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die nicht mehr organisiert sind. Wie bei vorzeitig ausgeschiedenen Mitgliedern beruht diese Regelungsbefugnis nicht auf privatautonomer Legitimation, sondern auf
derjenigen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers.
5. Zwischenergebnis
Ablösende Versorgungstarifverträge können auch Rechte aus Arbeitsverhältnissen
einschränken, die bei Inkrafttreten des Tarifvertrags bereits beendet waren. Enthält
der Arbeitsvertrag eine dynamische Bezugnahmeklausel, folgt dieses Ergebnis bereits aus dem Zweck der Bezugnahme, Arbeitnehmer unabhängig vom Zeitpunkt
ihres Ausscheidens den gleichen Versorgungsregelungen zu unterwerfen. Fehlt im
Arbeitsvertrag eine Bezugnahmeregelung, folgt die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien aus einer auch vom Gesetzgeber anerkannten Annexkompetenz.
Ist das Mitglied bei Inkrafttreten bereits aus der Tarifvertragspartei ausgeschieden, ergibt sich die persönliche Legitimation, wenn der Tarifvertrag nicht für allgemeinverbindlich erklärt wurde, aus § 17 Abs. 3 Satz 1 BetrAVG i.V.m. § 2 Abs. 5
Satz 1 BetrAVG. Das gilt gleichermaßen für vorzeitig ausgeschiedene Arbeitnehmer
und für Arbeitnehmer, die mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses in den Ruhestand treten. Die Tarifvertragsparteien können die Rechtsverhältnisse ausgeschiedener Arbeitnehmer demnach in allen denkbaren Fallkonstellationen regeln.
III. Geltung im Bezugsverhältnis
Von der Geltung des ablösenden Versorgungstarifvertrags im arbeitsrechtlichen
Grundverhältnis ist diejenige im versicherungsrechtlichen Bezugsverhältnis zu unterscheiden. Beide Rechtsverhältnisse sind grundsätzlich zu trennen.317
Ist die Versorgungseinrichtung, wie in der Privatwirtschaft üblich, als gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien organisiert, wirkt der ablösende Versorgungstarifvertrag normativ. Er gestaltet Satzung und Bezugsverhältnis mit unmittelbarer und zwingender Wirkung (§ 4 Abs. 2 TVG), wobei Voraussetzung für die
Geltung im Bezugsverhältnis ist, dass beide Arbeitsvertragsparteien tarifgebunden
sind oder der Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wurde.318 Der ablösende
Versorgungstarifvertrag findet damit auch im Bezugsverhältnis unmittelbare Anwendung.
Anderes gilt, wenn die Versorgungseinrichtung – wie die VBL – nicht als gemeinsame Einrichtung organisiert ist oder es an der beiderseitigen Tarifgebundenheit fehlt. Der Versorgungstarifvertrag gilt dann nicht normativ im Bezugsverhält-
317
Oben Kap. 1 C I, S. 57.
318
Zur Geltung des Tarifvertrags im Bezugs- und Deckungsverhältnis oben Kap. 1 C IV 2 b,
S. 63 ff.
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nis. Dieses wird vielmehr unmittelbar nur durch die Satzung der Versorgungseinrichtung gestaltet. Die darin enthaltenen allgemeinen Versicherungsbedingungen319
können folglich nur durch eine Änderung der Satzung an die neue tarifliche Lage
angepasst werden. Eine Satzungsänderung setzt jedoch, da die allgemeinen Versicherungsbedingungen zum Inhalt des zwischen Arbeitgeber und VBL abgeschlossenen Gruppenversicherungsvertrags zählen, grundsätzlich die Zustimmung des Arbeitgebers voraus. Nicht erforderlich ist hingegen eine Zustimmung des Arbeitnehmers. Dieser ist nicht Vertragspartei des Versicherungsvertrags.320
Satzungen enthalten jedoch nahezu durchweg einen Änderungsvorbehalt, der den
Satzungsgeber ermächtigt, die allgemeinen Versicherungsbedingungen auch ohne
Zustimmung des Versicherungsnehmers zu ändern. Beispiel ist wiederum die Satzung der VBL: Nach § 14 Abs. 1 VBLS321 kann der Verwaltungsrat nach Anhörung
des Vorstands u.a. Änderungen der Satzung beschließen. Gemäß § 14 Abs. 3 lit b)
VBLS gelten derartige Satzungsänderungen auch für das Bezugs- und Deckungsverhältnis bestehender Versicherungen.
Mit der Vereinbarung des Änderungsvorbehalts räumt der Arbeitgeber der VBL
ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht i.S.d. § 315 BGB ein. Auch eine spätere
einseitige Änderung der allgemeinen Versicherungsbedingungen muss sich indes
noch auf die rechtsgeschäftliche Einigung der Vertragspartner zurückführen lassen.322 Der Änderungsvorbehalt muss daher hinreichend bestimmt sein. Soweit Satzungsänderungen auf einem ablösenden Tarifvertrag beruhen, sind an die Bestimmtheit eines Änderungsvorbehalts jedoch keine allzu strengen Anforderungen zu
stellen. In diesem Fall kämen – so der BGH – die Satzungsänderungen unter Beteiligung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite zustande, so dass sich die Tarifverträgen eigene Richtigkeitsgewähr auch auf Satzungsänderungen erstrecke. Die vorbehaltenen Änderungen müssten für die versicherten Arbeitnehmer somit im Einzelnen weder erkennbar noch vorhersehbar sein.323
Ist ein Änderungsvorbehalt nicht vereinbart, können die allgemeinen Versicherungsbedingungen nur mit Zustimmung des Arbeitgebers geändert werden. Dieser
ist jedoch über seine Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband regelmäßig verbandsrechtlich bzw., wenn er selbst Tarifvertragspartei ist, kraft der ihm obliegenden
319
Kap. 1 C II 2, S. 59.
