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erscheint auf den ersten Blick angesichts des Pluralismus innerhalb moderner
Gesellschaften nicht mehr zeitgemäß. Andererseits zeigen Wohlfahrtsökonomie
und ökonomische Analyse des Rechts, dass utilitaristisches Gedankengut durchaus eine Aktualität besitzt.
Klassischer Utilitarismus und Rawlssche Gerechtigkeitstheorie unterscheiden
sich inhaltlich darin, dass sie den individuellen Wünschen und Lebensplänen der
Menschen einen unterschiedlichen Stellenwert einräumen. Beiden Konzeptionen
liegt das Bild eines rationalen im Sinne eines selbstinteressierten und damit egoistischen Menschen zugrunde. Rawls garantiert mit dem Schleier des Nichtwissens eine Gleichbehandlung der verschiedensten Interessen. Die Gerechtigkeitsgrundsätze stehen in einem lexikalischen Verhältnis; die Freiheit des einzelnen
Bürgers besitzt Vorrang. Der klassische Utilitarismus hingegen »opfert« den Individualismus zugunsten der Maximierung des Gesamtnutzens. Diese Schwäche
wurde auch von Befürwortern einer utilitaristischen Ethik erkannt. Neue utilitaristische Positionen zeigen verschiedene Lösungsvorschläge beziehungsweise
Abwandlungen auf, wodurch sie sich an die Rawlssche Position annähern.1509
Entscheidend sind die prozeduralen Unterschiede der Konzeptionen. Bentham
als Vertreter des klassischen Utilitarismus kann sich noch nicht vollständig von
der Vorstellung eines besonders befähigten Gesetzgebers lösen. Zwar spricht er
in seinen Werken durchgängig von einem Gesetzgeber oder einem Gesetzgebungsorgan, der Schritt von einer personalen hin zu einer institutionalisierten
Betrachtungsweise ist bei ihm jedoch noch nicht vollzogen. Ideale Parlamentarier
sind bei ihm nicht beliebige gewählte Mitglieder der Gesellschaft, sondern Personen, die als zusätzliche moralische Qualifikation eine uneigennützige Haltung
besitzen. Auch in Rawls’ Vier-Stufen-Gang zeichnen sich die idealen Abgeordneten durch ihre Unparteilichkeit, ihre Fähigkeit zu einer objektiven Betrachtungsweise aus. Anders als der klassische Utilitarismus integriert Rawls diese
moralische Anforderung in ein Gedankenexperiment, in eine Verfahrensbedingung. Er entwickelt damit den Ansatz von Bentham fort.
Insoweit stellt es keinen Widerspruch dar, wenn Vertreter der Gesetzgebungswissenschaft auf Bentham als Vorbild verweisen und die vorliegende Untersuchung sich mit dem Verhältnis von Rawls’ Schleier des Nichtwissens und dem
Gesetzgebungsverfahren beschäftigt. Diese Gedankenfigur weist insoweit eine
enge Verbindung zum klassischen Utilitarismus auf, als sie die moralische Anforderung Unparteilichkeit prozeduralisiert beziehungsweise institutionalisiert.
III. Schleier des Nichtwissens als integrierbares Ideal
Wie im dritten Teil der Bearbeitung aufgezeigt, stellt der Schleier des Nichtwissens das »Herzstück« der Rawlsschen Konzeption dar und prägt auch die Vorstel-
1509 Vgl. Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik, 3. Auflage, 2003, 250 ff. mit umfangreichen Nachweisen und einer Bibliographie zur zeitgenössischen Diskussion ab 1975.
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lung von idealer Gesetzgebung. Auffällig ist hierbei, dass es sich bei dem Schleier
des Nichtwissens um ein Negativgebot handelt. Rawls ist nicht Vertreter eines
Wissensoptimismus; ein Mehr an Wissen führt bei ihm nicht automatisch zu einer
besseren Entscheidung. Auch wenn an seiner Urzustandsbeschreibung kritisiert
wird, dass er den Parteien ein Zuviel an abstraktem Wissen unterstellt, so spricht
sich Rawls doch nicht für eine gesellschaftliche Elite als Gesetzgeber aus. Hier
müssen seine Ausführungen im Hinblick auf die Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze und zu Gesetzgebungsfragen differenziert betrachtet werden.
Seine fiktiven Abgeordneten zeichnen sich nicht durch ein besonderes Wissen,
sondern dadurch aus, dass sie sich in einem Informationsdefizit befinden. Bei
Rawls steht also nicht der Aspekt eines exklusiven Wissens des Gesetzgebers im
Vordergrund.
