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D. Das abfallrechtliche Prinzip der Produktverantwortung
Die vorliegende Arbeit möchte das abfallrechtliche Prinzip der Produktverantwortung
für Reifen konkretisieren.
Nahe liegend, allerdings wenig reflektierend wäre es nun, die in den §§ 23, 24 KrW-/
AbfG zur Operationalisierung der Produktverantwortung vorgesehenen Verordnungsermächtigungen daraufhin zu prüfen, ob ihre Anwendung auf Reifen im Einzelnen
rechtlich möglich ist. Das Ziel dieser Arbeit, das in Reifen liegende Abfallvermeidungspotential auszuschöpfen, könnte dabei a llzu leicht aus den Augen geraten. Denn
unerwiesen ist, ob das in den §§ 23, 24 KrW-/AbfG zur Verfügung gestellte Instrumentarium generell, also hinsichtlich aller Produkte geeignet ist, die Produktverantwortung bei der Förderung eines abfallvermeidenden und damit ressourcenschonenden Produktdesigns zu unterstützen. Ausgehend von konkreten Ideen, was Produktverantwortung bei Reifen leisten kann, ist eine Sondierung der durch den Gesetzgeber
zur Verfügung gestellten Arbeitsmittel jedoch möglich.
Undienlich wäre es weiterhin, bereits bestehende Regelungen zur Verantwortung für
andere Abfälle ohne Beachtung der Produktspezifika auf Reifen projizieren zu wollen. Jedes Produkt bietet seine eigenen Chancen und Möglichkeiten, Ressourcen einzusparen. Regelungen, die dieses Potential ausschöpfen wollen, müssen deshalb auf
jedes Produkt neu zugeschnitten werden.297
Es ist daher geboten, zunächst darzulegen, was eine Konkretisierung der Produktverantwortung für Reifen sinnvoller Weise bewirken soll (Kapitel E. der Arbeit). Hiernach ist zu diskutieren, welche Regelungsinstrumente die beabsichtigte Wirkung
erzielen können (Kapitel F. I.). Schließlich sind im Rahmen einer Rechtmäßigkeitskontrolle Umsetzungsmöglichkeiten für die erarbeiteten Instrumente zu finden (Kapi tel F. II.). Dabei kann womöglich auf die Ermächtigungen der §§ 23, 24 KrW-/AbfG
zurückgegriffen werden.
Ein entsprechendes Vorgehen erfordert vorab eine rechtspolitische Einordnung des
Steuerungskonzepts der Produktverantwortung. Denn ohne ihre Zielsetzung, Grundgedanken und prinzipielle Herkunft zu kennen, ist es unmöglich, sich Gedanken über
ihre sinnvolle Anwendung auf Reifen zu machen.
Es ist deshalb nötig, die Wirkungsweise der Produktverantwortung zu verstehen. Die
politisch beabsichtigten Folgen ihrer Anwendung müssen aufgezeigt werden. So wird
das rechtliche Leistungsvermögen der Produktverantwortung sichtbar und kann im
Weiteren für das Produkt Reifen fruchtbar gemacht werden. Weiterhin fördert die
Auseinandersetzung mit der Herkunft der Produktverantwortung, ihren Leitgedanken
297 Zu dem gleichen Ergebnis kommend Rummler, Abfallrechtliche Produktverantwortung, ZUR 2001,
308-314. Insbesondere auf den Seiten 313f zieht er diese Konklusion. Ebenso BT-Drs. 13/5985.
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also, einen scharfen Blick auf die anzustrebenden, umweltpolitischen Ziele, welche
den Rahmen ihrer Anwendung setzen.
Gleichzeitig muss der der Produktverantwortung bislang in Deutschland und in der
europäischen Gemeinschaft geschaffene, rechtliche Raum aufgezeigt werden. Dies
hilft, anzustrebende Regeln für das Produkt Reifen in das bestehende Regelungsumfeld einzubetten und Über- oder Fehlregulierungen zu verhindern.
Im vorliegenden Kapitel wird das abfallrechtliche Prinzip der Produktverantwortung
daher näher untersucht. In Teil I. wird zunächst das rechtspolitische Moment der Produktverantwortung besprochen. Leitbild ist dabei das in Deutschland vorherrschende
Verständnis dieses Prinzips. Im Anschluss erfolgt in den Teilen II. und III. eine Darstellung der Produktverantwortung im deutschen Abfallrecht und auf europäischer
Ebene.
