101
3. Zwischenergebnis
Wird ein bestehendes Versorgungssystem nach Eintritt des Versorgungsfalls zu
Lasten der Versorgungsrentner geändert, sind zwei Fälle zu unterscheiden: die Kürzung der monatlichen Versorgungsrente und die Abkopplung der Versorgungsrente
von einer zugesagten Rentendynamik. Die Qualität des Besitzstands, in den eingegriffen wird, ist unterschiedlich. Während die Kürzung der Versorgungsrente in
einen vom Arbeitnehmer erdienten Besitzstand eingreift, betrifft der Eingriff in die
Rentendynamik nur einen noch nicht erdienten Besitzstand.
II. Reduzierung erdienter Anwartschaftsteile
1. Grundlagen
Größere Unsicherheiten als Eingriffe in Versorgungsansprüche bereiten Eingriffe in
den erdienten Teilbetrag einer Versorgungsanwartschaft. Dies ist vor allem darauf
zurückzuführen, dass das BAG seit einigen Jahren eine ergebnisbezogene Betrachtung vornimmt (unten b).340
a) Verringerung des Anwartschaftswerts
In den erdienten Teilbetrag einer Versorgungsanwartschaft wird nach herkömmlicher Ansicht eingegriffen, wenn der unter der bisherigen Versorgungsordnung erdiente, analog § 2 Abs. 1 BetrAVG oder entsprechend der tariflichen Regelung berechnete Teilbetrag der Versorgungsanwartschaft verringert wird, der Wert der erdienten Versorgungsanwartschaft nach dem Ablösungsstichtag also geringer als vor
dem Ablösungsstichtag ist. Versorgungsanwartschaften, die der Arbeitnehmer nach
der ablösenden Versorgungsregelung noch hinzu erdienen kann, bleiben grundsätzlich unberücksichtigt. Ist dem Arbeitnehmer z.B. eine monatliche Versorgungsrente
von 400 € zugesagt, beträgt der erdiente Anwartschaftsteil nach 30 von 40 möglichen Dienstjahren 30/40 x 400 € = 300 € (§ 2 Abs. 1 BetrAVG). Setzt eine neue
Versorgungsordnung die zugesagte Versorgungsrente zu diesem Zeitpunkt auf 300 €
herab, verringert sich Wert des erdienten Anwartschaftsteils auf 30/40 x 300 € =
225 €. Die Neuregelung greift in den erdienten Anwartschaftsteil ein. – Unberücksichtigt bleibt, dass der Arbeitnehmer, wenn er dem Betrieb weiterhin treu bleibt,
340
BAG 16.12.2003, AP BetrAVG § 1 Berechnung Nr. 25 (II 2 b ee); BAG 18.2.2003, AP
BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 38 m. abl. Kurzkomm. Schumann, EWiR 2003, 849; BAG
10.9.2002, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 37 m. abl. Anm. Schumann, DB 2003, 1527 und
Vienken, Anm. BAG 10.9.2002, SAE 2004, 35; BAG 11.12.2001, AP BetrAVG § 1 Unterstützungskassen Nr. 43 m. abl. Kurzkomm. Schumann, EWiR 2003, 305. Vgl. auch OLG
Karlsruhe 24.11.2005, Az. 12 U 102/04, n.v. (B IV 9 a) und 22.9.2005, ZTR 2005, 588, 590.
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auch nach der neuen Versorgungsordnung eine Versorgungsrente erzielen kann, die
dem Wert der Versorgungsanwartschaft am Ablösungsstichtag entspricht, d.h. eine
Versorgungsrente i.H.v. 40/40 x 300 € = 300 €.
