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lismus in der Gesellschaft ausgeht. Seine Gerechtigkeitskonzeption soll erst bewirken, dass die Menschen zu einem übergreifenden Konsens gelangen.1400
Im Hinblick auf die Gesetzgebung könnte jedoch überlegt werden, ob nicht die
Gerechtigkeitsgrundsätze einen übergeordneten Maßstab darstellen. Fordert
Rawls nicht doch materiell allgemeine Gesetze, wenn er die Legislative im Rahmen des Vier – Stufen – Ganges an die Gerechtigkeitsgrundsätze bindet? Hierfür
könnte sprechen, dass Rawls keine rein prozedurale Gerechtigkeitstheorie entwirft. Seine Gerechtigkeitsgrundsätze beinhalten substantielle Werte. Wie an
anderer Stelle schon ausgeführt, beruht die Liste der wählbaren Grundsätze auf
Tradition, auf dem Gedankengut moderner westlicher Demokratien.
Rawls führt jedoch gleichzeitig aus, dass die Gerechtigkeitsgrundsätze
Unschärfen aufweisen. Insbesondere im Hinblick auf den zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz besteht die Schwierigkeit darin, dass auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik wohlbegründete Meinungsverschiedenheiten bestehen.
Die genaue Anwendung des Unterschiedsprinzips erfordert gewöhnlich mehr
Kenntnisse, als man sich erhoffen kann.1401 In diesem Bereich ist deshalb oftmals
die Vorstellung einer fast reinen Verfahrensgerechtigkeit entscheidend: Gesetze
und Programme sind gerecht, falls sie in den zulässigen Rahmen fallen und
gemäß einer gerechten Verfassung gesetzgeberisch in Kraft gesetzt worden
sind.1402
Dies bedeutet jedoch, dass die Gerechtigkeitsgrundsätze zwar auch einen
inhaltlichen Maßstab darstellen, aufgrund ihrer Unbestimmtheit dennoch nur
einen Rahmencharakter besitzen. Rawls spricht deshalb nicht von einem materiell allgemeinen Gesetz, das die Gerechtigkeitsgrundsätze verwirklichen soll.
Stattdessen steht mit dem Schleier des Nichtwissens eine prozedurale und
zugleich ethische Allgemeinheit im Vordergrund. Der Schleier garantiert auch auf
der Ebene der einfachen Gesetzgebung eine Entscheidungsfindung, die zu einem
Gesetz führt, das mit den Gerechtigkeitsgrundsätzen konform ist.
5. Zwischenergebnis
Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten: Es besteht ein Bezug der Rawlsschen
Konzeption zum Postulat der Allgemeinheit. Rawls beschäftigt sich jedoch vor
allem mit einer besonderen Schicht der Allgemeinheit1403, der Frage nach Verallgemeinerungsfähigkeit1404. Er setzt sich nicht intensiv mit dem Gesetzesbegriff
oder dessen Merkmalen auseinander.
1400 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 219 ff.
1401 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 227.
1402 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 229.
1403 Vgl Starck, Stichwort »Gesetz« in: Staatslexikon, Band 2, 1986, Sp. 995.
1404 Vgl. grundlegend Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, 1975; Wimmer, Universalisierung in der Ethik, 1980.
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Stattdessen entwirft er mit dem Urzustand eine fiktive Situation, in der die
Beteiligten zu einem Perspektivenwechsel gezwungen werden. Zentrale Figur ist
der Schleier des Nichtwissens. Er repräsentiert den Gedanken der Universalisierung und garantiert, dass Entscheidungen getroffen werden, denen alle Betroffenen beipflichten. In seiner Konzeption »prozeduralisiert« Rawls somit das Gesetzesmerkmal »allgemein«. Er will an Kants kategorischen Imperativ anknüpfen
und den Menschen ein »weiterentwickeltes« Gedankenexperiment zur Verfügung
stellen. Sie sollen mit Hilfe des Urzustandes überprüfen können, welche Gerechtigkeitsgrundsätze sie für allgemein anwendbar halten.
Auch im Rahmen des Vier-Stufen-Gangs behält der Schleier des Nichtwissens
diese Funktion bei: Mit seiner Hilfe kann der Leser sich ein Bild idealer Gesetzgebung vor Augen führen, innerhalb dessen unparteiische Abgeordnete agieren.
Auch wenn der fiktive Gesetzgeber an die Gerechtigkeitsgrundsätze gebunden
ist, so bedeutet dies nicht, dass Rawls eine materielle Allgemeinheit von Gesetzen
fordert. Die Gerechtigkeitsgrundsätze sollen vor allem zu einem institutionellen
Rahmen führen; Rawls will primär die Art und Weise der Entscheidungsfindung
beeinflussen
II. Gute Gesetzgebung – Gerechtigkeit als Fairness oder Utilitarismus
Wie im vierten Teil der Untersuchung ausgeführt, enthalten die Art. 76 ff. GG nur
äußere Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren. Es handelt sich um Normen, die verschiedenen Akteuren Kompetenzen zuweisen. Es hat sich jedoch zunehmend eine Gesetzgebungslehre etabliert, die sich mit der Qualität der Gesetzgebung kritisch auseinander setzt. Zu überlegen ist, ob diese Entwicklung mit der
Rawlsschen Theorie kompatibel ist. Bilden die Ansätze in der Gesetzgebungswissenschaft eine ethische Strömung ab, der auch Rawls’ Vier-Stufen-Gang zuzuordnen ist? Oder handelt es sich bei der Gesetzgebungslehre um einen Wissenschaftszweig, der besonders enge Verbindungen zur utilitaristischen Ethik aufweist?
Gegen ein solches Untersuchungsprogramm kann eingewandt werden, dass
jede Rechtsordnung in einem strukturierten Prozess eigene Wertungen entwickelt, die keiner bestimmten Morallehre zugeordnet werden können. Die so entstehende Rechtsethik lasse sich auf keine bestimmte philosophische oder politische Doktrin verpflichten.1405
Doch widerspricht diese Aussage wirklich dem soeben aufgezeigten Untersuchungsansatz? Selbst wenn die Wertungen des Rechts zu einer eigenen Rechtsethik führten, so entwickelt sich diese doch aus ethischen Strömungen. Ethische
Konzeptionen werden überformt, werden in das Recht integriert. Es soll an dieser
1405 Vgl. Mastronardi, Juristisches Denken, 2003, Rn. 281. Vertiefend zum Bereich der Rechtsethik, v. der Pfordten, Rechtsethik, 2001, 14 ff. Für diesen nimmt die Rechtsethik als wissenschaftliches Untersuchungsgebiet eine »Zwitterstellung« ein. Sie sei sowohl Teil der
Philosophie als auch Teil der Rechtswissenschaft.
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References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.