I. Rechtspolitischer Hintergrund298
1. Allgemeine Zielsetzung, Grundgedanken und Wirkungsweise
Die Absicht der Produktverantwortung ist es, mit Hilfe von ordnungsrechtlichen und
influenzierenden Maßnahmen die Verantwortungssphäre der Hersteller, Verarbeiter
und Vertreiber über den Zeitpunkt der Veräußerung ihrer Produkte hinaus auszudehnen.299 Während die zivilrechtliche Variante der Produktverantwortung dabei die
Lebensphase eines Produktes im Blick hat, geht die abfallrechtliche noch darüber hinaus. Nicht nur während der Nutzung ihrer Produkte müssen die Verantwortlichen
deren Konformität mit bestehenden rechtlichen Anforderungen sicherstellen, auch
hinsichtlich der hieran anschließenden Zeit haben sie Vorsorge zu treffen und weitere
Pflichten zu übernehmen.
Der Grund für eine so weit reichende Inpflichtnahme fußt auf der Erkenntnis, dass
ohne Normierung einer Produktverantwortung der Markt den Herstellern, Verarbeitern und Vertreibern nur sehr geringe Impulse gibt, zum Gelingen moderner, auf Ressourcenschonung gerichteter Abfallpolitik beizutragen.300 Eine Motivation zu hierfür
notwendiger Abfallvermeidung und Förderung der Kreislaufwirtschaft durch Siche-
298 Vergleiche zum gesamten Teil I des vorliegenden Kapitels insbesondere folgende Aufsätze und
Abhandlungen: Beckmann, Produktverantwortung – Grundsätze und zulässige Reichweite –, UPR
1996, S. 41-50, Kaspar, Produktverantwortungsverordnungen, Kloepfer, Produktverantwortung für
Elektrogeräte, Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage, Rn 94ff zu § 20, Kloepfer/Kohls, Abfallrechtliche
Produktverantwortung, DVBl 2000, S. 1013-1025, Ossenbühl, Entsorgung von Elektrogeräten,
Rummler, Abfallrechtlichen Produktverantwortung, ZUR 2001, S. 308-314, Schmidt/Kahl, Umweltrecht, S. 194ff, Schrader, Produktverantwortung, NVwZ 1997, 943-949, Thomsen, Produktverantwortung und von Lersner, Die abfallrechtliche Produktverantwortung, ZUR Sonderheft/2000, 105-
110
299 Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage, Rn 95 zu § 20.
300 Mit ähnlicher Diktion, auch hinsichtlich dieses und der nächsten Absätze Kloepfer, Produktverantwortung für Elektrogeräte, S. 17f.
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rung der Verwertungsfreundlichkeit der Produkte besteht nicht. Ziel der Produktverantwortung ist es, eine solche Motivation zu bewirken.301
Dies erfolgt in dem Bewusstsein, dass eine ordnungsrechtliche und finanzielle Entkoppelung gerade des Herstellungsprozesses von der Abfallentsorgung dazu führt,
dass abfallreiche und schadstoffhaltige Produkte auf den Markt gelangen. Nach deren
Nutzungsende können die zuständigen, meist öffentlichen Entsorgungsträger die
Produkte dann nur mit Mühe oder gar nicht mehr zurück in den Ressourcenkreislauf
führen.
Hintergrund dieses abfallwirtschaftlichen Missstandes ist eine marktwirtschaftliche
Zwangsläufigkeit. Produkthersteller verfolgen regelmäßig das Ziel der Gewinnmaximierung. Können bei dem Streben nach Gewinn die Entsorgungskosten aber unberücksichtigt bleiben, wird das Produkt hauptsächlich nach Kundenwunsch und Herstellungskosten ausgerichtet. Ressourcenschonung spielt erst dann eine Rolle, wenn
ein übermäßiger Stoffeinsatz die Produktionskosten in die Höhe treibt und die
Gewinnmarge damit senkt. In der Folge kommt es zu Produktgestaltungen und Materialverwendungen, die bestenfalls am Rande der Umweltverträglichkeit und der Ressourcenschonung geschuldet sind. Ressourcen werden nur dort eingespart, wo sich
eine mengenmäßige Reduzierung auch bei den Stückkosten bemerkbar macht.
