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§§ 23, 24 sind gleichzeitig auch die Kernvorschriften des Kreislaufwirtschafts- und
Abfallgesetzes über die Abfallvermeidung.383 Zwar rückt das KrW-/AbfG den
Gedanken der Abfallvermeidung in den Mittelpunkt der gesetzgeberischen Konzeption,384 was sich bereits aus seiner Stellung als erster Grundsatz der Kreislaufwirtschaft in § 4 Absatz 1 Nr. 1 ergibt. Jedoch formuliert der die Grundpflichten der
Kreislaufwirtschaft bestimmende § 5 Absatz 1 keine unmittelbare Rechtspflicht zur
Abfallvermeidung.385 Vielmehr kann die Abfallvermeidung außerhalb von Anlagen
im Sinne des BImSchG erst auf Grundlage der gemäß §§ 23, 24 KrW-/AbfG erlassenen Verordnungen zur Rechtspflicht erstarken.386
Wie oben bereits angesprochen, kann Produktverantwortung mittels ordnungsrechtlicher und influenzierender Maßnahmen umgesetzt werden.
§ 23 KrW-/AbfG ermächtigt die Bundesregierung ausweislich seiner Überschrift zu
ordnungsrechtlichen Maßnahmen, nämlich Verboten, Beschränkungen und Kennzeichnungspflichten. Demnach kann für Erzeugnisse vorgeschrieben werden, dass sie
nur auf bestimmte, die Abfallentsorgung entlastende Weise in Verkehr gebracht werden dürfen (Nr. 3), sie darüber hinaus eine bestimmte, die umweltverträgliche Entsorgung sichernde Beschaffenheit haben müssen (Nr. 1) oder sogar überhaupt nicht in
Verkehr gebracht werden dürfen (Nr. 2). Nr. 4 bis Nr. 7 erlauben zudem das Vorschreiben von Kennzeichnungs- und Hinweispflichten.
§ 24 Absatz 1 KrW-/AbfG hingegen ermöglicht die Verordnung influenzierender
Maßnahmen. Unmittelbare Eingriffe in den Produktionsprozess von Unternehmen
sollen damit vermieden werden.387 Die Eröffnung von Rückgabemöglichkeiten kann
angeordnet werden (Nr. 1), ebenso können Rücknahmepflichten normiert werden (Nr.
2, 3), wobei die Rückgabe insbesondere durch die Einführung eines Rücknahmesy stems oder die Erhebung eines Pfandes abgesichert werden kann (Nr. 2).
Über § 24 Absatz 2 lassen sich so genannte Hilfspflichten388 statuieren. Wie oben
bereits dargelegt, können auch Verbraucher und örE in die Rücknahmesysteme einge bunden werden.
6. Operationalisierung durch freiwillige Maßnahmen
Die Ziele der Produktverantwortung lassen sich selbstverständlich auch durch freiwillige Maßnahmen der Verantwortlichen erfüllen. Hervorzuheben sind vor allem das
freiwillige Befolgen des in § 22 KrW-/AbfG statuierten Appells, die durch Zielfestlegung abgesicherte, freiwillige Rücknahme im Sinne von § 25 KrW-/AbfG sowie die
freiwillige Selbstverpflichtung der Privatwirtschaft. Soweit solche freiwilligen Maß-
383 Vergleiche insofern noch einmal Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage, Rn 93 zu § 20.
384 Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage, Rn 91 zu § 20.
385 So beispielsweise auch Frenz, KrW-/AbfG Kommentar, Rn 4 zu § 5 und Kloepfer, Umweltrecht, 3.
Auflage, Rn 89 zu § 20.
386 Vergleiche insofern auch Hoppe/Beckmann/Kauch, Umweltrecht, Rn 55 zu § 30.
387 Beckmann, Produktverantwortung – Grundsätze und zulässige Reichweite –, UPR 1996, 41, 46.
388 Zum Begriff vergleiche Kaspar, Produktverantwortungsverordnungen, S. 12 mwN.
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nahmen zur Anwendung kommen, wird das umweltrechtliche Kooperationsprinzip
verwirklicht.389
Am einfachsten gelingt eine freiwillige Wahrnehmung der Produktverantwortung,
wenn Entwickler, Hersteller und Vertreiber von Erzeugnissen den an sie in § 22 KrW-
/AbfG gerichteten, ökologischen Appell ernst nehmen und seine Vorgaben befolgen.
Nicht wenige Hersteller tun dies bereits heute.390 Finanzielle Anreize mögen mitunter
die Hauptmotivation hierbei bilden.
