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f) Zwischenergebnis
In den früheren Finanzverfassungsurteilen beschränkt sich die Tendenz zur Verrechtlichung darauf, die Finanzverfassungsnormen und insbesondere Art. 107 II
GG als »normales Verfassungsrecht« einzuordnen. Das Gericht spricht sich gegen
die Stimmen in der Literatur aus, die den Finanzausgleich als einen politischen
Kompromiss einstufen und einen kontrollfreien Spielraum des Gesetzgebers fordern. Dabei scheint jedoch in Rechtsprechung und neuerer Literatur eine ergebnisorientierte Betrachtungsweise vorzuherrschen. Allein der Inhalt des FAG soll
anhand der Finanzverfassung kontrolliert werden. Aus Art. 107 II GG ließen sich
keine umfassenden Verfahrensanforderungen ableiten.
Dennoch betont das Bundesverfassungsgericht die besondere Rolle des Bundesgesetzgebers. Er soll eine eigene Entscheidung über den angemessenen Ausgleich der Finanzkraft treffen und nicht lediglich die Verhandlungsergebnisse der
Länder übernehmen.
Hiermit trifft das Gericht jedoch eine Aussage über die Struktur der Entscheidung. Der Bund als nicht unmittelbar betroffene Instanz soll die Umverteilungen
vornehmen. Dies bedeutet, dass Art. 107 II GG ein Entscheidungsverfahren vorschreibt, das nicht allein von Länderinteressen dominiert ist. Zudem leitet das
Gericht zwar nicht aus der Finanzverfassung selbst, aber aus Art. 3 I GG und dem
Bundesstaatsprinzip eine Verfahrensanforderung ab: das föderale Gleichbehandlungsgebot.
2. Gesetzgebungslehre und Finanzausgleich
Bereits indem das Bundesverfassungsgericht ein solches Gebot entwickelt, bewegt es sich möglicherweise in Richtung eines inneren Gesetzgebungsverfahrens. Schon in seinen früheren Urteilen scheint sich eine Tendenz abzuzeichnen,
aus Staatsprinzipien und Grundrechten weitere Verfahrensregeln für den Bundesgesetzgeber abzuleiten. Es scheint auf den ersten Blick eine Nähe zwischen der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und den Ansätzen der Gesetzgebungswissenschaft zu bestehen.
Zu erwarten wäre deshalb, dass die Gesetzgebungslehre sich intensiv mit diesem Spezialfall legislativer Tätigkeit auseinandersetzt. Aus den Ansätzen des
Bundesverfassungsgerichts könnte eine verstärkte prozedurale Kontrolle abgeleitet werden. Der Gedanke einer stärker verfahrensorientierten Sichtweise
erscheint im Bereich der Finanzverfassung angesichts der inhaltlich nur schwer
zu vereinbarenden Partikularinteressen nahe liegend. Die Gesetzgebungswissenschaft setzt sich jedoch nur am Rand mit den Gesetzgebungsaufträgen innerhalb
der Finanzverfassung auseinander.
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a) Eigenständigkeit der Finanzverfassung
Dieser überraschende Befund könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Finanzverfassung im Rahmen des Grundgesetzes eine besondere Stellung einnimmt. Der X. Abschnitt ist der einzige Abschnitt im Grundgesetz, der einem bestimmten Gebiet der Staatstätigkeit gewidmet ist. Zu überlegen ist deshalb, welche Beziehung zwischen dieser Spezialmaterie und der Staatsfunktion Gesetzgebung besteht.