Abfallvermeidung und Kreislaufwirtschaft erliegen, wohingegen es zu einer »Einbahnstraße des Stoffstroms«302 kommt: Ressourcen werden der Natur in unnötigem
Maße abgewonnen und enden nach ihrem Gebrauch außerhalb des Ressourcenkreislaufs.
Die Produktverantwortung sucht deshalb die Internalisierung externer Umweltkosten,
das heißt das Widerspiegeln der Entsorgungskosten schon im Produktpreis. Hierdurch
sollen Anreize zu Abfallvermeidung und effizienter Verwertung geschaffen werden.303 Beides bewirkt eine Ressourcenschonung.
Produktverantwortung hat demnach auch zum Ziel, einen Zusammenhang zwischen
Abfallerzeugung und seiner Entsorgung herzustellen.304 Dem Abfallaufkommen soll
bereits an der Wurzel, also bei der Produktplanung, -gestaltung und -herstellung
entgegengewirkt werden.305 Vor allem die Hersteller sollen durch eine frühzeitige
Konfrontation mit den Entsorgungsproblemen zu einem ressourcenschonenden Pro-
301 Ebenso Konzak in: BeckOK KrW-/AbfG, Rn 1 zu § 22. Vergleiche zudem auch Rummler, Abfallrechtlichen Produktverantwortung, ZUR 2001, 308, 309.
Entsprechende Aussagen zur Zielrichtung der Produktverantwortung finden sich im Koalitionsvertrag
der großen Koalition des Jahres 2005. In diesem heißt es: »Wir werden die Abfallwirtschaft hin zu
einer nachhaltigen, Ressourcen schonenden Stoffwirtschaft weiter entwickeln. Ausgangspunkt hierfür
ist die im KrW-/AbfG geregelte Produktverantwortung.« (zitiert nach Petersen, Zehn Jahre KrW-/
AbfG, AbfallR 2006, 250f, der sich diesen Ausführungen anzuschließen scheint).
302 Schrader, Produktverantwortung, NVwZ 1997, 943, 945.
303 Vergleiche auch Konzak in: BeckOK KrW-/AbfG, Rn 1 zu § 22. Ebenso Rummler, Abfallrechtliche
Produktverantwortung, ZUR 2001, 308.
304 So auch Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage, Rn 95 zu § 20 (derselbe sieht diesen Zusammenhang für
Elektrogeräte als »bislang gestört« an vergleiche: Produktverantwortung für Elektrogeräte, S. 19).
305 Ausführlich hierzu Thomsen, Produktverantwortung, S. 23 ff und ebenso Kloepfer, Umweltrecht, 3.
Auflage, Rn 94 zu § 20.
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duktdesign angehalten werden und so zum Gelingen moderner Abfallpolitik beitragen.306
Die beiden genannten Ziele der Produktverantwortung lassen sich zunächst durch
direkt wirkende, ordnungsrechtliche Maßnahmen erreichen. Diese Maßnahmen sind
für jeden Zeitpunkt im Leben eines Produktes denkbar. So können Beschaffenheits vorgaben auf das Produktdesign einwirken, Verbote hinsichtlich bestimmter Verwendungen die Nutzungszeit betreffen und die Untersagung der Beseitigung die Entsorgungsphase eines Produktes regeln.
Weiterhin lassen sich Abfallerzeugung und Entsorgung unmittelbar dadurch koppeln,
dass den Herstellern, Verarbeitern und Vertreibern in Ausdehnung ihrer Verantwortung die Last der Entsorgung ihrer Produkte auferlegt wird.307 Unter dem Druck dieser ordnungsrechtlichen Maßnahme sollen sie mittelbar dazu gebracht werden, bei
Herstellung und Gebrauch ihrer Erzeugnisse möglichst wenige Abfälle entstehen zu
lassen. Zudem sollen sie Produkte gestalten und verkaufen, die sich problemlos wiederverwenden, reparieren und verwerten lassen.308 Schließlich sollen ordnungsgemäße Verwertung und Beseitigung durch die eindeutige Benennung der hierfür Verantwortlichen sichergestellt werden.309 Um diese Effekte zu erzeugen, werden regelmäßig Rücknahmepflichten statuiert. Hersteller, Verarbeiter oder Vertreiber müssen
ihre Produkte nach Ablauf der Nutzungszeit sammeln, in ihren Verantwortungsbereich übernehmen und die ordnungsgemäße Entsorgung sicherstellen. Dabei entsteht
ein nicht unerheblicher Kosten- und Verwaltungsaufwand.