b) Ergebnisbezogene Betrachtung
Das BAG geht nunmehr davon aus, dass eine ablösende Neuregelung nicht verschlechternd in bereits erdiente Besitzstände des Arbeitnehmers eingreift, wenn ihm
im Versorgungsfall zumindest der bis zum Ablösungsstichtag erdiente Wert der
Versorgungsanwartschaft erhalten bleibt.341 Das BAG berücksichtigt bei der Bestimmung des Besitzstands also auch Wertzuwächse nach der neuen Versorgungsregelung (in obigem Beispiel die vom Arbeitnehmer bis zum Versorgungsfall noch
erdienbaren 75 €). Besitzstandswahrung bedeute – so das BAG – nicht, dass der
Arbeitnehmer im Versorgungsfall den zum Ablösungsstichtag bereits erdienten
Besitzstand zuzüglich etwaiger Zuwächse nach der neuen Versorgungsordnung
erhalte. Ausreichend sei vielmehr, wenn er im Versorgungsfall nicht hinter den Wert
des Besitzstandes zurückfalle, den er im Ablösungszeitpunkt erdient hatte.342
Nach ergebnisbezogener Betrachtung würde in dem angeführten Beispiel folglich
nicht in den bereits erdienten Anwartschaftsteil eingegriffen, da der Arbeitnehmer
dessen Wert nach der neuen Versorgungsregelung bis zum Versorgungsfall noch
erdienen kann. Es läge nur ein Eingriff in die (nach der bisherigen Versorgungsordnung) künftig erdienbaren Anwartschaftsteile (10/40 x 400 € = 100 €) vor, mit der
Folge, dass an die Rechtfertigung des Eingriffs wesentlich geringere Rechtmäßigkeitsanforderungen zu stellen wären.
c) Stellungnahme
Die ergebnisbezogene Betrachtungsweise ist in der Literatur überwiegend mit Kritik
aufgenommen worden; allzu viele Stellungnahmen liegen allerdings bisher nicht
vor.343 Bedenken an ihrer Richtigkeit bestehen vor allem mit Hinblick auf den Ent-
341
Erstmalig BAG 11.12.2001, AP BetrAVG § 1 Unterstützungskassen Nr. 43 (I 2 a); bestätigt
durch BAG 10.9.2002, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 37 (III 3 b) – jeweils bezogen auf Eingriffe in die „erdiente“ Dynamik; für Eingriffe in den erdienten Teilbetrag vgl. BAG
18.2.2003, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 38 (I 2 b).
342
BAG 10.9.2002, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 37 (III 3 b aa); BAG 11.12.2001, AP
BetrAVG § 1 Unterstützungskassen Nr. 43 (I 2 c bb).
343
Ablehnend insbes. Schumann, Kurzkomm. BAG 11.12.2001, EWiR 2003, 305 f.; ders., Anm.
BAG 10.9.2002, DB 2003, 1527 f.; ders., Kurzkomm. BAG 18.2.2003, EWiR 2003, 849 f.;
ebenso Rengier, RdA 2006, 213, 214 = BetrAV 2007, 20, 21 und Vienken, Anm. BAG
10.9.2002, SAE 2004, 35 ff.; dem BAG zustimmend dagegen Reichold, Kurzkomm. BAG
16.12.2003, EWiR 2004, 471 f.
103
geltcharakter344 der betrieblichen Altersversorgung.345 Konsequenz einer ergebnisbezogenen Betrachtung ist, dass Arbeitnehmer, die zum Ablösungsstichtag bereits
einen hohen Anwartschaftswert erdient haben, diesen danach kaum noch oder, wie
im gewählten Beispiel, gar nicht mehr steigern können. So wäre im Beispielsfall die
vom Arbeitnehmer in den letzten zehn Jahren seiner Betriebszugehörigkeit gezeigte
Betriebstreue wertlos. Träfe die Auffassung des BAG zu, bliebe die nach dem Ablösungsstichtag gezeigte Betriebstreue ohne Gegenleistung, – ein Ergebnis, das mit
dem Entgeltgedanken schwerlich vereinbar ist. Die ergebnisbezogene Betrachtung
führt aber in aller Regel auch zu einem Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen
Gleichbehandlungsgrundsatz. Während Arbeitnehmer mit einem hohen Anwartschaftswert am Ablösungsstichtag bis zum Versorgungsfall gar keine oder nur sehr
geringe Wertzuwächse erzielen können, erdienen neu eingetretene Arbeitnehmer im
gleichen Zeitraum erhebliche Versorgungsanwartschaften. Für diese Differenzierung
besteht kein hinreichender sachlicher Grund.346
Die ergebnisbezogene Betrachtungsweise ist somit abzulehnen. Ein Eingriff in
den erdienten Anwartschaftsteil ist bereits anzunehmen, wenn die ablösende Neuregelung dessen Wert zum Ablösungsstichtag herabsetzt. Nach der Neuregelung bis
zum Versorgungsfall noch erdienbare Anwartschaftsteile sind entgegen der Ansicht
des BAG nicht zu berücksichtigen.
