398
einen umfassenderen Spielraum. Der Richter hingegen ist bei seiner Entscheidung durch die einfach-gesetzlichen Regelungen in weit größerem Maße gebunden.
Das unterschiedliche Maß an eigenschöpferischer »Freiheit« kann und darf
durch eine Reform der Gesetzgebung nicht völlig aufgehoben werden. Jedoch
höhlt ein legislativer Begründungszwang diesen gewollten Abstand von Rechtssetzung und Rechtsanwendung nicht aus. Im Gegensatz zu einer umfassenden
Gesetzgebungsordnung stellt er das mildere Mittel dar.
V. Schleier des Nichtwissens und Abgeordnetenstellung
Im Maßstäbe-Urteil zieht das Gericht eine Verbindungslinie zwischen Gesetzesbegriff, Gesetzgebungsverfahren und Schleier des Nichtwissens. Dies war Anlass, ausführlich zu untersuchen, ob Rawls’ Vorstellung von einer idealen Gesetzgebung mit den Wertungen des Grundgesetzes vereinbar ist. Im vorherigen Abschnitt wurde diskutiert, ob die Figur eines Schleiers des Nichtwissens in einer
abgeschwächten Form bereits im Grundgesetz angelegt ist und eventuell in einem
noch stärkeren Maß Eingang finden könnte. Im Mittelpunkt aller Überlegungen
standen bislang die Art. 76 ff. GG und damit der Grundgesetzteil über »Die Gesetzgebung des Bundes«.
An anderer Stelle wurde bereits angesprochen, dass in der öffentlich-rechtlichen Dogmatik immer noch zu pauschal von »dem Gesetzgeber« gesprochen
wird. Diese Formulierung transportiert eine Vorstellung, die nicht mehr der verfassungsrechtlichen Wirklichkeit entspricht. Es gibt unter dem Grundgesetz nicht
eine Person des Gesetzgebers, die einen einheitlichen Willen besitzt. Vielmehr
setzt sich das Parlament aus einer Vielzahl von Individuen zusammen.
Die Forderung nach »guter Gesetzgebung« richtet sich zwar oftmals abstrakt
an die Legislative, betrifft jedoch mittelbar auch die Person des Abgeordneten.
Nicht allein die Art. 76 ff. GG, sondern auch Art. 38 I 2 GG könnte eine »mögliche
Einbruchstelle« für den Schleier des Nichtwissens in das Grundgesetz sein. Auch
bei der Frage, welchen Bindungen der einzelne Abgeordnete unterliegt, besteht
möglicherweise eine Schnittstelle zwischen normativer Ethik und Verfassungsrecht.
1. Theorie der Spielräume: Abgeordneter als Teil des Parlaments
Wechselt man von den Art. 76 ff. GG zu Art. 38 I 2 GG, so verändert sich lediglich
die Perspektive, mit der man auf die Staatsfunktion Gesetzgebung blickt. Art. 38
GG wird als Grundnorm der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet.1616 Auch wenn es offensichtlich erscheint: Das Par-
1616 Vgl. Schneider, in: Alternativkommentar zum GG, 1984, Art. 38 Rn. 1.
399
lament als staatliches Organ setzt sich aus den gewählten Abgeordneten des Volkes zusammen.1617 Als Teil des Organs Bundestag hat der einzelne Abgeordnete
aus eigenem Recht Anteil an dessen Aufgaben.1618 Die Rechtsetzung ist wiederum
die zentrale Aufgabe des Parlaments. Die Abgeordneten sind die Individuen, die
die »personelle Substanz« der Staatsfunktion Gesetzgebung bilden. An sie richten sich deshalb mittelbar die Forderungen der Gesetzgebungswissenschaft.
Dies bedeutet jedoch auch, dass das Verständnis von Art. 38 I 2 GG ebenfalls
von der Theorie der Spielräume geprägt ist. Der Gesetzgeber setzt sich unter dem
Grundgesetz aus den Abgeordneten als Organwaltern zusammen.1619 Wird der
Legislative abstrakt ein Spielraum zugesprochen, so gilt dies auf der untergeordneten, personellen Ebene auch für die Abgeordneten. Im Zusammenhang mit Art.
38 I GG wird in der Literatur vornehmlich nicht von einem Spielraum der Parlamentarier, sondern von deren freiem Mandat1620 gesprochen. Zwischen der Vorstellung des freien Mandats und der abstrakten Idee des gesetzgeberischen
Ermessens besteht eine enge Verwandtschaft. Der Abgeordnete ist als Teil des
Bundestages Recht-Schaffender. Er agiert nicht zweckerfüllend, sondern zwecksetzend. Deshalb determiniert die Rechtsordnung sein Handeln grundsätzlich
nicht, er unterliegt (über Art. 79 III GG hinaus) keinen Bindungen.1621 Der
Gedanke der Gestaltungsfreiheit der Legislative prägt auch die Stellung des
Abgeordneten.
Zu überlegen ist in einem nächsten Schritt, inwieweit der grundsätzliche Spielraum des Abgeordneten dennoch eingeschränkt werden kann. Räumt das Grundgesetz dem Parlamentarier mit Art. 38 I 2 GG wirklich ein Mandat ohne jegliche
Bindungen ein oder ergeben sich Anhaltspunkte, dass auch der Abgeordnetenstatus Einschränkungen unterliegt?