Auch das Grundgesetz fordert von dem Abgeordneten kein Sonderwissen.
Demokratische Herrschaft wird als eine Herrschaft von Personen verstanden, die
über keine spezifischen Sachkenntnisse verfügen müssen. Auch wenn es im Rahmen der Gesetzgebungswissenschaft Reformüberlegungen gibt, Sachverständige
und Experten vermehrt in das Gesetzgebungsverfahren einzubeziehen1510, so handelt es sich bei dem Bundestag grundsätzlich um ein Organ, das unmittelbar durch
Wahl und nicht durch Wissen legitimiert wird.1511
Rawls differenziert innerhalb seiner Gerechtigkeitstheorie zwischen personenbezogenem Wissen und Strukturwissen. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob
eine solche Trennung durchführbar ist. Entscheidend ist, dass der Schleier des
Nichtwissens allein auf die personenbezogenen Kenntnisse einwirkt. Wie bereits
an anderer Stelle angesprochen, widersprechen deshalb Rawls’ Überlegungen
nicht einem Gebot der Folgenbetrachtung. Ebenso bildet der Schleier auch nicht
den Prognosespielraum des Gesetzgebers ab1512. Sowohl der Gedanke der Folgenbetrachtung als auch die Figur eines Einschätzungsspielraums setzen an dem Wissen des Gesetzgebers an.
Rawls hingegen setzt sich im Rahmen seiner Gerechtigkeitstheorie intensiv
mit dem personenbezogenen Wissen auseinander. Der Schleier des Nichtwissens
blendet Partikularinteressen aus und stellt eine spezielle Form des Prinzips der
Verallgemeinerung dar. Im Hinblick auf die Legislative zeichnet Rawls das Ideal-
1510 Sehr weitgehend ist hier die Überlegung von Hartleb, der in diesem Zusammenhang den
Nutzen juristischer Expertensysteme erörtert, vgl. Hartleb, Juristische Expertensysteme
als Hilfsmittel der Gesetzgebung, ZG 1988, 141 ff.
1511 Vgl. Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre?, ZRP 1985, 291, 297, 298.
1512 Vgl. hierzu aus der Perspektive der Grundrechte umfassend, Raabe, Grundrechte und
Erkenntnis, 1998.
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bild eines unparteiischen1513 Abgeordneten. Der Schleier bewirkt, dass der fiktive
Abgeordnete nicht von bestimmten Interessen geleitet wird
Doch liegt dem Grundgesetz eine solche Vorstellung des parlamentarischen
Gesetzgebers zugrunde? Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich zuerst
mit dieser abstrakten Fragestellung. Sollte sich hieraus ergeben, dass der Schleier
entgegen den kritischen Stimmen zum Maßstäbe – Urteil keinen »Fremdkörper«
darstellt und mit den Aussagen des Grundgesetzes vereinbar ist, ist in einem
zweiten Schritt zu überlegen, in welcher Form diese Gedankenfigur noch stärker
verrechtlicht werden könnte.
Dem Ideal eines unparteiischen Gesetzgebers wird scharfe Kritik entgegengebracht. Wie die Urteilsanalyse aufgezeigt hat, wurde der Verweis des Bundesverfassungsgerichts auf John Rawls massiv kritisiert. Warum bereitet die Vorstellung
eines »neutralen« Parlaments derartige juristische Bauchschmerzen?
Bei der Diskussion dieser Frage müssen zwei Gesichtspunkte unterschieden
werden. Zum einen wird der Schleier des Nichtwissens als Idealvorstellung abgelehnt, weil er einen Zwangscharakter zu besitzen scheint. Er wirkt von außen auf
die fiktiven Abgeordneten ein und versetzt sie »ungefragt« in ein Informationsdefizit. Dies lässt sich als die formale Seite des Schleiers bezeichnen. Zum anderen richtet sich die Kritik gegen die Vorstellung der Unparteilichkeit selbst, was
als inhaltliche Seite des Schleiers angesehen werden kann.
