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neuer Nation begeistert.1419 Benthams Werk besitzt folglich eine Komplexität und
kann deshalb durchaus immer noch einen Vorbildcharakter für kritische Überlegungen und Reformen im Bereich der Gesetzgebung besitzen.
2. Rawls’Vier–Stufen–Gang und Gesetzgebungslehre
Hingegen scheint es auf den ersten Blick fern liegend, einen Vergleich zwischen
Gesetzgebungswissenschaft und dem Werk von John Rawls vorzunehmen. Denn
seine Ausführungen zur Gesetzgebung machen nur einen geringen Teil seines
Hauptwerkes Eine Theorie der Gerechtigkeit aus. Anders als bei Bentham ist der
Bezug zu dem Bereich »Gesetzgebung« nicht offensichtlich.
Rawls’ Ausführungen zum Vier-Stufen-Gang sind jedoch ein lohnenswerter
Bezugspunkt.1420 Rawls hebt sich von anderen modernen Gerechtigkeitstheoretikern dadurch ab, dass er eine »unübliche« Sichtweise einnimmt. Wie bereits dargestellt, setzt er sich nicht vertieft mit der Anwendung von Regeln auf Einzelfälle
auseinander. Diese letzte Ebene des Vier-Stufen-Gangs untersucht er nicht näher.
Stattdessen stehen bei ihm die übergeordneten Ebenen (Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze, Verfassungsgebung und schon weniger die einfache Gesetzgebung)
im Vordergrund. Rawls betrachtet folglich die Grundstruktur der Gesellschaft aus
der Perspektive des Rechtssetzers und nicht des Rechtsanwenders.
Diese Sichtweise unterscheidet ihn von anderen politischen Philosophen, die
sich vor allem mit der Rechtsanwendung beschäftigen und den Richter als Entscheidungsträger in den Vordergrund stellen.1421 Er rückt dadurch näher an die
Gesetzgebungswissenschaft heran, die, wie im vierten Teil der vorliegenden
Untersuchung aufgezeigt, lange Zeit als »vernachlässigte Disziplin« galt.
Auch besitzt die Verfassung neben den Gerechtigkeitsgrundsätzen eine wichtige Stellung in der Rawlsschen Konzeption. Rawls scheint stark von dem Bild
der amerikanischen Verfassung beeinflusst. Er setzt bei der Grundstruktur der
Gesellschaften die Elemente des Konstitutionalismus voraus: zwei gesetzgebende Kammern, Gewaltenteilung mit gegenseitiger Kontrolle, ein Grundrechts-
1419 Vgl. Hart, The United States of America: Essays on Bentham, 1982, 53, 54; Bentham,
IPML, 309: »that newly- created nation, one of the most enlightened, if not the most enlightened, at this day on the globe«…..
1420 Vgl. auf einer abstrakteren Ebene Koller, der es als lohnend ansieht, Rawls’ Konzeption
mit dem Grundgesetz in Beziehung zu setzen. Koller möchte hierbei untersuchen, ob und
inwieweit Rawls’ Gerechtigkeitstheorie zur Legitimation und Kritik des Grundgesetzes
dienen kann. Koller, Moderne Vertragstheorie und Grundgesetz, in: Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie,
1996, 361, 382. Vgl. auch Dworkin, Rawls and the Law, Fordham Law Review, 2004, 1387
ff., der sich intensiv mit Rawls als einem Rechtsphilosophen beschäftigt.
1421 Vgl. beispielsweise Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Auflage, 1991, 17,
33.
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katalog, dessen Beachtung richterlich kontrolliert wird.1422 Seine Gerechtigkeitstheorie wird von den Grundstrukturen des amerikanischen Verfassungsrechts
beeinflusst, sie bilden die Basis für seine Überlegungen.1423 Das Grundgesetz seinerseits wurde unter amerikanischem Einfluss erlassen und verwirklicht diese
Grundelemente.1424 Es besitzt vor allem mit dem bindenden Grundrechtskatalog
(Art. 1 III GG) eine herausragende Bedeutung für alle untergeordneten Rechtsebenen. Mit seinem Vier-Stufen-Gang entwirft Rawls also ein Leitbild, dass mit
der deutschen Normenhierarchie in hohem Maß kompatibel ist.
Schließlich besteht auch unter rechtstheoretischen Gesichtspunkten eine Verbindungslinie zwischen Rawlsscher Konzeption und Gesetzgebungswissenschaft. Die Gesetzgebungstheorie wird von Stimmen in der Literatur als Teil einer
juristischen Entscheidungslehre eingeordnet.1425 Rawls wiederum nimmt in seine
1422 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 36, 255 hierzu vertiefend auch Parker, The Jurisprudential Uses
of John Rawls, in: Pennock/Chapman, Constitutionalism, 1979, 269 ff.
1423 Die Figur des Schleiers des Nichtwissens hat auch Eingang in die amerikanische Verfassungstheorie gefunden. So genannte »Veil Rules« werden als eine mögliche Strategie diskutiert, um unparteiische Entscheidungen herbeizuführen. Ihre Wirkung bestehe darin,
dass sie eine Unsicherheit darüber einführten, welche Person von einer möglichen Entscheidung am stärksten profitiert. »A veil rule suppresses self-interested decision-making
by introducing uncertainty about who the beneficiary of a decision will be«. Vgl. Vermeule,
Veil of Ignorance Rules in Constitutional Law, Yale Law Journal, 2001, 399, 405; Fitts,
Can ignorance be bliss? Michigan Law Review 88 (1990), 917 ff., Michelman, Rawls on
Constitutionalism and Constitutionel Law, in: Freeman, Cambridge Companion to Rawls,
2003, 394 ff.
