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schwer eingeordnet werden. Er besitzt eine disziplinübergreifende und auch
inhaltliche Deutungsvielfalt.1622 Auch das »Gewissen« stellt einen Grenzbegriff
dar. Es enthalte immer einen Bezug auf außerrechtliche Normativität.1623 Die Vorstellung eines Schleiers des Nichtwissens könnte somit nicht allein abstrakte Verfahrensbedingung für die Gesetzgebung sein, sondern auch eine Bindung beziehungsweise Pflicht des Abgeordneten umschreiben.
2. Bezug zu Rawls`Gerechtigkeitstheorie als Institutionenlehre
Gegen diesen Untersuchungsansatz kann eingewandt werden, dass Rawls sich nur
mit der Arbeitsweise des Parlaments als eines kollektiven Akteurs1624 beschäftigt.
Im ersten Teil seines Grundwerkes Eine Theorie der Gerechtigkeit skizziert er die
Hauptgedanken seiner Theorie und zeigt deren Bezugspunkt auf: die Grundstruktur von Gesellschaften. Der zweite Teil seines Werkes weist den Titel »Institutionen« auf. Er will hier den Inhalt der Gerechtigkeitsgrundsätze genauer verdeutlichen und entwickelt eine gerechtigkeitsbezogene Sozialphilosophie.1625 Der
Vier-Stufen-Gang leitet diesen zweiten Teil von Eine Theorie der Gerechtigkeit
ein. Rawls’ Ausführungen scheinen sich allein auf die Arbeitsweise »des Gesetzgebers« und nicht auf die Person des Abgeordneten zu beziehen.
Es ist richtig, dass Rawls mit den ersten beiden Teilen von Eine Theorie der
Gerechtigkeit keine Gerechtigkeitsgrundsätze für einzelne Personen aufstellen
will. Er versteht Gerechtigkeit als Eigenschaft der Gesellschaft, ihrer Institutionen, Verfassung und Gesetze1626, spricht von ihr als »erster Tugend sozialer Institutionen«.1627 So kritisiert er am klassischen Utilitarismus, dass dieser mit dem
Gesamtnutzen ein Entscheidungsprinzip für den Einzelmenschen auf die Gesellschaft übertrage.1628 Eine solche Vermischung von individueller und institutioneller Perspektive lehnt er ab.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass Rawls sich im Rahmen seines Vier-Stufen-
Ganges nicht auch mit dem Status des Abgeordneten auseinander setzt. Wie die
Verfassungsrechtsdogmatik unterscheidet auch er zwischen der »privaten« Person als Individuum und Grundrechtsträger und dem »öffentlichen« Abgeordneten
als Aufgabenträger innerhalb einer staatlichen Institution. Rawls beschäftigt sich
in den ersten beiden Teilen seines Grundwerkes lediglich nicht mit der Gerechtigkeit als Eigenschaft von Personen.
1622 Vgl. Lang, Gesetzgebung in eigener Sache, Typoskript 2002, 353.
1623 Vgl. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, 2000, Vorwort.
1624 Vgl. zu dem Verständnis von Bundestag und Bundesrat als kollektive Akteure Leunig,
Föderale Verhandlungen, 2003, 38.
1625 Vgl. Höffe, Einführung in Rawls ` Theorie der Gerechtigkeit, in: Höffe, John Rawls: Eine
Theorie der Gerechtigkeit, 1998, 1, 9.
1626 Vgl. Höffe, Einführung in Rawls ` Theorie der Gerechtigkeit, in: Höffe, John Rawls: Eine
Theorie der Gerechtigkeit, 1998, 1, 8.
1627 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 1, 19.
1628 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 6, 47.
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Nur bei oberflächlicher Betrachtung scheinen allein die Art. 76 ff. GG einen
Bezug zu Rawls’ Vorstellung von einer idealen Gesetzgebung zu besitzen. Der
Schleier des Nichtwissens ist eine Bedingung, die die Entscheidungssituation
verändert, und zwar dadurch, dass sie auf die Kenntnisse der Abgeordneten und
damit deren Perspektive einwirkt.
Wie bereits im vierten Teil der Arbeit angesprochen, nehmen Rawls’ Ausführungen zur idealen Gesetzgebung nur einen geringen Raum in seiner Gerechtigkeitskonzeption ein. Es fehlen vertiefte Aussagen, wie sich der Schleier auf die
Stellung der Abgeordneten zueinander auswirkt. Er spricht lediglich von einem
vernunftgeleiteten und unvoreingenommenen Gesetzgeber und betont, dass in
einem idealen Gesetzgebungsverfahren die gesetzgeberische Diskussion keinen
Interessenkampf darstellt, sondern der Versuch ist, das beste Vorgehen gemäß den
Gerechtigkeitsgrundsätzen zu finden.1629 Rawls beschreibt die Wirkung des
Schleiers auf der Ebene des Urzustandes wesentlich ausführlicher. Auf dieser
Ebene soll der Schleier des Nichtwissens verhindern, dass die Menschen in
ungleiche Situationen gelangen.1630 Er garantiert, dass die fiktiven Bürger als
freie und gleiche Personen agieren.1631 Übertragen auf die Situation der Gesetzgebung, befinden sich die Abgeordneten unter dem Schleier des Nichtwissens
demnach in einer symmetrischen Situation. Sie nehmen ihre Aufgabe als freie
und gleiche Vertreter war.
