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II. Verändertes Gesetzgebungsverfahren
Dieser Befund leitet zum Gesetzgebungsverfahren über. Wie konkretisiert das
Gericht seine Vorstellung einer inhaltlichen Distanz? Durch welche zusätzlichen
Verfahrensanforderungen soll die Offenheit des Entscheidungsprozesses gewährleistet werden?
Das Bundesverfassungsgericht verlangt einen zeitlichen Stufenbau, eine zeitliche Abfolge bei der Gesetzgebung: Die Abgeordneten sollen das Maßstäbe-
Gesetz beschließen, bevor ihnen konkrete Zahlen zur Finanzsituation der einzelnen Länder zur Verfügung stehen. Der Begriff der Distanz wird von dem Gericht
dahin gehend konkretisiert, dass die Abgeordneten sich nicht von aktuellen
Finanzierungsinteressen, Besitzständen und Privilegien beeinflussen lassen sollen.1307 Fraglich ist, ob das Bundesverfassungsgericht mit diesen Ausführungen
die Idee eines inneren Gesetzgebungsverfahrens umsetzt. Inwieweit greift es auf
diesen umstrittenen Ansatz in der Gesetzgebungslehre zurück?
1. Prozeduraler Ansatz des Gerichts
Die Besonderheit des Maßstäbe-Urteils besteht darin, dass das Bundesverfassungsgericht kein eigenes materielles Konzept für den Finanzausgleich entwickelt, sondern nach einer »prozeduralen Lösung« sucht. Dieser Grundgedanke
entspricht der Entwicklung innerhalb der öffentlich-rechtlichen Dogmatik. Die
Literatur ordnet das Vorgehen des Gerichts als einen Versuch ein, den Finanzgesetzgeber in hohem Maß zu disziplinieren.1308 Exakt dieses Ziel verfolgen die Befürworter eines inneren Gesetzgebungsverfahrens. Der Gedanke der Transparenz
hat sowohl im Maßstäbe-Urteil als auch innerhalb der Gesetzgebungslehre eine
zentrale Bedeutung. So führt das Gericht aus, dass das Maßstäbe-Gesetz die
rechtsstaatliche Transparenz der Mittelverteilung sichern solle.1309
2. Eingehen des Gerichts auf die Theorie der Spielräume
Im vierten Teil der vorliegenden Untersuchung wurde erörtert, inwieweit die Idee
eines inneren Gesetzgebungsverfahrens mit der Theorie der Spielräume vereinbar
ist. Drei Gesichtspunkte wurden vertieft diskutiert: das Verhältnis von Gesetzgebungsermessen und Planungsermessen, die Gefahr eines Optimierungsgedankens
und eine mögliche Vormachtstellung des Bundesverfassungsgerichts. Im Maßstä-
1307 Vgl. BVerfGE 101, 158 (218).
1308 Vgl. Helbig, Maßstäbe als Grundsätze, KJ 2000, 433, 435; Korioth, Kommentar zum Beitrag von Joachim Wieland, in: Schmidt-Trenz/Fonger (Hrsg.), Bürgerföderalismus, 2000,
57, 57.
1309 Vgl. BVerfGE 101, 158 (219).
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be – Urteil greift das Gericht innerhalb seiner Argumentation nicht auf das Bauplanungsrecht zurück. Auch findet der Gedanke der Optimalität keinen Eingang
in das Finanzverfassungsrecht. Der besondere Entscheidungszeitpunkt soll eine
institutionelle Verfassungsorientierung gewährleisten. Innerhalb der Urteilsanalyse wurde ein mögliches Verständnis dieses Begriffes aufgezeigt. Die Abgeordneten des Bundestages sollen sich von den Partikularinteressen der Länder lösen,
sich nicht allein von Einzelfallüberlegungen leiten lassen. Das Gericht stellt folglich nur eine sehr »vorsichtige« Zielvorstellung auf und verlangt keinesfalls eine
optimale Methode der Entscheidungsfindung.
Im Hinblick auf eine Vormachtstellung des Bundesverfassungsgerichts findet
sich im Maßstäbe-Urteil die Aussage, dass der Gesetzgeber die Erstzuständigkeit
bei der Verfassungsinterpretation besitze.1310 Diese Formulierung scheint auf den
ersten Blick die Befürchtungen innerhalb der Literatur zu bestätigen. Indem dem
Gesetzgeber nur ein ERST- Recht eingeräumt wird, könnte das Gericht nunmehr
die Einhaltung der neuen Verfahrensregelungen und die inhaltliche Seite des
Finanzausgleichs kontrollieren. Die besonderen Eigenschaften des Maßstäbe-
Gesetzes scheinen den Kontroll-Umfang zu verstärken. Das Gericht »verzichtet«
jedoch in dem Urteil auf eine inhaltliche Kontrolle. Es sieht davon ab, einzelne
Regelungen abschließend zu würdigen.1311 Das Maßstäbe-Urteil scheint folglich
den Befürwortern zusätzlicher Verfahrensanforderungen Recht zu geben. Ein
Kontroll-Plus auf der prozeduralen Seite gleiche sich durch ein Kontroll-Minus
auf der materiell-rechtlichen Seite aus.1312 Kritisch ist hier jedoch anzumerken,
dass die inhaltliche Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts in der Literatur so nicht erwartet worden war1313 und dementsprechend auch in kommenden
Entscheidungen zum Finanzausgleich nicht weiter bestehen muss.1314 Es
1310 Vgl. BVerfGE 101, 158 (219).
1311 Vgl. BVerfGE 101, 158 (238).
1312 Vgl. Hill, Rechtsdogmatische Probleme der Gesetzgebung, Jura 1986, 286, 292; kritisch
Meßerschmidt Gesetzgebungsermessen, 2000, 860.