Für die deutsche Reifenbranche lassen sich zwei erfreuliche Beispiele einer freiwilligen Produktverantwortung nennen. So hat ein deutscher Reifenhersteller mit einer
von ihm selbst gegründeten Entsorgungsfirma und deren Beteiligung an dem Gro-
ßentsorger Wesseler in den letzten 15 Jahren dafür gesorgt, dass hunderttausende
Tonnen Reifen entsorgt wurden. Ein anderer in Deutschland ansässiger Hersteller
runderneuert seit über 35 Jahren Lkw-Reifen in einem seiner deutschen Werke, zurzeit rund 450.000 Stück pro Jahr.
Eine weitere Form der gewillkürten Wahrnehmung der eigenen Produktverantwortung kennt § 25 Absatz 1 KrW-/AbfG. Es handelt sich um die so betitelte »freiwillige
Rücknahme«. Hierzu trifft die Bundesregierung »Zielfestlegungen«, die von den Produktverantwortlichen innerhalb einer angemessenen Frist zu erfüllen sind. Es handelt
sich um staatliche Vorgaben an die Privatwirtschaft, die deren Verhalten beeinflussen
und steuern sollen. Der freiwilligen Rücknahme werden bestimmte Ziele vorgegeben.391
Diese sind weder verbindlich, noch können vollstreckungsrechtliche oder sanktionierende Maßnahmen auf den Tatbestand ihrer Nichterfüllung gestützt werden. 392 Vielmehr handelt es sich um »formalisierte Drohgebärden«393 des Staates gegenüber der
Privatwirtschaft. Für den Fall der Nichterfüllung der Ziele müssen die an der freiwilligen Rücknahme Beteiligten mit weitergehenden, hoheitlichen Maßnahmen rechnen.394
389 Dies hinsichtlich der Zielfestlegungen des § 25 KrW-/AbfG und der freiwilligen Selbstverpflichtung
ebenfalls feststellend Versteyl in: Kunig/Paetow/Versteyl, KrW-/AbfG, 2. Auflage, Rn 1, 6 zu § 25.
Für Zielfestlegungen ebenso Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage, Rn 135 zu § 20. Freiwillige Selbstverpflichtungen als Ausdruck des Kooperationsprinzips ansehend von Lersner, Die abfallrechtliche
Produktverantwortung, ZUR Sonderheft/2000, 105, 108, ebenso Schendel, Selbstverpflichtungen,
NVwZ 2001, 494.
390 Ebenso Alber, Produktverantwortung, S. 55.
391 Vergleiche Konzak in: BeckOK KrW-/AbfG, vor Rn 1 zu § 25.
392 Vergleiche hierzu beispielsweise von Lersner, Die abfallrechtliche Produktverantwortung, ZUR Sonderheft/2000, 105, 108, Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage, Rn 136 zu § 20 oder von Lersner in: von
Lersner/Wendenburg, Recht der Abfallbeseitigung – Kommentar, Band 1, Stand März 2008, Rn 11 zu
§ 25 mwN.
Versteyl in: Kunig/Paetow/Versteyl, KrW-/AbfG, 2. Auflage, Rn 9 zu § 25 weißt deshalb auch darauf
hin, Zielfestlegungen dürften nicht etwa mit den nach § 6 Absatz 3 iVm Anhang I der VerpackV
rechtlich verbindlichen Verwertungsquoten verwechselt werden.
393 Versteyl in: Kunig/Paetow/Versteyl, KrW-/AbfG, 2. Auflage, Rn 7 zu § 25. Ebenso Kloepfer,
Umweltrecht, 3. Auflage, Rn 136 zu § 20.
394 Ebenso von Lersner, Die abfallrechtliche Produktverantwortung, ZUR Sonderheft/ 2000, 105, 108,
der die Zielfestlegungen deshalb auch als »Knüppel im Sack« bezeichnet.
Diese Formulierung hat von Lersner wohl aus der Entscheidung des BVerfG zur Kasseler Verpakkungssteuer übernommen (vergleiche hierzu 2 BvR 2004/95 vom 7. Mai 1998).
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Das Treffen einer Zielfestlegung statt des Erlasses einer Verordnung bietet sich deshalb an, wenn die Bundesregierung an die Erfüllung ihrer Vorgaben durch die Privatwirtschaft glaubt. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn die Verwertung wirtschaftlich lukrativ ist,395 jedoch in noch keinem ausreichenden Maße betrieben wird.
Vorzugswürdig im Sinne eines milderen Mittels zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit sind Zielfestlegungen gegenüber Verordnungen jedoch nicht.396 Zu prüfen ist
diese Rechtsfrage an dem Tatbestandsmerkmal der Erforderlichkeit einer gesetzlichen Regelung. Zielfestlegungen können dabei nicht als gleich geeignetes, aber milderes Mittel angesehen werden, das die Erforderlichkeit einer gesetzlichen Regelung
ausschließt. Da ihnen die Durchsetzbarkeit fehlt, sind Verordnungen und Gesetze als
vollsteckbare Regelungen generell gegenüber Zielfestlegungen erforderlich.