Diese Überlegung ähnelt sehr der Vorgehensweise im vierten Teil der vorliegenden Arbeit. Die aktuelle Gesetzgebungswissenschaft sucht nach Wegen besserer Gesetzgebung und setzt sich hierbei mit dem Umfang gesetzgeberischen
Ermessens auseinander. Anhand der Figur des inneren Gesetzgebungsverfahrens
wurde deutlich, dass Verfassungspflichten und Tugendgebote eng beieinander
liegen. Es wird kontrovers diskutiert, inwieweit ethische Gebote in Form eines
Gesetzgebungsverfahrensgesetzes verrechtlicht werden sollten. Auch im Bereich
von Art. 38 I 2 GG könnten ethische Gebote des Abgeordneten und Verfassungspflichten aufeinander treffen. So kann der zentrale Begriff der Repräsentation nur
1617 Vgl. Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 2,
2000, Art. 38 Rn. 1.
1618 Vgl. Klein, in: Isensee/Kirchhof, HStR Band II, 1998, § 41 Rn. 1.
1619 Es ist in der Literatur streitig, ob der Abgeordnete als Organ des Parlaments eingeordnet
werden kann, ablehnend Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz
Kommentar, Band 2, 2000, Art. 38 Rn. 73.
1620 Achterberg und Schulte merken hierzu kritisch an, dass die Bezeichnung »freies Mandat«
ungenau sei. Freiheit sei kein Zustand, sondern ein Ziel, das nur annähernd erreichbar sei.
Vgl. Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 2,
2000, Art. 38 Rn. 33.
1621 Vgl. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, 2000, 74.
400
schwer eingeordnet werden. Er besitzt eine disziplinübergreifende und auch
inhaltliche Deutungsvielfalt.1622 Auch das »Gewissen« stellt einen Grenzbegriff
dar. Es enthalte immer einen Bezug auf außerrechtliche Normativität.1623 Die Vorstellung eines Schleiers des Nichtwissens könnte somit nicht allein abstrakte Verfahrensbedingung für die Gesetzgebung sein, sondern auch eine Bindung beziehungsweise Pflicht des Abgeordneten umschreiben.
2. Bezug zu Rawls`Gerechtigkeitstheorie als Institutionenlehre
Gegen diesen Untersuchungsansatz kann eingewandt werden, dass Rawls sich nur
mit der Arbeitsweise des Parlaments als eines kollektiven Akteurs1624 beschäftigt.
Im ersten Teil seines Grundwerkes Eine Theorie der Gerechtigkeit skizziert er die
Hauptgedanken seiner Theorie und zeigt deren Bezugspunkt auf: die Grundstruktur von Gesellschaften. Der zweite Teil seines Werkes weist den Titel »Institutionen« auf. Er will hier den Inhalt der Gerechtigkeitsgrundsätze genauer verdeutlichen und entwickelt eine gerechtigkeitsbezogene Sozialphilosophie.1625 Der
Vier-Stufen-Gang leitet diesen zweiten Teil von Eine Theorie der Gerechtigkeit
ein. Rawls’ Ausführungen scheinen sich allein auf die Arbeitsweise »des Gesetzgebers« und nicht auf die Person des Abgeordneten zu beziehen.
Es ist richtig, dass Rawls mit den ersten beiden Teilen von Eine Theorie der
Gerechtigkeit keine Gerechtigkeitsgrundsätze für einzelne Personen aufstellen
will. Er versteht Gerechtigkeit als Eigenschaft der Gesellschaft, ihrer Institutionen, Verfassung und Gesetze1626, spricht von ihr als »erster Tugend sozialer Institutionen«.1627 So kritisiert er am klassischen Utilitarismus, dass dieser mit dem
Gesamtnutzen ein Entscheidungsprinzip für den Einzelmenschen auf die Gesellschaft übertrage.1628 Eine solche Vermischung von individueller und institutioneller Perspektive lehnt er ab.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass Rawls sich im Rahmen seines Vier-Stufen-
Ganges nicht auch mit dem Status des Abgeordneten auseinander setzt. Wie die
Verfassungsrechtsdogmatik unterscheidet auch er zwischen der »privaten« Person als Individuum und Grundrechtsträger und dem »öffentlichen« Abgeordneten
als Aufgabenträger innerhalb einer staatlichen Institution. Rawls beschäftigt sich
in den ersten beiden Teilen seines Grundwerkes lediglich nicht mit der Gerechtigkeit als Eigenschaft von Personen.
1622 Vgl. Lang, Gesetzgebung in eigener Sache, Typoskript 2002, 353.
1623 Vgl. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, 2000, Vorwort.
1624 Vgl. zu dem Verständnis von Bundestag und Bundesrat als kollektive Akteure Leunig,
Föderale Verhandlungen, 2003, 38.
1625 Vgl. Höffe, Einführung in Rawls ` Theorie der Gerechtigkeit, in: Höffe, John Rawls: Eine
Theorie der Gerechtigkeit, 1998, 1, 9.
1626 Vgl. Höffe, Einführung in Rawls ` Theorie der Gerechtigkeit, in: Höffe, John Rawls: Eine
Theorie der Gerechtigkeit, 1998, 1, 8.
1627 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 1, 19.
1628 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 6, 47.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.