Auch diese Argumentation weist Parallelen zu der Diskussion der gerichtlichen Kontrolle
im Verwaltungsrecht auf. Der Verfahrensgedanke wird im Bereich des Verwaltungsrechts
als ein kompensatorisches Mittel, als Aushilfe aus einer defizitären Lage angesehen (Vgl.
Schmidt-Aßmann, Der Verfahrensgedanke in der Dogmatik des öffentlichen Rechts, in:
Lerche/Schmitt-Glaeser/Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984, 1, 7). Der Verfahrensgedanke kann grundsätzlich als ein Ordnungsmodell verstanden werden. Er sichert einen angemessenen Interessenausgleich und kann
kollisionslösend eingesetzt werden (Vgl. Schmidt-Aßmann, Der Verfahrensgedanke in der
Dogmatik des öffentlichen Rechts, in: Lerche/Schmitt-Glaeser/Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984, 1, 11 ff.).
1313 Vgl. Ossenbühl, Das Maßstäbegesetz – Dritter Weg oder Holzweg des Finanzausgleichs
FS Klaus Vogel 2002, 227, 227.
1314 Vgl. Berlit/Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung: Fallstricke in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Länderfinanzausgleich,
KJ 1999, 607, 622.
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erscheint offen, ob und in welchem Umfang das Gericht seine Kontrollmöglichkeiten in Zukunft nutzen wird.1315
3. Mittelbarer Bezug auf den Gleichheitsgrundsatz
Sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch die Befürworter eines inneren
Gesetzgebungsverfahrens werden in ihren Überlegungen von Art. 3 I GG beeinflusst. Indem das Bundesverfassungsgericht einen distanzierten Gesetzgeber fordert, will es garantieren, dass der Gesetzgebungsprozess nicht von den kurzfristigen individuellen Finanzierungsinteressen der Länder dominiert wird. Bereits in
der Einleitung der vorliegenden Arbeit wurde angesprochen, dass das Gericht mit
dem Gedanken eines Nichtwissens ein Anknüpfungsverbot im Hinblick auf partikulare Interessen entwickelt.
Auch wenn das Gericht seine Argumentation nicht unmittelbar auf die Gleichheitsdogmatik stützt, so greift es doch einen Ansatz aus seinen früheren Urteilen
auf, der in engem Zusammenhang zum Gleichheitsgebot steht. In den vorherigen
Finanzverfassungsurteilen hatten es die Richter zwar abgelehnt, Art. 107 II GG
zusätzliche Verfahrensanforderungen zu entnehmen. Der Bundesgesetzgeber sei
jedoch bei der Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge an ein föderales Gleichbehandlungsgebot gebunden.1316 Diesen Gleichheitsaspekt wertet das Gericht noch
mehr auf und entwickelt ein verändertes Gesetzgebungsverfahren.1317
Für ein inneres Gesetzgebungsverfahren als Verfassungspflicht wird ebenfalls
der Gedanke des Grundrechtsschutzes herangezogen. Die Grundrechtsrelevanz
von gesetzlichen Entscheidungsmaterien müsse sich auch auf das Gesetzgebungsverfahren auswirken.1318 Grundrechtseingriffe dürften nur dann zulässig
sein, wenn das Gesetzgebungsverfahren so rational wie möglich ablaufe.1319 Der
Bezug zur Gleichheit nach Art. 3 I GG ist allerdings auch hier nicht unmittelbar.
Es wird weniger auf den Gehalt dieses Grundrechts, sondern vielmehr darauf
abgestellt, dass grundrechtsrelevantes staatliches Handeln einem erhöhten Rechtfertigungsanspruch unterliegt.
Insoweit besteht eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen den Ausführungen des
Gerichts im Maßstäbe-Urteil und der Diskussion um ein inneres Gesetzgebungsverfahren. Art. 3 I GG wird nicht ausdrücklich herangezogen, um zusätzliche
Pflichten des Gesetzgebers zu rechtfertigen. Jedoch wird der allgemeine Gedanke
1315 Vgl. Hanebeck, Zurückhaltung und Maßstäbegesetz, KJ 2000, 262, 271.
1316 Vgl. 5. Teil, III, 1., e).
1317 Vgl. ebenso Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes, 2004, 336, der
noch weiter gehend davon spricht, dass das föderative Gleichbehandlungsgebot den
»eigentlichen Grund« dafür bilde, dass der Finanzausgleichsgesetzgeber Maßstäbe formulieren müsse.
1318 Vgl. Hill, Rechtsdogmatische Probleme der Gesetzgebung, Jura 1986, 286, 291.
1319 Vgl. Bottke, Materielle und formelle Verfahrensgerechtigkeit, 1991, 73; Schwerdtfeger,
Optimale Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, FS Ipsen, 1970, 173, 177.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.