Wie bereits im Rawls-Abschnitt der vorliegenden Arbeit angemerkt, hat sich ein Panel
eines kürzlich stattgefundenen Rawls-Symposiums (»Rawls and the Law«, 7. und 8.
November 2003 an der Fordham University School of Law) mit den verfassungstheoretischen Aspekten der Rawlsschen Theorie beschäftigt (Panel I: The Constitutional Essentials of Political Liberalism). Die Beiträge wurden in der Fordham Law Review 2004
veröffentlicht. Vgl. Fleming, Securing Deliberative Democracy, Fordham Law Review,
1435 ff.; Kelbey, Are There Limits to Constitutional Change – Rawls on Comprehensive
Doctrines, Unconstitutional Amendments, and the Basis of Equality, Fordham Law
Review 1487 ff., Michelman, Justice as Fairness, Legitimacy, and the question of Judicial
Review, Fordham Law Review 2004, 1407 ff., Sager, Why of Constitutional Essentials,
Fordham Law Review, 1421ff.; Scanlon, Adjusting Rights and Balancing Values, Fordham
Law Review, 1477 ff.
1424 Vgl. vertiefend Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 5. Auflage, 2005, § 21, 370 ff.;
Niclauß, Der Weg zum Grundgesetz, 1998, 110 ff.; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 5. Auflage, 2005, § 42, 420 ff.; Wilms, Ausländische Einwirkungen auf die Entstehung des Grundgesetzes, 1999.
1425 Vgl. Mastronardi, Juristisches Denken, 2. Auflage, 2003, Rn. 213.
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Gerechtigkeitstheorie ebenfalls Elemente der Entscheidungstheorie, vor allem
der Spieltheorie als einer Unterdisziplin auf.1426
3. Abgrenzung im Hinblick auf Gesetzgebung als Staatsfunktion
Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass sowohl Rawls’ Ausführungen
zu einer Gerechtigkeit als Fairness als auch Benthams Versuch der Rationalisierung der Gesetzgebung Bezugspunkte zur Gesetzgebungslehre aufweisen. Im
Folgenden wird hierauf aufbauend der Versuch unternommen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Rawls’ Konzeption und dem klassischen Utilitarismus zu erörtern.
Hierbei wird der Umfang der Untersuchung in zweifacher Weise beschränkt.
Zum einen liegt im Hinblick auf die verschiedenen utilitaristischen Positionen der
Schwerpunkt auf dem Werk von Jeremy Bentham. Dieser konkrete Bezugspunkt
kann jedoch deshalb nicht durchgängig eingehalten werden, weil Rawls selbst
eine Gegenposition zum klassischen Utilitarismus insgesamt entwickeln möchte.
Sowohl seine Ausführungen als auch deren Bewertung in der Literatur zielen
nicht allein auf Benthams Überlegungen ab.1427 Aus diesem Grund wird in den
folgenden Ausführungen oftmals von »dem Utilitarismus« gesprochen, wohl wissend, dass es sich um eine ethische Konzeption mit zahlreichen Varianten und
Ausprägungen handelt.
Zum anderen liegt der Schwerpunkt der Betrachtung auf dem Bereich der
Gesetzgebung. Vorrangig steht die Frage im Raum, welche der ethischen Konzeptionen sich besser als Vorbild für die aktuelle Gesetzgebungswissenschaft eignet. Jedoch kann ein Vergleich im Hinblick auf Gesetzgebungsfragen nicht gänzlich isoliert von dem übergeordneten Vergleich »Rawls versus Utilitarismus« vorgenommen werden. Die Frage, inwieweit sich die Ausführungen von Rawls und
Bentham zur Gesetzgebung ähneln, kann nicht völlig losgelöst von der Frage
beantwortet werden, inwieweit sich die Gerechtigkeitsgrundsätze und das Nutzenprinzip essentiell unterscheiden. Letzteres ausführlich zu diskutieren, würde
den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Dennoch lässt sich eine
Verbindungslinie zwischen dieser allgemeinen Diskussion und dem hier gewählten Ausschnitt »Gesetzgebung« nicht leugnen. Ohne bereits an dieser Stelle
1426 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 3, 33; kontrovers wird in der Sekundärliteratur diskutiert, ob
Rawls’ Konzeption tatsächlich als eine normative Entscheidungstheorie anzusehen ist.
Gegen eine solche Einordnung wird angeführt, dass Rawls mit seiner Konstruktion des
Urzustandes das individuelle Selbstinteresse gezielt außer Kraft setze. Vgl. Corrado,
Rawls, Games and Economic Theory, in: Blocker/Smith, John Rawls’ Theory of Social
Justice, 1980, 71 ff.; Höffe, Einführung in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, in: Höffe,
John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1998, 1, 18; Kersting, John Rawls, 2001, 68.
1427 In der Literatur gibt es Ansätze für einen Vergleich von Rawls und Bentham; dieser knüpft
jedoch vor allem an den zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz an. Vgl. Sen, Rawls versus
Bentham: An Axiomatic Examination of the Pure Distribution Problem, in: Daniels, Reading Rawls, 1975, 283 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.