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Der Bundesregierung kommt bei dem Treffen von Zielfestlegungen also ein weiter
Gestaltungsspielraum zu.400 Diesen hat sie bislang zweimal genutzt. Im Jahre 1989
traf die Bundesregierung Zielfestlegungen zur Vermeidung, Verringerung oder Verwertung von Abfällen aus Verpackungen für Getränke,401 1990 »Zielfestlegungen zur
Vermeidung, Verringerung oder Verwertung von Abfällen von Verkaufsverpackungen aus Kunststoff für Nahrungs- und Genußmittel sowie Konsumgüter«. 402
Die freiwillige Rücknahme wird zumeist mit einer dritten Art der gewillkürten Wahr nehmung der Produktverantwortung, nämlich der freiwilligen Selbstverpflichtungen
der Wirtschaft im Zusammenhang stehen.403 Freiwillige Selbstverpflichtungen sind
rechtlich unverbindliche Zusagen von Unternehmen oder Unternehmensverbänden
gegenüber dem Staat, die das Erreichen bestimmter, umweltpolitischer Ziele durch
konkrete, umweltverbessernde Maßnahmen zum Gegenstand haben.404 Sie sind
zudem auch zwischen Wirtschaftsbranchen untereinander oder innerhalb derselben
möglich.405 In Wahrnehmung ihrer Produktverantwortung können Produzenten so
beispielsweise Vereinbarungen über Produktgestaltung und Rücknahme treffen. Der
Staat kann auf deren Abschluss hinwirken, indem er anderenfalls den Erlass einer
Rechtsverordnung in Aussicht stellt.406
Freiwillige, mit dem abfallrechtlichen Prinzip der Produktverantwortung im Zusammenhang stehende Selbstverpflichtungen wurden bisher beispielsweise für Altautos,
graphische Altpapiere und Bauabfälle abgegeben.407
III. Produktverantwortung im europäischen Kontext
1. Allgemeines
Auf Ebene der Europäischen Gemeinschaft spielt das Thema Produktverantwortung
eine doppelte Rolle.
400 Ebenso Versteyl in: Kunig/Paetow/Versteyl, KrW-/AbfG, 2. Auflage, Rn 10 zu § 25.
401 BAnz 1989, 2237, 2733.
402 BAnz 1990, 513.
Darüber hinaus kam es lediglich zu Entwürfen bzw. Erwägungen von Zielfestlegungen, die jedoch
nicht umgesetzt wurden. Nachweise bei Versteyl in: Kunig/Paetow/Versteyl, KrW-/AbfG, 2. Auflage,
Rn 9 zu § 25 und von Lersner in: von Lersner/Wendenburg, Recht der Abfallbeseitigung – Kommentar, Band 1, Stand März 2008, Rn 22 zu § 25.
403 Konzak in: BeckOK KrW-/AbfG, Rn 1 zu § 22. Ebenfalls auf solche Verbindungen hinweisend
Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage, Rn 136 zu § 20.
404 Schendel, Selbstverpflichtungen, NVwZ 2001, 494.
405 Vergleiche von Lersner, Die abfallrechtliche Produktverantwortung, ZUR Sonderheft/ 2000, 105,
109. Er lässt eine Rücknahme im Sinne von § 25 Absatz 1 KrW-/AbfG, die er als Spezialfall freiwilliger Selbstverpflichtungen ansieht, im Übrigen nicht als freiwillig gelten, wenn sie auf Grund einer
»öffentlich-rechtlichen Verpflichtung«, also einer Absprache zwischen Wirtschaft und Staat, zu
Stande gekommen ist.
Vergleiche auch Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage, Rn 507 f zu § 5, der Vereinbarungen zwischen
Privaten lieber als »Umweltabsprachen« bezeichnet.
406 Thomsen, Produktverantwortung, S. 89.
407 Vergleiche Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage, Rn 513 zu § 5 mwN.
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Zum einen ist das abfallrechtliche Prinzip der Produktverantwortung auch der
Gemeinschaft bekannt.408 Es findet seine Grundlagen im gemeinschaftlichen Primärwie Sekundärrecht und bot sich den Mitgliedsstaaten zur Umsetzung mehrerer, abfallrechtlicher Richtlinien idealer Weise an.