320
BGH 14.11.2007, BetrAV 2008, 203 f.; BGH 16.3.1988, AP BetrAVG § 1 Zusatzversorgungskassen Nr. 25 (I 2 e).
321
Neufassung zum 1.1.2001 i.d.F. der 12. Satzungsänderung (September 2008).
322
Fehlen ausreichende Anhaltspunkte für die Ausübung des Bestimmungsrechts, ist die Vereinbarung unwirksam, MünchKommBGB/Gottwald, Bd. 2, § 315 Rn. 14; Palandt/Grüneberg,
§ 315 BGB Rn. 1 jeweils m.w.N.
323
BGH 10.12.2003, VersR 2004, 319, 320; BGH 11.6.2003, Z 155, 132, 136; BGH 16.3.1988,
AP BetrAVG § 1 Zusatzversorgungskassen Nr. 25 (I 2 e). Enger dagegen die frühere Rechtsprechung des Vierten Senats, der an die Bestimmtheit eines Änderungsvorbehalts höhere Anforderungen stellte und insbesondere verlangte, dass der Arbeitnehmer weiß, bei welchen Vertragsbestimmungen er mit Änderungen rechnen muss, vgl. BGH 14.6.1972, VersR 1972, 827,
828; BGH 22.9.1971, VersR 1971, 1116, 1117.
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Durchführungspflicht, verpflichtet, den im Tarifvertrag enthaltenen Änderungen
zuzustimmen.
C. Nachteilige Änderung zugesagter Versorgungsleistungen
Verfassungsrechtliche Grenzen haben die Tarifvertragsparteien insbesondere zu
beachten, wenn sie zum Nachteil des Arbeitnehmers in ihm bereits zugesagte Versorgungsrechte eingreifen. Anhebungen der zugesagten Leistungen und wertneutrale
Änderungen sind, sofern nicht gleichheitswidrig, dagegen grundsätzlich jederzeit
möglich.324 Auch die Schließung eines Versorgungssystems für Neuzugänge begegnet keinen Bedenken, da dadurch nicht in bestehende Versorgungsrechte eingegriffen wird.325
Nachfolgend soll daher untersucht werden, in welchen Fallkonstellationen bestehende Versorgungszusagen durch einen ablösenden Versorgungstarifvertrag herabgesetzt werden. Dabei soll nach der Art des Versorgungsrechts unterschieden werden, d.h. zwischen nachteiligen Änderungen von Versorgungsansprüchen (unten I),
erdienten Versorgungsanwartschaften (unten II) und des noch nicht erdienten Teilbetrags einer Versorgungsanwartschaft (unten III).
I. Reduzierung von Versorgungsrechten nach Eintritt des Versorgungsfalls
1. Reduzierung der erdienten Versorgungsrente
In den bereits bestehenden Versorgungsanspruch greift ein ablösender Versorgungstarifvertrag ein, der den Betrag der monatlich an den (ehemaligen) Arbeitnehmer
ausgezahlten Versorgungsrente reduziert. Einen solchen Eingriff enthält beispielsweise der Tarifvertrag über Rentenbeihilfen im Baugewerbe (TVR) aus dem Jahr
2002.326 Gemäß dessen § 19 Abs. 2 erhalten Versorgungsempfänger, deren Versorgungsfall vor dem 1.1.2003 eintrat, seit dem 1.1.2003 nur noch eine um fünf Prozent
geringere Versorgungsrente. Derartige Eingriffe in Versorgungsansprüche sind in
der Praxis allerdings äußerst selten. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass
das BAG schon frühzeitig angemessene Übergangsregelungen für ältere Arbeitnehmer und Versorgungsrentner forderte.327
324
B/R/O/Rolfs, BetrAVG, Anh § 1 Rn. 603 ff.; Höfer, BetrAVG, Rn. 314 ff.; Kemper/Kisters-
Kölkes/Kemper, BetrAVG, § 1 Rn. 225.
325
Kemper/Kisters-Kölkes/Kemper, BetrAVG, § 1 Rn. 218.
326
Vgl. dazu auch BAG 21.8.2007, AP BetrAVG § 1 Zusatzversorgungskassen Nr. 69.
327
Vgl. BAG 8.12.1981, AP BGB BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 1 (B III 3 b).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die gesetzliche Rente ist längst nicht mehr sicher. Schutz gegen drohende Versorgungslücken bieten Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung. Neben betriebsbezogenen Versorgungssystemen gewinnen in der Praxis auch solche auf tariflicher Grundlage zunehmend an Bedeutung. Doch wie verhält sich ein solches System im Krisenfall? In welchem Umfang sind Eingriffe in Versorgungsrechte zur Rettung von Unternehmen möglich?
Diesen in Literatur und Rechtsprechung umstrittenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Untersucht wird, ob die vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Drei-Stufen-Theorie auf ablösende Versorgungstarifverträge übertragbar ist und welche Bedeutung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vertrauensschutzgesichtspunkte haben. Auf der Grundlage staatlicher Schutzpflichten entwickelt der Autor ein eigenes Lösungsmodell.
Das Werk wurde mit dem Südwestmetall-Föderpreis 2008 ausgezeichnet.