Kürzung einer Betriebsrente um einen „Riester-Korrekturfaktor“471 und die Herabsetzung einer zugesagten Versorgungsleistung um 8 Prozent zur Einsparung von Personalkosten.472 Umfangreichere
Ausführungen zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz finden sich bisher nur in den
Entscheidungen des OLG Karlsruhe zur Umstellung der Gesamtversorgung im öffentlichen Dienst. Danach rechtfertigt der mit der Umstellung auf ein Versorgungspunktemodell verfolgte Zweck, die Aufrechterhaltung des Zusatzversorgungssystems im öffentlichen Dienst zu gewährleisten, keine Kürzungen der Versorgungsleistungen um 25 bis 50 Prozent. Ein solch gravierender Eingriff zum Nachteil der
betroffenen rentenfernen Versicherten sei übermäßig und deshalb unzumutbar. Das
gelte auch, soweit die Anwendung des pauschalierten gesetzlichen Näherungsverfahrens – die nach den Berechnungen des OLG Karlsruhe hauptursächlich für die
mit der Systemumstellung verbundenen Eingriffe ist – mit zusätzlichen Verwaltungskosten von 30 Millionen Euro begründet wurde, die sich bei individueller Rentenberechnung ergeben hätten. Umgelegt auf die 1,7 Millionen rentenfernen Versicherten betrügen die Verwaltungsmehrkosten ohnehin nur knapp 18 € pro Person.
Das müsse bei einem Systemwechsel zur Vermeidung von erheblichen Rechtseingriffen in Kauf genommen werden.473
469
BVerfG 19.7.2000, E 102, 197, 220; BVerfG 15.12.1999, E 101, 331, 350; BVerfG
17.10.1990, E 83, 1, 19; BVerfG 31.10.1984, E 68, 193, 219; BVerfG 20.6.1984, E 67, 157,
178.
470
BAG 28.7.2005, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 47 (B II 1); BAG 25.5.2004, AP BetrAVG
§ 1 Überversorgung Nr. 11 (B I 4 b bb); BAG 20.2.2001, EzA BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 24
(I 2 a cc); BAG 24.8.1993, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 19 (B II 2); BAG 24.4.1990, AP
BetrAVG § 1 Zusatzversorgungskassen Nr. 43 (III 4).
471
BAG 27.2.2006, AP BetrAVG § 1 Nr. 44 (B II 3 c dd).
472
BAG 13.12.2005, AP BetrAVG § 2 Nr. 49 (III 2 c); vgl. auch jüngst BAG 27.6.2006, AP
BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 47 (B II 2 b bb [2]): Kürzung einer Versorgungsrente von ca.
500 € um 20 € nicht unverhältnismäßig.
473
OLG Karlsruhe 24.11.2005, Az. 12 U 102/04, n.v. (B IV 11 f); OLG Karlsruhe 22.9.2005,
ZTR 2005, 588 (B IV 11 f [5], insoweit nicht veröffentlicht); vgl. dazu auch Preis/Temming,
GedS Blomeyer, S. 247, 265 ff.; dies., ZTR 2003, 262, 265. Der BGH musste sich im Rahmen
der gegen die Urteile des OLG Karlsruhe eingelegten Revisionen mit Fragen der Verhältnismäßigkeit nicht auseinandersetzen. Anders als das OLG lehnte er einen Eingriff in den erdienten Teilbetrag der Versorgungsanwartschaft ab, BGH 14.11.2007, BetrAV 2008, 203, 208 f.