Diese Überlegung jedoch führt direkt zu Art. 38 I 2 GG. Ein vollständiger Vergleich von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie und der Gesetzgebung unter dem Grundgesetz kann den Abgeordnetenstatus nicht ausblenden. Gesetzgebungsverfahren
und Abgeordnetenstellung stehen nicht in einem Entweder – Oder – Verhältnis,
sondern ergänzen einander. Wenn der Schleier des Nichtwissens das Wissen »des
Gesetzgebers« verdeckt, so beschränkt er die den Abgeordneten zur Verfügung
stehenden Informationen.
Aus diesem Grund ist zu untersuchen, welches Abgeordnetenverständnis dem
Grundgesetz zugrunde liegt. Beschreibt Art. 38 I 2 GG ein Mandat des Abgeordneten, das mit Rawls’ Vorstellung von einer idealen Gesetzgebung kompatibel
ist? Unterliegt der Abgeordnete möglicherweise Bindungen, die Ähnlichkeiten
mit einem schwachen Schleier des Nichtwissens aufweisen?
Die folgenden Ausführungen haben lediglich den Charakter eines Ausblicks.
Ziel der vorliegenden Arbeit war es, sich der Figur des Schleiers über ein aktuelles Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu nähern. Insoweit stellten die Vorgaben im Maßstäbe-Urteil den Rahmen für die Untersuchung auf. Das Gericht hat
jedoch im Maßstäbe-Urteil Art. 38 I 2 GG nicht als Prüfungsmaßstab für den
Finanzausgleich herangezogen.
1629 Vgl. Rawls. TG, Abschnitt 31, 228; Abschnitt 54, 394.
1630 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 159.
1631 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 141.
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3. Amtspflichten des Abgeordneten – eine Begriffsklärung
Rawls’ Vorstellung von einer idealen Gesetzgebung könnte bereits dadurch Eingang in das Grundgesetz gefunden haben, dass der Abgeordnete nach dem Wortlaut von Art. 48 II GG ein Amt ausübt. Aus dem Amtsbegriff könnten bestimmte
Dienstpflichten der Abgeordneten abgeleitet werden. Möglicherweise werden
Anforderungen an die Parlamentarier gestellt, die dem Schleier des Nichtwissens
ähneln beziehungsweise ihn abbilden.
a) Amtsethos und Schleier des Nichtwissens
In der Literatur werden als Dienstpflichten Neutralität, Unparteilichkeit und Distanz genannt.1632 Im Amt verkörpere sich ein Gemeinwohlethos. Die Teilhabe an
staatlicher Herrschaft fordere einen Verzicht auf Eigenmacht, Eigennutz, Selbstverwirklichung und Subjektivität.1633 Das Amt verkörpere einen Pflichtenkreis,
der sich der subjektiven Disposition seines Inhabers entziehe.1634 Es bestehe unabhängig von der Person seines Inhabers; dieser nehme die ihm übertragenen Zuständigkeiten nicht in seinem persönlichen Interesse oder dem seiner Auftraggeber, sondern im Dienst am Gemeinwohl wahr.1635 Im Handbuch des Staatsrechts
stellt Isensee eine ausdrückliche Verbindung zwischen Schleier des Nichtwissens
und Amtsbegriff her:
»Es ist ein allgemeines Gerechtigkeitspostulat, dass der Interpret des Rechts von
seinen subjektiven, besonderen Interessen abstrahiert, über diese den fiktiven
»Schleier des Nichtwissens« wirft, allein auf die Sache des Regelungsproblems
blickt und dem Kriterium der Verallgemeinerungsfähigkeit, dem kategorischen Imperativ, gemäß entscheidet. In den Pflichten des Amtes sind diese Erfordernisse enthalten. Sie sind genuin ethische Gebote, die durch dienstrechtliche Normen unterfangen werden.«1636
Der Begriff des Amtes wird hier ethisch aufgeladen1637, er stellt dann eine Schnittstelle zwischen Ethik und Verfassungsrecht dar. Der Schleier des Nichtwissens
scheint auf diesem Weg Eingang in das Verfassungsrecht zu finden.
1632 Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR Band III, 1988, § 57 Rn. 61.
1633 Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR Band III, 1988, § 57 Rn. 10.
1634 Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR Band III, 1988, § 57 Rn. 30.
1635 Vgl. Klein, in: Isensee/Kirchhof, HStR Band II, 1998, § 41 Rn. 1.
1636 Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR Band III, 1988, § 57 Rn. 66.
1637 Kritisch hierzu Lang, Gesetzgebung in eigener Sache, Typoskript 2002, 414. Eine Kontrolle der Entscheidung der Abgeordneten am Maßstab des Amtsethos setze einen inhaltlichen Begriff des Gemeinwohls voraus, der allenfalls am Ziel, nicht aber am Beginn eines
Repräsentationsprozesses fixiert werden könne.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.