2. Einzelfälle
a) Reine Leistungskürzungen
Leistungskürzungen sind relativ unproblematisch festzustellen, wenn durch die
verschlechternde Neuregelung die Leistungshöhe unmittelbar herabgesetzt oder ein
Berechnungsfaktor zu Lasten der Arbeitnehmer abgeändert wird. Sollen die begünstigten Arbeitnehmer einen geringeren als den bislang zugesagten Festbetrag als
monatliche Versorgungsrente erhalten, liegt darin ein Eingriff in den erdienten Anwartschaftsteil. Gleiches gilt, wenn bei dynamischen (insbesondere endgehaltsabhängigen) Versorgungszusagen ein einzelner Berechnungsfaktor rückwirkend geändert wird, zurückgelegte Dienstjahre zum Beispiel nur noch mit einem Faktor von
0,3 statt 0,4 Prozent des anrechnungsfähigen Einkommens bewertet werden oder das
anrechnungsfähige Einkommen selbst geändert wird, etwa Zuschläge, Prämien oder
das 13. Monatsgehalt nicht mehr in die Berechnung der Versorgungsrente einflie-
ßen.
344
Zum Entgeltcharakter der betrieblichen Altersversorgung oben Kap. 1 A II, S. 30 f.
345
Schumann, Anm. BAG 10.9.2002, DB 2003, 1527, 1528; Vienken, Anm. BAG 10.9.2002,
SAE 2004, 35, 37.
346
Zutreffend Schumann, Anm. BAG 10.9.2002, DB 2003, 1527, 1528; ders., Kurzkomm. BAG
11.12.2001, EWiR 2003, 305, 306; a.A. BAG 11.12.2001, AP BetrAVG § 1 Unterstützungskassen Nr. 43 (I 2 c bb).
104
b) Änderungen der Versorgungsstruktur
Schwieriger festzustellen als bei reinen Leistungskürzungen sind Eingriffe, die mit
einer Änderung der Versorgungsstruktur zusammentreffen. Darunter sind Fallgestaltungen zu verstehen, in denen neben der bisherigen Versorgung wegen Alters eine
Invaliditäts- oder Hinterbliebenenversorgung neu eingeführt oder eine bereits bestehende Invaliditäts- oder Hinterbliebenenversorgung aufgestockt und die zugesagte
Altersrente zur Finanzierung der neu zugesagten Leistungen gekürzt wird. Für die
Feststellung eines Eingriffs ist insoweit maßgebend, ob der zum Ablösungsstichtag
bereits erdiente Wert der Versorgungsanwartschaft erhalten bleibt. Anders als bei
reinen Leistungskürzungen können die die Leistungshöhe bestimmenden Faktoren
dabei aber nicht ohne weiteres verglichen werden. Notwendig ist ein versicherungsmathematischer Barwertvergleich der Versorgungsanwartschaft vor und nach
der Änderung. Es ist also anhand der zugesagten Leistungshöhe und der biometrischen Wahrscheinlichkeiten (Lebenserwartung, Invaliditätsrisiko) der jeweilige
Barwert der Versorgungsanwartschaft zu ermitteln. Dazu folgendes Beispiel:
Einem Arbeitnehmer (geb. 1.7.1960, Diensteintritt 1.7.1985, verheiratet, Ehefrau
geb. 1.4.1964) ist nach der bisherigen Versorgungsordnung lediglich eine Versorgung wegen Alters zugesagt. Die Rente soll mit Vollendung des 65. Lebensjahrs
ausgezahlt werden und 300 € monatlich betragen. Zum Stichtag 1.10.2006 beträgt
der versicherungsmathematisch errechnete Barwert der Versorgungsanwartschaft
rund 14.513 €.347 Es sei weiter angenommen, dass die bisherige Versorgungsordnung zum Stichtag 1.10.2006 durch eine Hinterbliebenenrente i.H.v. 60% der Altersrente ergänzt und die Altersrente im Gegenzug reduziert werden soll. Der Barwert der vom Arbeitnehmer erdienten Versorgungsanwartschaft ändert sich in diesem Fall nicht, wenn die Altersrente von 300 € auf 237,40 € monatlich gekürzt wird.