133
II. Bindung der Tarifvertragsparteien an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Die vorstehend skizzierten Verhältnismäßigkeitsanforderungen setzen allerdings
voraus, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf Tarifverträge überhaupt anwendbar ist. Das entsprach zwar lange Zeit ganz herrschender Meinung474, ist aber
in jüngerer Zeit zunehmend umstritten.475 In der Tat führt die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu unbefriedigenden Ergebnissen. Sie begründet vor
allem die Gefahr einer Tarifzensur. Denn angesichts der bei Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bestehenden Bewertungsspielräume könnte das zur
Entscheidung berufene Gericht versucht sein, eine an sich angemessene Regelung
durch eine seiner Vorstellung nach angemessenere zu ersetzen. Dem versucht das
BAG zwar durch eine geringere Kontrolldichte entgegenzuwirken.476 Wie aber insbesondere Dieterich aufgezeigt hat, bannt auch eine großzügige Handhabung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die Gefahr einer Tarifzensur nicht.477 Sie vergrö-
ßert zudem die ohnehin schon bestehende Rechtsunsicherheit.
Allein mit dem Hinweis auf die unbefriedigenden Ergebnisse kann die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes allerdings noch nicht abgelehnt werden.
Es bedarf vielmehr einer methodischen Vorgehensweise: Zunächst ist darzulegen,
ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein allgemeiner, die gesamte Rechtsordnung
und damit auch das Arbeitsrecht durchziehender Rechtsgrundsatz ist, an den die
Tarifvertragsparteien per se gebunden sind. Falls dies abzulehnen ist, muss untersucht werden, aus welchem Rechtsprinzip der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sich
herleitet und ob die Tarifvertragsparteien an dieses gebunden sind. Erst wenn die
Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes feststeht, ist gegebenenfalls zu
prüfen, nach welchen Grundsätzen er zu modifizieren ist, damit das Ergebnis einer
Tarifzensur vermieden wird.
474
Vgl. dazu etwa die Nachweise in Fn. 464.
475
Gegen die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Bayreuther, Tarifautonomie,
S. 245; Canaris, AcP 184 (1984), 201, 244; Däubler/Schiek, TVG, Einleitung Rn. 216;
Dieterich, FS Schaub, S. 117, 124 f., 133; ders., in ErfK, Einl. GG Rn. 48; Schliemann, ZTR
2000, 198, 203; ders., FS Hanau, S. 577, 587; Singer, ZfA 1995, 611, 623 ff., 632; A.
Wiedemann, Bindung, S. 159 ff.; Zachert, Anm. BAG 24.4.2001, AP TVG § 1 Tarifverträge:
Bau Nr. 243 unter III.
476
Vgl. BAG 28.7.2005, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 47 (B II 1 a); BAG 25.5.2004, AP
BetrAVG § 1 Überversorgung Nr. 11 (B I 4 b bb [4]); BAG 22.9.1993, AP TVG § 1 Tarifverträge: Gerüstbau Nr. 2 (II 4 d); enger dagegen wohl OLG Karlsruhe 22.9.2005, ZTR 2005,
588 (B IV 11 a, insoweit nicht veröffentlicht): trotz weiten Einschätzungs- und Ermessensspielraums keine geringen Anforderungen.
477
in FS Schaub, S.117, 123 und ErfK, Einl. GG. Rn. 48; vgl. auch Schliemann, ZTR 2000, 198,
203 und (bezogen auf das Arbeitskampfrecht) Preis, FS Dieterich, S. 429, 437 f.; a.A. Söllner,
NZA 1996, 897, 905 f.; Waltermann, FS 50 Jahre BAG, S. 913, 920.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die gesetzliche Rente ist längst nicht mehr sicher. Schutz gegen drohende Versorgungslücken bieten Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung. Neben betriebsbezogenen Versorgungssystemen gewinnen in der Praxis auch solche auf tariflicher Grundlage zunehmend an Bedeutung. Doch wie verhält sich ein solches System im Krisenfall? In welchem Umfang sind Eingriffe in Versorgungsrechte zur Rettung von Unternehmen möglich?
Diesen in Literatur und Rechtsprechung umstrittenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Untersucht wird, ob die vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Drei-Stufen-Theorie auf ablösende Versorgungstarifverträge übertragbar ist und welche Bedeutung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vertrauensschutzgesichtspunkte haben. Auf der Grundlage staatlicher Schutzpflichten entwickelt der Autor ein eigenes Lösungsmodell.
Das Werk wurde mit dem Südwestmetall-Föderpreis 2008 ausgezeichnet.