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8. Teil:
Ausblick: Das beschlossene Maßstäbe-Gesetz
Der Bundesgesetzgeber hat den zweistufigen Gesetzgebungsauftrag umgesetzt
indem er in zeitlicher Abfolge zuerst ein Maßstäbe-Gesetz1732 und dann ein Finanzausgleichsgesetz erlassen hat.
Insbesondere Stefan Korioth zeigt jedoch in einem Beitrag auf, dass die vom
Bundesverfassungsgericht aufgestellten Vorgaben nur äußerlich eingehalten wurden. Die Mahnung des Bundesverfassungsgerichts, zunächst nicht auf das finanzielle Ergebnis zu sehen, führte bereits im Vorfeld der Maßstabsgesetzgebung zu
einer Ergebnisfixierung, die es so deutlich in der Finanzausgleichsgeschichte der
Bundesrepublik noch nicht gegeben hatte.1733 Die Elemente der Finanzverteilung
wurden schon bei der Aufstellung der Maßstäbe nicht ergebnisoffen, sondern
ergebnisorientiert gebildet und verhandelt.1734
Nach der Ansicht von Korioth stellt das erlassene Maßstäbe-Gesetz auch
inhaltlich eine »Enttäuschung« dar. Es schwanke zwischen Wiederholungen der
unbestimmten Verfassungsbegriffe und ins Detail gehender Regelungen.1735 Insgesamt bleibe es hinter dem zurück, was auf der mittleren Ebene zwischen Verfassung und Finanzausgleichsgesetz an konkretisierenden Festlegungen möglich
gewesen wäre.1736 Auch andere Stimmen in der Literatur betrachten das geschaffene Maßstäbe-Gesetz kritisch. Die Hoffnung, dass der neue Finanzausgleich einfacher, rationaler und transparenter sein werde, habe sich nur zum Teil erfüllt.1737
Hat die Realität der Maßstäbe-Gesetzgebung also doch gezeigt, dass John
Rawls’ Vorstellung von idealer Gesetzgebung ein bloßes »Hirngespinst«, eine
weltfremde Utopie darstellt?
Die Untersuchungsergebnisse der vorliegenden Arbeit zeigen, dass dies nicht
der Fall ist. Rawls entwickelt in seinen Werken eine ideale Theorie, die Leitbild
für staatliche Reformen sein will. Der Schleier des Nichtwissens bildet den
Gedanken ab, dass für alle faire Entscheidungen nur dann getroffen werden kön-
1732 Maßstäbegesetz vom 09.09. 2001, BGBl. I, S. 2302.
1733 Vgl. Korioth, Maßstabsgesetzgebung im bundesstaatlichen Finanzausgleich, ZG 2002,
334, 341.
1734 Vgl. Korioth, Maßstabsgesetzgebung im bundesstaatlichen Finanzausgleich, ZG 2002,
334, 344.
1735 Vgl. Korioth, Maßstabsgesetzgebung im bundesstaatlichen Finanzausgleich, ZG 2002,
334, 347.
1736 Vgl. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes, 2004; 340, Korioth,
Maßstabsgesetzgebung im bundesstaatlichen Finanzausgleich, ZG 2002, 334, 347; Seybold, Der Finanzausgleich im Kontext des deutschen Föderalismus, 2005, 57; Siekmann,
in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 3. Auflage, 2003, vor Art. 104a GG, Rn. 42g.
1737 Vgl. Korioth, Maßstabsgesetzgebung im bundesstaatlichen Finanzausgleich, ZG 2002,
334, 352.
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nen, wenn die Abgeordneten unvoreingenommen agieren. Allein unter dieser
Voraussetzung lassen sich nach Ansicht von Rawls tief greifende Verteilungskonflikte dauerhaft beilegen. Wichtig ist es, sich vor Augen zu führen, dass Rawls mit
dem Schleier des Nichtwissens keine reale Verfahrensbedingung aufzeigt. Er
lässt vielmehr die Frage offen, wie diese Gedankenfigur in den tatsächlichen
Arbeitsalltag von Institutionen integriert werden könnte. Hierin liegen sowohl
Stärke als auch Schwäche der Rawlsschen Theorie. Stärke deshalb, weil Rawls
selbst betont, dass es sich bei dem »Schleier« um ein Bild handelt. Er verlangt an
keiner Stelle, dass reale Abgeordnete tatsächlich unter Nichtwissen entscheiden
sollen. Schwäche deshalb, weil sich die Suche nach einer realen Verfahrensregel,
die mit dem Grundgesetz vereinbar ist und gleichzeitig den Gedanken eines fiktiven Rollentauschs abbildet, schwierig gestaltet.
Im siebten Teil der vorliegenden Arbeit wurde deutlich, dass der Gedanke
eines unparteiischen Gesetzgebers in abgeschwächter Form bereits Eingang in
das Grundgesetz gefunden hat. Die entscheidende Frage ist: Sollte er in noch stärkerem Maße institutionalisiert werden?
Das Bundesverfassungsgericht hat versucht, eine distanzierte Gesetzgebung
mittels eines zweistufigen Gesetzgebungsauftrages zu etablieren. Indem die Entscheidung über die Verteilungsmaßstäbe zu einem frühen Zeitpunkt getroffen
werden sollte, wollte das Gericht ein »künstliches« Informationsdefizit konstruieren. Dieser Ansatz, Rawls’ Gedankenfigur in die Realität des Finanzausgleichs
zu überführen, kann nicht überzeugen. Das Gericht »klebt« zu sehr an der Vorstellung eines »Nichtwissens«, die sich jedoch nicht in die tatsächliche Arbeitsweise von Institutionen transferieren lässt.
Um den Länderfinanzausgleich im Rawlsschen Sinn zu reformieren, müsste
der Versuch unternommen werden, den hinter dem Schleier stehenden Gedanken
der Universalisierung, des gedanklichen Rollentausches abzubilden. Hier lohnt
sich ein Blick auf die verschiedenen Reformansätze der Gesetzgebungswissenschaft. Dieser Zweig des öffentlichen Rechts entstand vor allem aus der Überlegung, dass Gesetzgebung keine unangreifbare mythische Tätigkeit darstelle, sondern einer (Rationalitäts)Kontrolle unterliegen müsse. Der Schleier des Nichtwissens weist eine Nähe zu diesem Ansatz auf, weil er den Gedanken der Fairness
als einer Form der Verfahrensgerechtigkeit abbildet. Rawls vertraut innerhalb seines Vier-Stufen-Ganges nicht darauf, dass sich die verschiedenen Partikularinteressen in einem freien Spiel der Kräfte ausgleichen. Stattdessen fordert er eine
distanzierte, eine unparteiische Haltung der jeweiligen Entscheidungsträger. Mit
dem Schleier des Nichtwissens zeigt er eine radikale Form von Verallgemeinerungspflicht auf, die in abgeschwächter Form in den Forderungen der Gesetzgebungswissenschaft enthalten ist. So impliziert ein Begründungszwang für den
Gesetzgeber zugleich Verwertungsverbote. Er kann eine Entscheidung nicht
dadurch rechtfertigen, dass er einseitig bestimmte Interessen bevorzugt hat.
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References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.