Obgleich die zugesagte Altersrente gekürzt wird, würde also nicht in erdiente Anwartschaftsteile eingegriffen.
c) Gesamtversorgung: Berechnung der Anwartschaft nach § 18 Abs. 2 BetrAVG
Große Mühe bereitet die Feststellung eines Eingriff bei Gesamtversorgungssystemen. Die Schwierigkeit besteht hier darin, dass der Arbeitgeber bzw. die Versorgungseinrichtung nur Versorgungsleistungen in Höhe der Differenz zwischen zugesagter Gesamtversorgung und Ansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung
erbringen will. Um diese zu berechnen, müssen die dem Arbeitnehmer aus der gesetzlichen Rentenversicherung zustehenden Ansprüche auf den Versorgungsfall
hochgerechnet werden. Das ist zwar möglich, verursacht aber einen hohen Zeit- und
Verwaltungsaufwand, wie gerade die Umstellung des im öffentlichen Dienst bestehenden Gesamtversorgungssystems auf ein Versorgungspunktemodell zeigte, in
347
Berechnungsgrundlagen: Heubeck 2005 G, Rechnungszins 6% p.a., Aktivenbestand.
105
deren Zuge die Versorgungsanwartschaften von ca. 5,4 Millionen Arbeitnehmern348
ermittelt werden mussten.
Bei der Umstellung des Gesamtversorgungssystems trat als weitere Schwierigkeit
hinzu, dass die im Gesamtversorgungssystem erdienten und als Startgutschriften in
das Versorgungspunktesystem übertragenen Versorgungsanwartschaften der rentenfernen Jahrgänge nach § 18 Abs. 2 BetrAVG berechnet wurden (§ 33 Abs. 1, Abs. 2
ATV/ATV-K349). Zutreffend wäre eine Berechnung analog § 2 Abs. 1 BetrAVG
gewesen.350 Die Tarifvertragsparteien können zwar eine von § 2 Abs. 1 BetrAVG
abweichende Berechnungsmethode wählen, allerdings nur mit künftiger Wirkung.
Führt die von den Tarifvertragsparteien gewählte Methode zu einer Verringerung
des nach § 2 Abs. 1 BetrAVG berechneten, bereits erdienten Anwartschaftsteils, so
liegt darin ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff.
aa) Verringerung des jährlichen Versorgungssatzes
§ 18 Abs. 2 BetrAVG bewertet jedes Pflichtversicherungsjahr mit einem Faktor von
2,25 Prozent der zugesagten Voll-Leistung. Um den vollen Versorgungssatz zu
erhalten, müsste ein Arbeitnehmer folglich 100 Prozent./.2,25 Prozent = 44,44 Jahre
pflichtversichert sein. Demgegenüber stellt § 2 Abs. 1 BetrAVG strikt auf das Verhältnis der tatsächlichen zu der individuell möglichen Betriebszugehörigkeit ab.
Damit berücksichtigt § 2 Abs. 1 BetrAVG, dass viele Arbeitnehmer die in § 18
Abs. 2 BetrAVG zugrunde gelegte Pflichtversicherungszeit von knapp 45 Jahren
(die in aller Regel der Zeit der Betriebszugehörigkeit entspricht) tatsächlich nicht
erreichen; das gilt gerade für Hochschulabsolventen. Die Berechnung der erdienten
Versorgungsanwartschaften nach § 18 Abs. 2 BetrAVG führt daher in vielen Fällen
dazu, dass der ermittelte Anwartschaftswert unterhalb des nach § 2 Abs. 1 BetrAVG
berechneten Anwartschaftswertes liegt. Hat beispielsweise ein zum Ablösungsstichtag 45jähriger Arbeitnehmer 20 von 40 möglichen Dienstjahren zurückgelegt, beträgt der nach § 2 Abs. 1 BetrAVG ermittelte Anwartschaftswert 50 Prozent der
Voll-Leistung. Nach § 18 Abs. 2 BetrAVG liegt er hingegen bei 45 Prozent, also –
bezogen auf den nach § 2 Abs. 1 BetrAVG ermittelten Wert – um 10 Prozent niedriger.