Zum anderen müssen nationale Regelungen, die das abfallrechtliche Prinzip der Produktverantwortung umzusetzen suchen, im Einklang mit dem höherrangigen Recht
der Gemeinschaft stehen. Soweit dieses keine speziellen sekundärrechtlichen Regelungen enthält, sind nationale Maßnahmen am gemeinschaftlichen Primärrecht, insbesondere an der Freiheit des Warenverkehrs (Art. 23 ff EG), auszurichten.409
So verhält es sich auch für die vorliegende Arbeit. Da die Gemeinschaft insbesondere
keine speziellen, abfallrechtlichen Regelungen für Altreifen kennt, ist bei der Konkretisierung der Produktverantwortung für Reifen in Deutschland maßgeblich auf die
Konformität der zu erlassenden Regelungen mit dem gemeinschaftlichen Primärrecht
zu achten.
Hierfür müssen die notwendigen Umsetzu ngsmaßnahmen aber erst noch erarbeitet
werden. An dieser Stelle der Arbeit erfolgt deshalb zunächst nur ein Überblick über
die Produktverantwortung im Recht der Europäischen Gemeinschaft. Weiterhin wird
besprochen, welche produktverantwortungsrechtlichen Bezüge in der EG-Abfallrahmenrichtlinie (AbfRRL; 2006/12/ EG, ehedem 75/442/EWG), insbesondere in ihrer
nun anstehenden Neufassung410 zu finden sind.
2. Produktverantwortung im Recht der Europäischen Gemeinschaft
Die Umwelt betreffende, primärrechtliche Regelungen der Europäischen Gemeinschaft sind in den Art. 3 Absatz 1 Buchstabe l) und 174-176 EG niedergelegt. Danach
betreibt die Gemeinschaft Politik auf dem Gebiet der Umwelt (vergleiche Art. 3 und
174) und trägt zu deren Erhalt und Schutz sowie zur Verbesserung ihrer Qualität
ebenso bei (Art. 174 Absatz 1 erster Spiegelstrich) wie zu einer umsichtigen und rationellen Verwendung der natürlichen Ressourcen (dritter Spiegelstrich). Die gemeinschaftliche Umweltpolitik beruht zudem auf den Grundsätzen der Vorsorge und der
Vorbeugung, auf dem Grundsatz, Umweltbeeinträchtigungen mit Vorrang an ihrem
Ursprung zu bekämpfen, sowie auf dem Verursacherprinzip (Art. 174 Absatz 2 Satz 2
EG). Sie verfolgt damit die gleichen Ziele, ausgehend von annähernd den gleichen
408 Vergleiche für einen aktuellen Nachweis beispielsweise KOM(2005) 666, 10 und 20. Hierin wird die
Produktverantwortung allerdings als Herstellerverantwortung bezeichnet. Damit bringt die Kommission deutlich zum Ausdruck, wer ihrer Auffassung nach die zu benennenden Verantwortlichen sind.
Konzak in: BeckOK KrW-/AbfG, Rn 1.1 zu § 22 verweist zudem auf die »herausragende Rolle« der
Herstellerverantwortung in der Mitteilung der Kommission über »Eine thematische Strategie für
Abfallvermeidung und -recycling« (KOM[2003] 301 endgültig vom 27. 5. 2003). Auch im Übrigen
sieht er die Produktverantwortung im europäischen Recht stark verankert.
409 Vergleiche insofern auch Thomsen, Produktverantwortung, S. 162ff.
410 Vergleiche hierzu zunächst KOM(2005) 667: »Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Abfälle«.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Wie kann abfallrechtliche Produktverantwortung dazu beitragen, das in Reifen verborgene Abfallvermeidungspotential auszuschöpfen? Welche Regelungen sind hierfür sinnvoll und rechtmäßig?
Das moderne Abfallrecht verfolgt das Ziel, den Stoffeinsatz bei der Produktherstellung durch ressourcensparendes Produktdesign möglichst zu minimieren und Stoffe durch lange Benutzungsdauer und mehrfache Verwendung über große Zeiträume im Umlauf zu halten. Die Entstehung von Abfall soll vermieden werden.
Bei Reifen lässt sich dies im Wesentlichen auf drei Arten erreichen. So kann zunächst die Kilometerlaufleistung erhöht werden, so dass ein Reifenwechsel und damit ein Altreifenanfall verzögert werden. Weiterhin können Reifen durch die Anwendung der Verfahren des Nachschneidens und der Runderneuerung „weitere Leben“ gegeben werden, so dass die aus dem Verkehr auszusondernde Zahl von Reifen erheblich verringert werden kann.
Das Buch zeigt auf, wie Reifenhersteller zur Anwendung dieser Verfahren und damit zur Wahrnehmung ihrer abfallrechtlichen Produktverantwortung gebracht werden können. Besonderes Gewicht wird dabei auf die Berücksichtigung von Vorsorgeprinzip und Lebenszykluskonzept gelegt.