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interpretationsbedürftig sein und damit dem Richter oder Verwaltungsbeamten
einen Entscheidungsspielraum zusprechen.1387 Rawls ordnet den Grundsatz der
Gleichbehandlung demnach der formalen Gerechtigkeit1388 zu und damit der
regelmäßigen und unparteiischen Anwendung öffentlicher Regeln.1389
Insgesamt finden sich in seinem Grundwerk nur Andeutungen zur Frage des
Gesetzesbegriffs. Er beschäftigt sich nur mit der Strafgesetzgebung. Hier könnte
man aus seinen Ausführungen herauslesen, dass er sowohl eine formelle (Allgemeinheit dem Wortlaut nach) als auch eine materielle Allgemeinheit (Allgemeinheit dem Geiste nach) verlangt. Jedoch handelt es sich hierbei um eine »gewagte«
Interpretation seiner Aussagen. Wesentlich näher liegt es, dass er sich nur gegen
Einzelfallgesetze aussprechen will. Es fehlen Ausführungen, die den Begriff
einer »Allgemeinheit dem Geiste nach« weiter erläutern. Der Gedanke der
Gleichbehandlung wird von Rawls weniger an das Gesetz als an den Gesetzesanwender herangetragen. Er streift die Frage der Allgemeinheit von Gesetzen insgesamt nur am Rand und stellt allein eine Minimalforderung auf.
2. Bezugspunkt Gerechtigkeitsgrundsätze
Dieser Befund spiegelt sich auch in der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze wider.
Rawls stellt in der Urzustandssituation formale Bedingungen des Rechten auf. So
müssen die zur Wahl stehenden Gerechtigkeitsgrundsätze allgemein sein. Man
muss sie ohne das formulieren können, was man intuitiv als Eigennamen ansehen
würde und ohne verkappte bestimmte Beschreibungen. Die verwendeten Prädikate sollen stattdessen allgemeine Eigenschaften und Beziehungen ausdrücken.1390 Diese formale Bedingung drückt folglich eine Forderung nach formeller
Allgemeinheit aus.
Die formalen Bedingungen des Rechten gewährleisten eine formelle Allgemeinheit der zur Wahl stehenden Grundsätze. Jedoch haben diese Ausführungen
in Rawls’ Konzeption nur eine ergänzende Funktion. Sie werden von der zentralen Figur des Schleiers »an den Rand gedrängt« und nahezu überflüssig.1391 Denn
die Parteien im Urzustand haben keine Kenntnisse über sich und ihre Lage und
wüssten schon deshalb nicht, wie sie Gerechtigkeitsgrundsätze auf ihren eigenen
1387 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 38, 268.
1388 Vgl. zu dem Begriff der formalen Gerechtigkeit vertiefend, Perelman, Eine Studie über
die Gerechtigkeit, in: Perelman, Philosophie der Gerechtigkeit, 1967, 22 ff. Rawls selbst
verweist in einer Fussnote ausdrücklich auf Perelman (TG, Abschnitt 10, 79) Nach Perelman ist formale Gerechtigkeit ein begriffliches Element, das allen Formen der Gerechtigkeit gemeinsam ist. Er definiert formale Gerechtigkeit als ein Handlungsprinzip, nach welchem die Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Art und Weise behandelt werden
müssen. Im Gegensatz hierzu stehen konkrete Gerechtigkeitskonzeptionen, die immer persönlich gefärbte Weltanschauungselemente enthalten.
1389 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 10, 78; Abschnitt 38, 266.
1390 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 23, 154.
1391 Vgl. in diese Richtung Hare, in: Daniels, Reading Rawls, 1975, 81, 88.
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Vorteil zuschneiden sollten.1392 Das Nichtwissen der Parteien schließt es aus, dass
sie Grundsätze formulieren, die nicht generell-abstrakt sind, sich also auf einzelne Personen oder Sachverhalte beziehen. Wie im dritten Teil der vorliegenden
Arbeit aufgezeigt, garantiert insbesondere der »Schleier« die Fairness der Entscheidungssituation und ist damit Abbild einer ethischen Forderung. Er garantiert
möglicherweise eine substantielle Form von Allgemeinheit, neben der die bloße
formelle Allgemeinheit von Grundsätzen und Gesetzen »verblasst«.
3. Bezugspunkt Schleier des Nichtwissens
Zu untersuchen ist folglich das Verhältnis vom Schleier des Nichtwissens und
dem Merkmal der Allgemeinheit. Auf den ersten Blick erinnern die Ausführungen zum »Schleier« an die Beschreibung allgemeiner Gesetze. Denn das Nichtwissen der Parteien im Urzustand soll bewirken, dass diese allein unter allgemeinen Gesichtspunkten urteilen.1393 Sie entscheiden als freie und gleiche Vernunftwesen, die nur den menschlichen Lebensbedingungen unterworfen sind.1394 Anders formuliert, besitzen sie eine Distanz zu gesellschaftlichen Zufällen und persönlichen Zielen. Ähneln diese Aussagen nicht der Forderung nach allgemeinen
Gesetzen?
a) Formelle Allgemeinheit
Auf den ersten Blick erinnern die Ausführungen zum »Schleier« an die Beschreibung formell allgemeiner Gesetze. In der öffentlich-rechtlichen Dogmatik soll
mit Hilfe des generell- abstrakten Gesetzes eine Distanz zwischen Gesetzgeber
und Normadressat entstehen. Rawls will jedoch mit seiner Konzeption eine Form
der Gleichheit erreichen, die über das hinausgeht, was ein persönlich allgemeines
Gesetz garantiert. Ein derartiges Gesetz richtet sich an einen Adressatenkreis, der
nur nach Gattungsmerkmalen bestimmt ist. Eine solche Form von Allgemeinheit
gewährleistet jedoch allein eine schematische Gleichheit.1395 Anforderungen an
die äußere Form des Gesetzes sollen bewirken, dass die Abgeordneten keine Gesetze zu Lasten oder zu Gunsten einzelner Interessengruppen erlassen. Es wird allein die minimale Anforderung aufgestellt, dass der Gesetzgeber nicht einzelne
Personen über Gebühr belastet.
Rawls hingegen setzt unmittelbar an dem Entscheidungsträger, an dem Abgeordneten an. Dieser besitzt aufgrund des Schleiers des Nichtwissens eine Distanz
zu sich selbst. Nach den Ausführungen von Rawls reicht es nicht aus, dass der
1392 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 23, 154.
1393 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 159.
1394 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 40, 285.
1395 Vgl. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 224.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.