348
Berücksichtigt sind Arbeitnehmer, die bei der VBL oder bei einer der in der Arbeitsgemeinschaft kommunale und kirchliche Altersversorgung (AKA) e.V. zusammengeschlossenen 24
Zusatzversorgungskassen versichert sind; Angabe von Hügelschäffer, ZTR 2004, 231, 232.
349
Tarifvertrag über die betriebliche Altersversorgung des öffentlichen Dienstes (Tarifvertrag
Altersversorgung – ATV) vom 1.3.2002 i.d.F. des 4. Änderungstarifvertrags vom 22.6.2007;
Tarifvertrag über die zusätzliche Altersvorsorge der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes
(Altersvorsorge-TV-Kommunal – ATV-K) vom 1.3.2002 i.d.F. des 4. Änderungstarifvertrags
vom 22.6.2007.
350
Zur Berechnung des erdienten Teilbetrags oben A III 2, S. 73 ff.
106
bb) Nichtberücksichtigung von Vordienstzeiten
Mit dem in § 18 Abs. 2 BetrAVG festgelegten Faktor von 2,25 Prozent werden nur
Zeiten bewertet, in denen der Arbeitnehmer bei einer der in § 18 Abs. 1 Nr. 1 und
Nr. 2 BetrAVG genannten Zusatzversorgungseinrichtungen versichert war. Nicht
berücksichtigt werden Vordienstzeiten, d.h. Beschäftigungszeiten, die der Arbeitnehmer vor seinem Eintritt in den öffentlichen Dienst in einem Betrieb der privaten
Wirtschaft zurückgelegt hat. § 2 Abs. 1 BetrAVG sieht eine Anrechnung von Vordienstzeiten zwar ebenfalls nicht vor. Die Anrechnung kann aber gemäß § 17 Abs. 3
BetrAVG in einem Tarifvertrag oder, soweit sie zu Gunsten der Arbeitnehmer wirkt,
auch individualvertraglich vereinbart werden.351 Ist eine solche Vereinbarung getroffen, sind Vordienstzeiten bei der Berechnung nach § 2 Abs. 1 BetrAVG im Unverfallbarkeitsfaktor, d.h. im Verhältnis der tatsächlichen zur individuell möglichen
Betriebszugehörigkeit (m/n), zu berücksichtigen.
Eine derartige Anrechnungsvereinbarung galt nach § 4 Abs. 1 lit. c des (durch
ATV und ATV-K abgelösten) Versorgungstarifvertrags vom 4.11.1966, §§ 40, 42
Abs. 2 VBLS a.F. auch für die bei der VBL versicherten Beschäftigten. Die danach
ermittelte Versorgungsrente fiel allerdings regelmäßig geringer aus, da die Vordienstzeiten, anders als die während dieser Zeit in der gesetzlichen Rentenversicherung erworbenen Entgeltpunkte, nur zur Hälfte berücksichtigt wurden. Für einzelne
Arbeitnehmer konnte sich die – vom BVerfG mit Ablauf des 31.12.2000 für verfassungswidrig erklärte352 – Halbanrechnung allerdings auch als vorteilhaft erweisen.
Begünstigt waren vor allem Arbeitnehmer, die während der Vordienstzeiten nur ein
geringes Einkommen hatten oder in Teilzeit beschäftigt waren und deswegen in der
gesetzlichen Rentenversicherung nur eine geringe Anwartschaft erarbeiteten. Erreichte diese, bezogen auf die Lebensarbeitszeit, jährlich noch nicht einmal die Hälfte der durchschnittlich erzielten Rentenanwartschaft, wurden die betroffenen Arbeitnehmer durch die hälftige und damit überproportionale Anrechnung der Vordienstzeit begünstigt.353 Für diese Arbeitnehmer bedeutete ein Wegfall der
Halbanrechnung, anders als für den Großteil der Arbeitnehmer, damit einen Eingriff
in ihre erdienten Versorgungsanwartschaften.354
351
BAG 8.5.1984, AP BetrAVG § 7 Nr. 20; BAG 11.3.1983, AP BetrAVG § 7 Nr. 17;
B/R/O/Rolfs, BetrAVG, § 2 Rn. 45 ff., 57; ErfK/Steinmeyer, § 2 BetrAVG Rn. 13; F/R/C/S,
BetrAVG, § 2 Rn. 10 f.; Höfer, BetrAVG, Rn. 3090.