Die Finanzverfassung könnte parallel zu den drei Staatsgewalten Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung stehen. Sie könnte auf einer anderen
Ebene liegen und damit einen völlig eigenständigen Teil der Verfassung darstellen. Dies würde bedeuten, dass die Aussagen des Grundgesetzes zur Gesetzgebung (Art. 76 ff. GG) für diesen Bereich keine Bindungswirkung entfalten. Gegen
eine solche autonome Stellung dieses Abschnitts spricht jedoch der Gedanke der
Einheit der Verfassung. Aus diesem Grund wird in der Literatur nur von einer
schwachen Eigenständigkeit, von einer gewissen Sonderstellung der Finanzverfassung gesprochen. Sie stelle keine vierte Gewalt dar, sondern bleibe auf die
Funktionsformen der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung
angewiesen 1255
Diese systematische Einordnung der Finanzverfassung überzeugt. Sie stellt
keinen unabhängigen Teil der Verfassung dar, sondern ist in die Ordnung des
Grundgesetzes eingebunden. Allein die Tatsache, dass die Finanzverfassung sich
mit Verteilungsfragen beschäftigt, lässt diese Materie nicht zu einem »Fremdkörper« im Grundgesetz werden. Vielmehr können auch Grundrechtskonflikte als
Verteilungskonflikte begriffen werden. Der Unterschied besteht nur darin, dass
nicht Gelder, sondern Freiheiten und Verhaltensspielräume verteilt werden.1256
Versteht man den Begriff der Verteilung weit, so stellt er vielmehr den normalen
Aufgabenbereich des Gesetzgebers dar. Die Finanzverfassung steht also in einem
Sinnzusammenhang mit den übrigen Vorschriften der Verfassung. Enthält sie
Gesetzgebungsaufträge, so sind grundsätzlich die Art. 76 ff. GG maßgebend.
Hieraus ergibt sich, dass die Finanzverfassung grundsätzlich in das »Arbeitsfeld«
der Gesetzgebungswissenschaft fällt.
b) Überwiegend generalisierte Betrachtungsweise
Die Gesetzgebungswissenschaft setzt sich jedoch bislang nicht mit einzelnen Gesetzgebungsaufträgen im Grundgesetz, sondern vor allem mit den Grundregeln in
den Art. 76 ff. GG auseinander. Ihr Ziel ist es, die Qualität der Gesetzgebung insgesamt zu verbessern. Bisher wurden von ihr verschiedene Ansätze entwickelt,
1255 Vgl. Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, 86 ff.; Seybold, Der
Finanzausgleich im Kontext des deutschen Föderalismus, 2005, 190 beide mit weiteren
Nachweisen.
1256 Vgl. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, 156.
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die unabhängig von der Gesetzgebungsmaterie zu einer verbesserten Gesetzgebung führen sollen. Die Vertreter dieser Wissenschaftsdisziplin nehmen überwiegend eine generalisierende Betrachtungsweise ein.1257 Sie diskutieren Verfahrensanforderungen, die die Art. 76 ff. GG ergänzen und damit für jede Entscheidung Anwendung finden sollen. Der Vorteil einer solchen Sichtweise liegt darin,
dass auf diese Weise der Standard für die gesamte Gesetzgebung verbessert werden könnte. Die Gesetzgebungslehre entwirft ein »Pflichtenheft«, das in den
Grundgesetzabschnitt »Gesetzgebung« integriert werden soll.1258
Die Gefahr eines solchen übergreifenden Ansatzes liegt jedoch darin, dass er
die Unterschiede innerhalb der Gesetzgebungsmaterien vernachlässigt. Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet innerhalb seiner Rechtsprechung verschiedene Gesetzgebungssituationen und stellt jeweils spezifische prozedurale Anforderungen auf.1259 Möglicherweise steckt sich die Gesetzgebungslehre mit ihrer
Idee einer allgemein geltenden Gesetzgebungsordnung ein zu hohes, ein zu
abstraktes Ziel.1260 Ein vielversprechenderer Ansatz bestände eventuell darin, die
1257 Vgl. Karpen, Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebungslehre in der Bundesrepublik
Deutschland, ZG 1986, 5 ff.
1258 Vgl. Schuppert, Gute Gesetzgebung, ZG Sonderheft 2003, 4.
1259 Vgl. hierzu Blum, Gutachten, in: Verhandlungen des fünfundsechzigsten Deutschen Juristentages, Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Band I (Gutachten),
München 2004, I 6, 41 ff; Schuppert, Gute Gesetzgebung, ZG Sonderheft 2003, 19, der
davon spricht, das zumindest das Bundesverfassungsgericht zwischen einem allgemeinem
Gesetzgeber und einem besonderen Gesetzgeber unterscheidet. Der besondere Gesetzgeber kann sich dadurch auszeichnen, dass er sich besonderen Regelungsproblemen gegen-
übersieht oder sich in einer besonderen Entscheidungssituation befindet. Vgl. Auch Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht, AöR 120 (1995), 32, 92.