Der Gesetzgeber scheint diese Auffassung stützen zu wollen. Er hat die Junktimklausel des § 14 Absatz 2 Satz 2 AbfG, wonach Rechtsverordnungen erlassen werden
konnten, sofern sie zur Vermeidung oder Verringerung von Abfallmengen erforderlich waren, »insbesondere soweit dies nicht durch Zielfestlegung … erreichbar« war,
nicht in das KrW-/AbfG übernommen.
Inhaltlich definieren Zielfestlegungen nach § 25 Absatz 1 KrW-/AbfG bestimmte, für
die freiwillige Rücknahme von Abfällen zu erreichende Ziele. Diese können in der
Erfassung einer vorgegebenen, auch prozentual ausgedrückten Menge von Abfällen
bestehen. Ebenso kann auch die vollständige Rücknahme eines Stoffes festgelegt
werden.397
Weiterhin sollen Anforderungen an die Verwertung, insbesondere hinsichtlich deren
Qualität bestimmbar sein. Dies wird damit begründet, dass Zielfestlegungen als ein
Instrument der Produktverantwortung die Ziele der Kreislaufwirtschaft iSd § 1 KrW-
/AbfG zu fördern bestimmt sind.398 Dem ist aus Gründen der Sinn- und Zweckhaftigkeit der Regelungen zuzustimmen. Es nützt den Zielen der Kreislaufwirtschaft,
namentlich der Abfallvermeidung und der damit verbundenen Ressourcenschonung
wenig, wenn die Produktverantwortlichen in eine Rücknahme gedrängt werden, ihnen
dann aber der »Ausweg« der Abfallbeseitigung oder niederwertigen Verwertung
offen steht. Sollen Zielfestlegungen demnach nicht nur ein Mittel der umweltpolitischen Gewissensberuhigung sein, erfordert es die Produktverantwortung mit dem hinter ihr stehenden Vorsorgeprinzip sogar, die hochwertige Verwertung eines Abfallstoffes sicherzustellen. Da Zielfestlegungen keine Rechtspflichten auslösen, kann
hiergegen insbesondere auch nicht der in Art. 20 Absatz 3 GG niedergelegte Grundsatz des Gesetzesvorbehalts sprechen.399
395 Versteyl in: Kunig/Paetow/Versteyl, KrW-/AbfG, 2. Auflage, Rn 5 zu § 25.
396 Ebenso Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage, Rn 136 zu § 20. Im Ergebnis ebenso Versteyl in: Kunig/
Paetow/Versteyl, KrW-/AbfG, 2. Auflage, Rn 8 zu § 25.
397 Ebenso Konzak in: BeckOK KrW-/AbfG, Rn 5 zu § 25.
398 Vergleiche Versteyl in: Kunig/Paetow/Versteyl, KrW-/AbfG, 2. Auflage, Rn 10 zu § 25.
399 Vergleiche zu der Grundrechtsrelevanz von Zielfestlegungen auch Konzak in: BeckOK KrW-/AbfG,
Rn 3 zu § 25 mwN, der ausführt: Ob Zielfestlegungen nach § 25 Absatz 1 KrW-/AbfG insbesondere
im Hinblick auf die unternehmerische Betätigungsfreiheit (Art 12 Absatz 1 GG) der Hersteller und
Vertreiber grundrechtsbeeinträchtigend wirken können und somit den verfassungsrechtlichen Schranken, insbesondere dem Übermaßverbot unterliegen, ist umstritten, dürfte indes wegen ihrer fehlenden,
unmittelbaren Bindungswirkung zu verneinen sein. In die gleiche Richtung argumentierend von Lersner, Die abfallrechtliche Produktverantwortung, ZUR Sonderheft/2000, 105, 109.