352
BVerfG 22.3.2000, AP BetrAVG § 18 Nr. 27. Für die Rentnergeneration der Beschwerdeführerin sah das BVerfG die Halbanrechnung allerdings noch als zulässige Typisierung und Generalisierung an, a.a.O. (II 2 c aa). Die Verfassungsbeschwerde hatte daher keinen Erfolg.
353
Vgl. BVerfG 22.3.2000, AP BetrAVG § 18 Nr. 27 (II 2 c aa).
354
OLG Karlsruhe 24.11.2005, Az. 12 U 102/04, n.v. (B IV 9 b bb) und 22.9.2005, ZTR 2005,
588, 591.
107
cc) Ausschließliche Berechnung der anzurechnenden gesetzlichen Rente nach dem
Näherungsverfahren
Gemäß § 18 Abs. 2 Nr. 1 f BetrAVG errechnet sich die nach § 40 Abs. 1, Abs. 2
VBLS a.F. auf die Gesamtversorgung anzurechnende gesetzliche Rente allein nach
dem steuerlichen Näherungsverfahren, d.h. pauschal, ohne Berücksichtigung des
individuellen Versicherungsverlaufs des Arbeitnehmers. Nach § 2 Abs. 5 Satz 2 HS
1 BetrAVG kann der Arbeitnehmer dagegen eine individuelle Rentenberechnung
verlangen, wenn er die in der gesetzlichen Rentenversicherung erreichten Entgeltpunkte nachweist.
Das Näherungsverfahren ist in der Vergangenheit infolge kontinuierlicher Reformen des Sozialversicherungsrechts wiederholt angepasst worden. Die Näherungsformel wurde in jüngerer Vergangenheit zunächst durch Schreiben des BMF vom
5.10.2001355 grundlegend neu gefasst, dann mehrmals ergänzt356 und mit Schreiben
vom 16.12.2005357 komplett neu gestaltet. Nach der bis zum 16.12.2005 anzuwendenden Näherungsformel entsprach die Rente, vereinfacht dargestellt, der Anzahl
der Versicherungsjahre ab Alter 20 bis zum prognostizierten Rentenbeginn multipliziert mit dem sozialversicherungspflichtigen Einkommen und einem bezügeabhängigen Steigerungssatz, der je nach Einkommen des Arbeitnehmers zwischen 0,88
und 1,09 Prozent betrug. Das so ermittelte Produkt war mit einem jährlich ermittelten Korrekturfaktor zu multiplizieren, der die Entwicklung des aktuellen Rentenwerts im Vergleich zum Durchschnittsentgelt in der gesetzlichen Rentenversicherung berücksichtigte und – bei vorzeitigem oder hinausgeschobenen Rentenbeginn –
mit einem sog. Rentenzugangsfaktor.358 Das seit dem 16.12.2005 geltende Näherungsverfahren359 folgt demgegenüber stärker der tatsächlichen Berechnung der
gesetzlichen Rente (§ 64 SGB VI). Die Rente entspricht danach, ebenfalls vereinfacht, dem Produkt der Summe der Entgeltpunkte für die Vergangenheit und für die
Zukunft, des aktuellen Rentenwerts und des Rentenzugangsfaktors.360 Die unterschiedliche Berechnungsweise führt im Ergebnis dazu, dass die nach dem derzeitig
gültigen gesetzlichen Nährungsverfahren berechneten Renten zum Rentenalter 65
höher liegen als nach dem bisherigen Verfahren.361
355
BStBl. I (2001), S. 661.
356
Schreiben v. 10.1.2003, abgedr. in BStBl. I (2003), S. 76 und v. 16.8.2004, abgedr. in BStBl. I
(2004), S. 849.
357
BStBl. I (2005), S. 1056.
358
Vgl. das Schreiben des BMF v. 5.10.2001, BStBl. I (2001), S. 661. Näher zur Berechnung
B/R/O/Rolfs, BetrAVG, § 2 Rn. 422 ff.; F/R/C/S, BetrAVG, § 2 Rn. 13 (mit Berechnungsbeispiel); Schmidt/Alt, BB 2006, 296, 297.