1260 Bei Schapp deutet sich diese Sichtweise ebenfalls an. Die Frage nach der Gerechtigkeit
der gesetzgeberischen Entscheidung kann für ihn nur sinnvoll im Hinblick auf den einzelnen konkreten Gesetzgeber gestellt werden. Die Diskussion dieses Themas leide häufig
darunter, das man auf beiden Seiten »tabula rasa« mache. Man stelle gewissermaßen die
Frage, wie die »Gattung Gesetzgeber« die »Gattung Gerechtigkeit« verwirklicht. Bei dieser Fragestellung sei man gezwungen, von allen Zusammenhängen abzusehen, die eine
sinnvolle Erörterung des Problems überhaupt erst ermöglichen. Vgl. Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, 1983, 47. In diese Richtung auch Karpen, der darauf
hinweist, dass die Grundsätze der Gesetzgebungslehre erst in den besonderen Teilen eine
notwendige Konkretisierung erfahren können. Er scheint zu fordern, dass sich aus der allgemeinen Gesetzgebungslehre spezielle Gesetzgebungslehren entwickeln sollten, und
führt als Beispiele eine Lehre von der Steuergesetzgebung, eine Lehre der Strafgesetzgebung an. Karpen, in: Karpen (Hrsg.), Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebung in der
Bundesrepublik Deutschland, 1998, 371, 374. Ähnlich Schäffer, Über Möglichkeit, Notwendigkeit und Aufgaben einer Theorie der Rechtsetzung, in: Schäffer (Hrsg.), Theorie
der Rechtsetzung, 1988, 11, 19, der davon spricht, dass spezielle Gesetzgebungslehren
denkbar seien, die auf Spezialdisziplinen aufbauen.
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verschiedenen Bereiche der Gesetzgebung genauer zu betrachten.1261 Dies bietet
sich insbesondere bei der Finanzverfassung an, die zwar kein unabhängiger Teil
der Verfassung ist, jedoch Besonderheiten aufweist.
c) Ansätze einer differenzierenden Betrachtung
Positiv ist es deshalb zu bewerten, wenn zumindest einzelne Stimmen in der Literatur genauer untersuchen, weshalb und in welchem Maß eine Methode der Entscheidungsfindung für verschiedene Gesetzgebungsbereiche zu fordern ist.1262 So
unterscheidet Hoffmann in einem Aufsatz:
Gesetze mit Bezug auf das Staat / Bürger-Verhältnis
Gesetze mit Bezug auf das Bund / Länder-Verhältnis
Gesetze mit Bezug auf die Staatsorganisation des Bundes1263
Hoffmann bejaht für die ersten beiden Gesetzesarten eine Pflicht des Gesetzgebers zum Nachdenken. Im Hinblick auf Gesetze mit Bezug zum Staat – Bürger –
Verhältnis ergebe sich die Pflicht einer rationalen Gesetzgebung aus dem Übermaßverbot.1264 Für Gesetzentwürfe, die sich mit dem Bund/Länder – Verhältnis
beschäftigen, ergebe sich Gleiches aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der
Bundestreue. Beide Gesetzesarten greifen in die Rechtssphäre von Rechtspersönlichkeiten ein und verteilen deren Freiheitsspielräume.1265
Hoffmanns Ausführungen sprechen folglich dafür, auch im Bereich des
Finanzausgleichs ein rationales Gesetzgebungsverfahren zu fordern. Er stellt entscheidend darauf ab, dass ein Eingriff in Rechtssphären vorliegt und setzt Bürger
und Länder gleich. 1266 Dieser Sichtweise entspricht es, dass das Bundesverfassungsgericht ein föderales Gleichbehandlungsgebot im Finanzausgleich entwickelt. Die Länder als juristische Personen des öffentlichen Rechts können sich
1261 Es könnten dann bereichsspezifisch verschiedene Verfahrensanforderungen entwickelt
werden. Der Nachteil eines solchen Ansatzes besteht darin, dass der Gesetzgeber bei verschiedenen Gesetzgebungstypen unterschiedliche Gesetzgebungsverfahren einhalten
müsste. Diesem Einwand ist jedoch entgegen zu halten, dass nicht jede Gesetzgebungsmaterie, sondern nur verschiedene Gesetzestypen getrennt betracht werden könnten.
