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4. Gesetzgebung als Interessenverfahren
Dennoch bleibt die Frage bestehen, ob Gesetzgebung unter dem Grundgesetz ein
solches primär gemeinwohlorientiertes Verfahren darstellt. Denn die Vorstellung
eines Schleiers des Nichtwissens zielt darauf ab, dass nur gesetzgeberische Entscheidungen getroffen werden, die unter Berücksichtigung aller gesellschaftlichen Positionen akzeptabel erscheinen. Als Verfahrensbedingung sichert der
»Schleier« die Gemeinwohlorientierung des Parlaments ab. Verstehen wir jedoch
das Gesetz nicht eher als eine voluntative Entscheidung? Ist Gesetzgebung nicht
vor allem ein Interessenabgleich zwischen organisierten gesellschaftlichen Gruppen und damit ein Interessenverfahren?1527 Wie bereits im vierten Teil der vorliegenden Arbeit ausgeführt, hat Herbert von Arnim diese Problematik dadurch abgebildet, dass er zwei grundlegende Verfahrensarten unterscheidet.
Macht- und interessendeterminierte Verfahren sind für ihn dadurch gekennzeichnet, dass die Intentionen der Verfahrensbeteiligten nicht auf das Gemeinwohl, sondern darauf gerichtet sind, ihre eigenen Interessen möglichst weitgehend zu befriedigen. Er ordnet diesem Verfahrenstyp vor allem die wettbewerbliche Marktwirtschaft und Bargaining-Prozesse wie Tarifverhandlungen zu.
Diese Verfahrensart besitzt insoweit einen Gemeinwohltrend, als die verschiedenen Interessen sich meist angemessen auspendeln. Die Partikularinteressen treffen aufeinander und besitzen dadurch letztlich eine ordnungsstiftende Kraft.1528
Wert- und erkenntnisorientierte Verfahren hingegen zeichnen sich dadurch aus,
dass die Verfahrensbeteiligten ausdrücklich eine gemeinwohloriente Entscheidung anstreben. Es kommt ihnen auf die sach- und wertorientierte Richtigkeit,
nicht auf die möglichst weitgehende Berücksichtigung eigennütziger Interessen
an. Das Verfahren erfordert Unparteilichkeit und innere Unbefangenheit, es ist in
idealtypischer Weise das des Richters.1529
Von Arnim führt dann aus, dass das wert- und erkenntnisorientierte Verfahren
einen Vorrang vor dem machtorientierten Entscheidungsverfahren besitze. Es
bestehe ein Primat des Rechts vor der Politik.1530 Der Willensbildungsprozess in
der pluralistischen Demokratie bestehe nicht nur aus machtbestimmten Komponenten, sondern aus einem Konglomerat von macht- und wertbestimmten Verfahrensweisen.1531
Zu überlegen ist, ob diese Einschätzung der Systematik des Grundgesetzes entspricht. Bekanntlich legt die Verfassung mit den Art. 76 ff. GG einen äußeren
Rahmen fest. Das Gesetz ist nicht allein eine politische Entscheidung, es kommt
in einem rechtlichen Verfahren zustande. Streitig ist jedoch, wie groß der wert-
1527 Vgl. zum Begriff des Interessenverfahrens Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, 1997,
249; Blum, Wege zu besserer Gesetzgebung – sachverständige Beratung, Begründung, Folgenabschätzung und Wirkungskontrolle, Beilage zu NJW Heft 27/2004, 45, 46.
1528 Vgl. v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, 51.
1529 Vgl. v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, 51.
1530 Vgl. v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, 52.
1531 Vgl. v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, 192.
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und erkenntnisorientierte »Faktor« im Gesetzgebungsverfahren sein muss. Fordert die Verfassung einen distanzierten Abgeordneten oder einen Parlamentarier,
der engagiert für die Interessen bestimmter Wähler eintritt?
Das Grundgesetz selbst trifft in den Art. 76 ff. GG keine eindeutige Aussage
über den Umgang mit Partikularinteressen. Es ergibt sich weder zwingend, dass
der Gedanke eines unparteiischen Gesetzgebers dem Grundgesetz zuwiderläuft,
noch dass er ihm entspricht.
5. Exkurs: Demokratie als Konkurrenzkampf
Die Vorstellung eines Schleiers des Nichtwissens könnte jedoch aus demokratietheoretischen Überlegungen mit dem Grundgesetz unvereinbar sein. Im Rahmen
der vergleichenden Demokratieforschung wird zwischen Konkurrenz- und Konkordanzdemokratie unterschieden. Als Konkurrenzdemokratie wird vor allem das
anglo-amerikanische Staatssystem angesehen. Es bestehe hier ein Wettbewerb
politischer Eliten, die um Gefolgschaft werben.1532 Konflikte würden im Wesentlichen mit Hilfe des Mehrheitsprinzips gelöst.1533
Der Gedanke eines unparteiischen Gesetzgebers scheint mit einer solchen
demokratietheoretischen Sichtweise zu kollidieren. Der Schleier des Nichtwissens integriert Rawls’ Grundgedanken einer Gerechtigkeit als Fairness in das
Gesetzgebungsverfahren und will eine Chancengleichheit aller Gesellschaftsmitglieder beziehungsweise ihrer Lebenspläne absichern. Wie schon in anderen
Abschnitten der Untersuchung angesprochen, lehnt Rawls einen Vergleich zwischen idealem Markt und idealer Gesetzgebung ab. Er spricht sich dagegen aus,
ökonomische Theorien auf die Arbeitsweise staatlicher Institutionen zu übertragen.1534
Innerhalb der Politikwissenschaft wird die Bundesrepublik nicht als eine reine
Konkurrenzdemokratie eingeordnet. Sie stelle eine Mischform dar.1535 Auch aus
Sicht der vergleichenden Demokratieforschung ist folglich die Vorstellung eines
unparteiischen Gesetzgebers nicht per se mit dem Grundgesetz (als Basis für das
politische System) unvereinbar.
An dieser Stelle kann noch einmal eine Verbindungslinie zum Maßstäbe –
Urteil gezogen werden. In den Urteilskritiken drückt sich größtenteils ein
Befremden darüber aus, dass das Bundesverfassungsgericht gerade im Bereich
1532 Vgl. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen 2000, 485 mit Verweis auf Röhrich (Hrsg.),
»Demokratische« Elitenherrschaft, 1975; Sartori, Demokratietheorie, 1992; Zolo, Die
demokratische Fürstenherrschaft, 1997.
1533 Vgl. vertiefend hierzu Herder-Dorneich, Konkurrenz- und Verhandlungstheorie, 2. Auflage, 1980. Im Überblick Schmidt, Demokratietheorien, 3. Auflage, 2000, 328 mit weiteren
Nachweisen.
1534 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 54, 397 insbesondere Fussnote 18, innerhalb derer er explizit
auf ökonomische Theorien zur Demokratie verweist und die Vorstellung einer Konkurrenzdemokratie ablehnt.
1535 Vgl. Schmidt, Demokratietheorien, 3. Auflage, 2000, 329 mit weiteren Nachweisen.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.