359
Zuletzt angepasst durch Schreiben v. 15.3.2007, BStBl. I (2007), S. 290 und 5.5.2008, BStBl.
I (2008), S. 570.
360
Schreiben des BMF v. 16.12.2005, BStBl I (2005), S. 1056 und 15.3.2007, BStBl. I (2007),
S. 290; Schmidt/Alt, BB 2006, 296, 297.
361
Beispielsrechnungen (auf Basis der Näherungsformel vom 16.12.2005) bei Schmidt/Alt, BB
2006, 296, 297 f.
108
Schon die Anwendung des Näherungsverfahrens in seiner bei zum 16.12.2005
geltenden Form führte nach Berechnungen des OLG Karlsruhe dazu, dass die ermittelte gesetzliche Rente in einigen dem Senat vorliegenden Verfahren deutlich höher
war, als sie es bei individueller Berechnung gewesen wäre.362 Da die gesetzliche
Rente auf die zugesagte Gesamtversorgung angerechnet wird, ergab sich für die
betroffenen Arbeitnehmer eine entsprechend geringere Versorgungsrente. Entsprechend verringerte sich auch der Wert der zum Ablösungsstichtag erdienten Versorgungsanwartschaft.
Entgegen anders lautender Stimmen in der Literatur363 ist dabei nicht entscheidend, in welchem Umfang die Versorgungsanwartschaft herabgesetzt wird. Ob der
betroffene Arbeitnehmer eine Einbuße von nur wenigen Euro364 oder von mehr als
35 Prozent365 seiner Versorgungsanwartschaft hinnehmen muss, wird zwar auf
Rechtfertigungsebene relevant, schließt einen Eingriff aber nicht aus. Gleiches gilt
für den Einwand366, die Näherungsrente falle vielfach niedriger als die tatsächliche
Rente aus und sei damit (da der von der zugesagten Gesamtversorgungsrente abzuziehende Betrag geringer ist) für einen Großteil der Arbeitnehmer günstiger.
Im Ergebnis stellt die zwingende Anwendung des steuerlichen Näherungsverfahrens zumindest diejenigen Arbeitnehmer schlechter, bei denen die Näherungsrente
über der tatsächlichen Rente liegt. Ihnen wird durch die Anwartschaftsberechnung
nach § 18 Abs. 2 BetrAVG die Möglichkeit genommen, die in der gesetzlichen
Rentenversicherung erworbenen Entgeltpunkte nachzuweisen und eine exakte individuelle Berechnung zu verlangen (§ 2 Abs. 5 Satz 2 HS 1 BetrAVG). Die dadurch
entstehende Ungleichbehandlung von Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst wird
künftig noch vertieft, da die neue Näherungsformel zu tendenziell höheren Renten
führt als die bisherige.
d) Zwischenergebnis
Die vorstehenden Ausführungen haben beispielhaft gezeigt, in welchen Konstellationen Neuregelungen in den bereits erdienten Teilbetrag einer Versorgungsanwartschaft eingreifen. Entgegen der Auffassung des BAG ist dabei nicht von einer ergebnisbezogenen Betrachtungsweise auszugehen. Diese ist mit dem Entgeltcharakter
der betrieblichen Altersversorgung und dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nicht zu vereinbaren. Maßgebend sind vielmehr die Verhältnisse am Ab-
362
OLG Karlsruhe 24.11.2005, Az. 12 U 102/04, n.v. (B IV 9 b dd); OLG Karlsruhe 22.9.2005,
ZTR 2005, 588, 591. Die von der VBL und der Literatur gerügten Rechenfehler (vgl. Wein,
BetrAV 2006, 331, 333) hat das OLG Karlsruhe in seiner Entscheidung vom 24.11.2005
(a.a.O.) korrigiert.
363
Ackermann, BetrAV 2006, 247, 251.
364
OLG Karlsruhe 24.11.2005, Az. 12 U 102/04, n.v. (B IV 9 b): 513,64 € statt 515,74 €.
365
Verfahren 12 U 195/05, vgl. OLG Karlsruhe 24.11.2005, Az. 12 U 102/04, n.v. (B IV 9 b dd).