Zudem könnten die Verfahrensanforderungen dennoch in den Grundgesetz Abschnitt
»Gesetzgebung« eingefügt werden. Es müssten dann verschiedene Gruppen unterschieden
werden: 1. Gesetze mit Bezug auf das Staat/Bürger-Verhältnis, 2. Gesetze mit Bezug auf
Bund/Länder-Verhältnis, 3. Gesetze mit Bezug auf die Staatsorganisation des Bundes. Vgl
zu dieser Differenzierung Hoffmann, Rationalität im Gesetzgebungsverfahren, ZG 1990,
97 ff.
1262 Vgl. ansatzweise Lücke, Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 2001, 1, 27.
1263 Vgl. Hoffmann, Rationalität im Gesetzgebungsverfahren, ZG 1990, 97, 109 ff.
1264 Vgl. Hoffmann, Rationalität im Gesetzgebungsverfahren, ZG 1990, 97, 109.
1265 Vgl. Hoffmann, Rationalität im Gesetzgebungsverfahren, ZG 1990, 97, 111.
1266 Vgl. Hoffmann, Rationalität im Gesetzgebungsverfahren, ZG 1990, 97, 112.
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nicht auf Art. 3 I GG berufen: ihre Rechtssphäre wird jedoch durch das föderale
Gleichbehandlungsgebot gleichwertig geschützt.
3. Inneres Gesetzgebungsverfahren und Art. 107 II GG
Im vierten Abschnitt der vorliegenden Arbeit wurde aufgezeigt, dass die Art. 76
ff. GG nur Rahmenregelungen enthalten. Kontrovers wird deshalb diskutiert, ob
die Verfassung im Abschnitt zur Gesetzgebung eine planwidrige Regelungslücke
enthält. So wurde insbesondere die Figur des inneren Gesetzgebungsverfahrens
entwickelt, um die (vermeintliche) »Lücke« zu schließen. Nach der hier vertretenen Ansicht handelt es sich bei einem legislativen Abwägungsgebot um eine ethische Forderung, die verrechtlicht werden müsste.
Wie der 65. Deutsche Juristentag gezeigt hat, werden verschiedene Wege zu
besserer Gesetzgebung diskutiert. Nach der hier vertretenen Ansicht würde eine
Begründungspflicht für den Gesetzgeber einen »schwachen« Schleier des Nichtwissens abbilden. Die Art. 76 ff. GG könnten durch Verfassungsänderung um
einen solchen Begründungszwang erweitert werden.
Die wohl herrschende Meinung in der Literatur steht derartigen Überlegungen
jedoch ablehnend gegenüber. Möglicherweise könnten jedoch die Ansätze der
Gesetzgebungslehre für eine immer wieder diskutierte Reform der Finanzverfassung1267 fruchtbar gemacht werden. Dies wäre dann der Fall, wenn die Vorstellung
eines Abwägungsgebotes in besonderem Maß mit dem Finanzausgleich kompatibel erscheint. Zu überlegen ist deshalb, ob die besondere Struktur der Finanzverfassung für ein inneres Gesetzgebungsverfahren und/ oder eine Rechtfertigungspflicht streitet.
a) Vage und ergänzungsbedürftige verfassungsrechtliche Vorgabe
Wie angesprochen, liegt das Problem der Finanzverfassung in ihrer Flexibilität.
Insbesondere Art. 107 II GG weist eine solche Offenheit auf, indem der Gesetzgeber lediglich angewiesen wird, einen angemessenen Ausgleich zu garantieren.
Damit scheint der Bundesgesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum zu besitzen. Wie bereits dargelegt, wurde Art. 107 II GG von der Literatur bis zum Erlass des Maßstäbe-Urteils derart verstanden, dass diese Verfassungsnorm dem
Gesetzgeber allein ein Ergebnis vorgebe. Art. 107 II GG enthalte keine ausgeprägten stabilisierenden und legitimierenden Verfahrensvorgaben.1268 Die offene
Formulierung dieser Verfassungsnormen räume dem Gesetzgeber bewusst kon-
1267 Vgl. statt vieler Kesper, Bundestaatliche Finanzordnung, 1998, 129 ff.; Seybold, Der
Finanzausgleich im Kontext des deutschen Föderalismus, 2004, 59 ff. jeweils mit weiteren
Nachweisen.
1268 Vgl. Hidien, Handbuch Länderfinanzausgleich,1999, 70.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.