Im Folgenden sollen die besondere Zielsetzung und Grundgedanken dieses intensiven, jedoch nur mittelbar und influenzierend wirkenden Regelungsinstrumentes aufgezeigt werden.
2. Besonderheiten der Rücknahmepflichten
Das vornehmliche Steuerungsziel von Rücknahmepflichten ist es, »durch die Übertragung des Entsorgungsdrucks auf Hersteller und Vertreiber schnellere und effektivere
Innovationen und Problemlösungen zu bewirken, als sie bei direkten Eingriffen in die
Produktgestaltung möglich wären«.310 Gerade die Hersteller sollen lernen, »vom
306 Vergleiche insofern auch Thomsen, Produktverantwortung, S. 289, die zutreffend ausführt: »In der
Produktverantwortung spiegelt sich der Aufgabenwandel des Abfallrechts vom Abfallbeseitigungsrecht zum Kreislaufwirtschaftsrecht, das der Abfallvermeidung höchste Priorität einräumt.«
Die Produktverantwortung als »Ausgangspunkt für die Ressourcenproduktivität« erachtend Helge
Wendenburg, Abteilungsleiter im BMU, anlässlich des Seminars »Aktuelles aus dem Abfallrecht« der
SAM (Sonderabfall-Management-Gesellschaft Rheinland-Pfalz mbH) am 11. Juli 2006 in Mainz.
307 In diesem Sinne auch Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage, Rn 95 zu § 20.
308 Kloepfer verwendet hierfür in Produktverantwortung für Elektrogeräte, S. 18 ein schönes, die Kreislaufwirtschaft beschreibendes Bild: »Er [der Hersteller] entscheidet … darüber, wie viele Drehungen
die verwendeten Rohstoffe in der »Stoffspirale« nehmen können«.
309 Die Produktverantwortung verwirklicht nämlich auch das so genannte Cradle-to-grave-Prinzip,
wonach der ordnungsgemäße Lauf von Abfällen vom Zeitpunkt ihres Einsammelns an bis hin zu einer
zugelassenen Entsorgung sichergestellt werden muss (vergleiche hierzu auch unter 3. b. Vorsorgeprinzip).
310 BT-Drs. 12/5672, S. 31.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Wie kann abfallrechtliche Produktverantwortung dazu beitragen, das in Reifen verborgene Abfallvermeidungspotential auszuschöpfen? Welche Regelungen sind hierfür sinnvoll und rechtmäßig?
Das moderne Abfallrecht verfolgt das Ziel, den Stoffeinsatz bei der Produktherstellung durch ressourcensparendes Produktdesign möglichst zu minimieren und Stoffe durch lange Benutzungsdauer und mehrfache Verwendung über große Zeiträume im Umlauf zu halten. Die Entstehung von Abfall soll vermieden werden.
Bei Reifen lässt sich dies im Wesentlichen auf drei Arten erreichen. So kann zunächst die Kilometerlaufleistung erhöht werden, so dass ein Reifenwechsel und damit ein Altreifenanfall verzögert werden. Weiterhin können Reifen durch die Anwendung der Verfahren des Nachschneidens und der Runderneuerung „weitere Leben“ gegeben werden, so dass die aus dem Verkehr auszusondernde Zahl von Reifen erheblich verringert werden kann.
Das Buch zeigt auf, wie Reifenhersteller zur Anwendung dieser Verfahren und damit zur Wahrnehmung ihrer abfallrechtlichen Produktverantwortung gebracht werden können. Besonderes Gewicht wird dabei auf die Berücksichtigung von Vorsorgeprinzip und Lebenszykluskonzept gelegt.