366
Ackermann, BetrAV, 247, 250; Hügelschäffer, BetrAV 2008, 254, 263; Konrad, ZTR 2006,
356, 362.
109
lösungsstichtag. Wird der erdiente Teilbetrag zu diesem Zeitpunkt herabgesetzt,
liegt ohne Rücksicht auf mögliche künftige Steigerungen ein Eingriff in den erdienten Teilbetrag vor. Das ist etwa bei reinen Leistungskürzungen der Fall oder, wenn
der Barwert der Versorgungsanwartschaft nicht erhalten bleibt, bei Änderungen der
Versorgungsstruktur. Ebenso wurde durch die Berechnung der Startgutschriften im
öffentlichen Dienst analog § 18 Abs. 2 BetrAVG in vielen Fällen in den bereits
erdienten Anwartschaftsteil eingegriffen.
III. Reduzierung des noch nicht erdienten Teilbetrags
Neuregelungen greifen in den zum Ablösungsstichtag noch nicht erdienten Teilbetrag ein, wenn sie die künftig vom Arbeitnehmer erdienbaren, dienstzeitabhängigen
Steigerungsraten herabsetzen oder die Anwartschaftsdynamik begrenzen. Ein Eingriff in dienstzeitabhängige Steigerungsraten ist dann gegeben, wenn das Versorgungssystem mit Wirkung für die Zukunft geschlossen wird, neben den bereits erdienten Anwartschaften also keine weiteren erworben oder durch Betriebstreue
künftig nur noch geringere Anwartschaften als nach der bisherigen Versorgungsordnung erdient werden können. Ein Eingriff in die Anwartschaftsdynamik, die, entgegen der Ansicht des BAG, zu dem noch nicht erdienten Teilbetrag zählt,367 liegt
dagegen etwa vor, wenn bei endgehaltsbezogenen Versorgungszusagen das für die
Höhe der Versorgungsrente maßgebliche Arbeitsentgelt auf den Ablösungsstichtag
festgeschrieben wird, künftige Gehaltserhöhungen sich also entgegen der ursprünglichen Versorgungszusage nicht mehr auf die Höhe der Versorgungsleistungen auswirken.
D. Zusammenfassung
Der dem Arbeitnehmer zustehende und gegenüber tariflichen Eingriffen grundsätzlich geschützte Besitzstand lässt sich aufgliedern in einen erdienten und in einen
noch nicht erdienten Teil. Den stärksten Bestandsschutz genießt der mit dem Versorgungsfall entstehende Versorgungsanspruch. Für ihn hat der Arbeitnehmer seine
Gegenleistung bereits vollständig erbracht. Ebenfalls zum erdienten Besitzstand
zählt der bis zum Ablösungsstichtag bereits erdiente Anwartschaftsteil. Dieser berechnet sich analog § 2 Abs. 1 BetrAVG nach dem sog. m/ntel-Verfahren und unterfällt, ebenso wie der Versorgungsanspruch, als vermögenswertes und im Kern bereits gewährleistetes Recht dem verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff. Erdienter
Anwartschaftsteil und Versorgungsanspruch sind daher durch Art. 14 GG gegen
ablösende Versorgungstarifverträge geschützt. Nicht zum erdienten Anwartschaftsteil, sondern zu dem vom Arbeitnehmer zum Ablösungsstichtag noch nicht erdienten
367
Oben A II 1 und 2, S. 71 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die gesetzliche Rente ist längst nicht mehr sicher. Schutz gegen drohende Versorgungslücken bieten Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung. Neben betriebsbezogenen Versorgungssystemen gewinnen in der Praxis auch solche auf tariflicher Grundlage zunehmend an Bedeutung. Doch wie verhält sich ein solches System im Krisenfall? In welchem Umfang sind Eingriffe in Versorgungsrechte zur Rettung von Unternehmen möglich?
Diesen in Literatur und Rechtsprechung umstrittenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Untersucht wird, ob die vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Drei-Stufen-Theorie auf ablösende Versorgungstarifverträge übertragbar ist und welche Bedeutung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vertrauensschutzgesichtspunkte haben. Auf der Grundlage staatlicher Schutzpflichten entwickelt der Autor ein eigenes Lösungsmodell.
Das Werk wurde mit dem Südwestmetall-Föderpreis 2008 ausgezeichnet.