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Der Bundesregierung kommt bei dem Treffen von Zielfestlegungen also ein weiter
Gestaltungsspielraum zu.400 Diesen hat sie bislang zweimal genutzt. Im Jahre 1989
traf die Bundesregierung Zielfestlegungen zur Vermeidung, Verringerung oder Verwertung von Abfällen aus Verpackungen für Getränke,401 1990 »Zielfestlegungen zur
Vermeidung, Verringerung oder Verwertung von Abfällen von Verkaufsverpackungen aus Kunststoff für Nahrungs- und Genußmittel sowie Konsumgüter«. 402
Die freiwillige Rücknahme wird zumeist mit einer dritten Art der gewillkürten Wahr nehmung der Produktverantwortung, nämlich der freiwilligen Selbstverpflichtungen
der Wirtschaft im Zusammenhang stehen.403 Freiwillige Selbstverpflichtungen sind
rechtlich unverbindliche Zusagen von Unternehmen oder Unternehmensverbänden
gegenüber dem Staat, die das Erreichen bestimmter, umweltpolitischer Ziele durch
konkrete, umweltverbessernde Maßnahmen zum Gegenstand haben.404 Sie sind
zudem auch zwischen Wirtschaftsbranchen untereinander oder innerhalb derselben
möglich.405 In Wahrnehmung ihrer Produktverantwortung können Produzenten so
beispielsweise Vereinbarungen über Produktgestaltung und Rücknahme treffen. Der
Staat kann auf deren Abschluss hinwirken, indem er anderenfalls den Erlass einer
Rechtsverordnung in Aussicht stellt.406
Freiwillige, mit dem abfallrechtlichen Prinzip der Produktverantwortung im Zusammenhang stehende Selbstverpflichtungen wurden bisher beispielsweise für Altautos,
graphische Altpapiere und Bauabfälle abgegeben.407
III. Produktverantwortung im europäischen Kontext
1. Allgemeines
Auf Ebene der Europäischen Gemeinschaft spielt das Thema Produktverantwortung
eine doppelte Rolle.
400 Ebenso Versteyl in: Kunig/Paetow/Versteyl, KrW-/AbfG, 2. Auflage, Rn 10 zu § 25.
401 BAnz 1989, 2237, 2733.
402 BAnz 1990, 513.
Darüber hinaus kam es lediglich zu Entwürfen bzw. Erwägungen von Zielfestlegungen, die jedoch
nicht umgesetzt wurden. Nachweise bei Versteyl in: Kunig/Paetow/Versteyl, KrW-/AbfG, 2. Auflage,
Rn 9 zu § 25 und von Lersner in: von Lersner/Wendenburg, Recht der Abfallbeseitigung – Kommentar, Band 1, Stand März 2008, Rn 22 zu § 25.
403 Konzak in: BeckOK KrW-/AbfG, Rn 1 zu § 22. Ebenfalls auf solche Verbindungen hinweisend
Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage, Rn 136 zu § 20.
404 Schendel, Selbstverpflichtungen, NVwZ 2001, 494.
405 Vergleiche von Lersner, Die abfallrechtliche Produktverantwortung, ZUR Sonderheft/ 2000, 105,
109. Er lässt eine Rücknahme im Sinne von § 25 Absatz 1 KrW-/AbfG, die er als Spezialfall freiwilliger Selbstverpflichtungen ansieht, im Übrigen nicht als freiwillig gelten, wenn sie auf Grund einer
»öffentlich-rechtlichen Verpflichtung«, also einer Absprache zwischen Wirtschaft und Staat, zu
Stande gekommen ist.
Vergleiche auch Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage, Rn 507 f zu § 5, der Vereinbarungen zwischen
Privaten lieber als »Umweltabsprachen« bezeichnet.
406 Thomsen, Produktverantwortung, S. 89.
407 Vergleiche Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage, Rn 513 zu § 5 mwN.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Wie kann abfallrechtliche Produktverantwortung dazu beitragen, das in Reifen verborgene Abfallvermeidungspotential auszuschöpfen? Welche Regelungen sind hierfür sinnvoll und rechtmäßig?
Das moderne Abfallrecht verfolgt das Ziel, den Stoffeinsatz bei der Produktherstellung durch ressourcensparendes Produktdesign möglichst zu minimieren und Stoffe durch lange Benutzungsdauer und mehrfache Verwendung über große Zeiträume im Umlauf zu halten. Die Entstehung von Abfall soll vermieden werden.
Bei Reifen lässt sich dies im Wesentlichen auf drei Arten erreichen. So kann zunächst die Kilometerlaufleistung erhöht werden, so dass ein Reifenwechsel und damit ein Altreifenanfall verzögert werden. Weiterhin können Reifen durch die Anwendung der Verfahren des Nachschneidens und der Runderneuerung „weitere Leben“ gegeben werden, so dass die aus dem Verkehr auszusondernde Zahl von Reifen erheblich verringert werden kann.
Das Buch zeigt auf, wie Reifenhersteller zur Anwendung dieser Verfahren und damit zur Wahrnehmung ihrer abfallrechtlichen Produktverantwortung gebracht werden können. Besonderes Gewicht wird dabei auf die Berücksichtigung von Vorsorgeprinzip und Lebenszykluskonzept gelegt.