1. Formale Seite des Schleiers – zwingende Bedingung
Innerhalb der öffentlich-rechtlichen Literatur wird der Schleier zum einen deshalb als ein Vorbild für Reformen des Gesetzgebungsverfahrens abgelehnt, weil
er die Abgeordneten zu einem idealen Verhalten zwinge. Diejenigen Stimmen, die
eine Distanz des Gesetzgebers fordern, scheinen gleichzeitig zu verlangen, dass
die Legislative eine solche von selbst einnehmen müsste. Das ideale Parlament
soll sich freiwillig und kraft eigener Erkenntnis von den verschiedenen Partikularinteressen distanzieren.1514
Dann stellt sich zugespitzt die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht auf
weniger Ablehnung gestoßen wäre, wenn es sich auf Kants kategorischen Imperativ oder die utilitaristische Vorstellung eines unparteiischen Beobachters bezogen hätte1515 Dies dürfte zu bejahen sein, denn diese Figuren scheinen besser mit
1513 Unparteilichkeit bezeichnet das Ideal eines übergeordneten Standpunktes des Urteilenden,
wenn er von den eigenen Interessen oder bestimmten Zwecken absieht beziehungsweise
die Interessen anderer Personen gleichermaßen berücksichtigt, über alle notwendigen
Kenntnisse verfügt, sich also eine allgemeine Betrachtungsweise zu Eigen macht. v. der
Lühe, Stichwort »Unparteilichkeit«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band
11, 2001, Sp. 252 ff.
1514 Vgl. in diese Richtung Wieland, Das Konzept eines Maßstäbegesetzes zum Finanzausgleich, DVBl. 2000, 1310, 1312.
1515 Vgl. Wieland, Das Konzept eines Maßstäbegesetzes zum Finanzausgleich, DVBl. 2000,
1310, 1312.
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unserer Vorstellung von Gesetzgebung vereinbar zu sein. Ähnlich umfassende
Kritik hätte hingegen wohl ein Verweis auf festzulegende zwingende Diskursregeln ausgelöst. Denn auch bei diesen hätte es sich um von außen auferlegte Verfahrensregeln gehandelt.
Bei den Stellungnahmen zum Maßstäbe-Urteil ergibt sich ein widersprüchliches Bild. Einerseits betonen Stimmen in der Literatur den politischen Charakter
der Entscheidungssituation. Die Abgeordneten werden in besonderem Maß von
Länderinteressen geleitet. Andererseits lehnen sie jedoch einen Rückgriff auf
Rawls ab, weil dieser nicht auf die freiwillige Distanz des Parlaments vertraut,
sondern durch eine Verfahrensbedingung absichern will. Dies zeigt: Obwohl sich
die Gesetzgebungswissenschaften zunehmend etablieren, ändert sich das Bild der
Legislative nur langsam. Wir vertrauen scheinbar immer noch auf ein besonderes
Selbstverständnis, eine Selbstlosigkeit des Parlaments. Andererseits sehen wir
auch, dass dieser »Mythos« des Gesetzgebers nicht besteht. So begegnen wir dem
Entscheidungsverhalten der Abgeordneten beispielsweise im Hinblick auf die
Diätenregelungen mit großem Misstrauen.
Dennoch scheint es schwer zu fallen, Gesetzgebung als einen kontrollfähigen
und kontrollbedürftigen Prozess anzusehen. Bei der weiteren Erörterung muss
deshalb unterschieden werden: Lässt sich die Aussage des Schleiers tatsächlich
nicht mit dem Grundgesetz selbst vereinbaren, oder entspricht seine Wirkung
lediglich nicht der auf konkurrierenden politischen Theorien basierenden Vorstellung von Gesetzgebung?
2. Inhaltliche Seite des Schleiers – Unparteilichkeit
Die Ablehnung der Literatur basiert auch auf der Wirkungsweise des Schleiers.
So führt Petra Helbig im Rahmen ihrer Kritik am Maßstäbe-Urteil aus, dass das
Grundgesetz mit der Interessenbefangenheit von Entscheidern anders als John
Rawls umgehe. Statt Partikularinteressen zu eliminieren, würden die bestehenden
Interessengegensätze herausgearbeitet. In einem Verfahren der Einigung werde
dann ausgehandelt, welche Rechte und Zugeständnisse der jeweils anderen Seite
gewährt werden sollen.1516
Noch vertiefter setzt sich Haverkate in seiner Monographie mit dem Schleier
des Nichtwissens auseinander. Es gibt seiner Ansicht nach zwei Möglichkeiten,
zu einer richtigen Verteilung zu gelangen: entweder die verschiedenen Interessen
künstlich zu eliminieren oder die Härte der Interessengegensätze zum Ausgangspunkt zu machen. Haverkate spricht sich gegen den ersten Ansatz aus. Er lehnt
es ab, eine neutrale Instanz konstruieren zu wollen.1517 Nicht der Rawlssche
Ansatz, sondern allein ein Modell der Einigung ermögliche Gerechtigkeit. Man
müsse sich selbst als wollendes, Interessen verfolgendes Subjekt begreifen, um
1516 Vgl. Helbig, Maßstäbe als Grundsätze, KJ 2000, 433, 440.
1517 Vgl. Haverkate, Verfassungslehre, 1992, 274.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.