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Ausdruck findet. Die richtige Verteilung sei Sache vorgezogener Verhandlungen
und letztlich Dezision.1204
Diese Stellungnahme zeigt, dass das Verhältnis von Politik und Gesetzgebung
im Bereich des Finanzausgleichs stark zugunsten der Politik verschoben ist. Das
in den Art. 76 ff. GG geregelte Gesetzgebungsverfahren stellt sich als der äußere
Rahmen für eine Entscheidung dar, die durch informelle Absprachen und Verhandlungen entsteht.
In einer frühen Entscheidung scheint das Bundesverfassungsgericht diese
Sichtweise zu teilen. So führt das Gericht aus:
»Die Frage, bis zu welchem Intensitätsgrad in den so abgesteckten Grenzen der horizontale Finanzausgleich vorangetrieben werden kann, ist eine finanzpolitische
und keine verfassungsrechtliche. Sie entzieht sich der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht.«1205
Diese Aussage wird jedoch in späteren Urteilen relativiert. Bis zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 19861206 war es üblich, dass der
Bundesgesetzgeber das von den Bundesländern erzielte Verhandlungsergebnis
über den Länderfinanzausgleich lediglich beurkundete und zum geltenden Recht
erhob, ohne materiell auf die Regelungen einzuwirken.1207 Das Gericht stellt jedoch in seinem Urteil fest, dass der Länderfinanzausgleich nicht allein dem freien
Handeln der Länder unterliege. Der Bundesgesetzgeber dürfe sich nicht damit begnügen, politische Entscheidungen einer Ländermehrheit ohne Rücksicht auf deren Inhalt zu beurkunden.1208
2. Vorarbeit der Länder als wesentlicher Faktor des Finanzausgleichs
Trotz der »Intervention« des Bundesverfassungsgerichts wird jedoch der Länderfinanzausgleich weiterhin durch die Finanzpraxis geprägt. Die Ministerialverwaltung der Länder leistet immer noch wesentliche, nicht bloß technische Vorarbeit.1209 Es ist faktisch zu beobachten, dass es dem Bund und den Ländern immer
schwerer fällt, sich auf der Grundlage des Finanzverfassungssystems über eine
gerechte Verteilung der Ressourcen zu verständigen.1210 In der Praxis findet ein
heftiger »Kampf aller gegen alle« um die Aufteilung der verfügbaren Finanzmasse statt, bei dem jeder der Beteiligten sich einen möglichst großen Anteil zu
1204 Vgl. Ossenbühl, Zur Justiziabilität der Finanzverfassung, FS Carstens 1985, 744 ff.
1205 Vgl. BVerfGE 1, 117 (134).
1206 Vgl. BVerfGE 72, 330 (395 ff).
1207 Vgl. Henneke, Öffentliches Finanzwesen, Finanzverfassung: Eine systematische Darstellung, 2000, Rn. 750.
1208 Vgl. BVerfGE 72, 330 (396).
1209 Vgl. Hidien, Handbuch Länderfinanzausgleich, 1999, 25.
1210 Vgl. Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung, 1998, 25.
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verschaffen sucht. Die Kontrahenten orientieren sich dabei in Argumentation und
Verhalten vornehmlich an ihren finanziellen Eigeninteressen.1211
3. Finanzverfassungsrecht als Expertenrecht
Eng damit verbunden ist die Feststellung, dass es sich bei dem Finanzrecht um
Expertenrecht handelt. Der Bundesgesetzgeber ist grundsätzlich auf die Vorarbeit
beziehungsweise Mitarbeit der Landesministerien angewiesen. Die Abgeordneten des Bundestages sind mit dieser Materie tendenziell überfordert. 1212
4. Dominanz der Länderinteressen über Parteiinteressen
Auch der spezifische Charakter des Verteilungskonflikts wirkt sich auf den (tatsächlichen) Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens aus. Nach der Vorstellung des
Bundesverfassungsgerichts soll der Bundesgesetzgeber im Finanzausgleich als
ehrlicher Makler auftreten. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens sollen die
divergierenden Länderinteressen von ihm ausgeglichen werden. Faktisch jedoch
sieht sich der Bund hohen Erwartungen und Forderungen der Länder ausgesetzt.
Da es sich um ein zustimmungsbedürftiges Gesetz handelt, kann er diese Ansprüche nicht vernachlässigen, sondern muss sich von Anfang an auf Verhandlungen
einlassen. Der Bundestag wird dadurch zum Forum der unterschiedlichen Länderinteressen.1213
Die Besonderheit des Finanzausgleichs besteht darin, dass im Rahmen der Entscheidungsfindung Parteiinteressen keine dominante Rolle spielen. Die Zustimmungsbedürftigkeit im Bundesrat wird an dieser Stelle nicht dazu verwandt, bundespolitische Machtkämpfe auszuspielen, indem Gesetzesvorhaben der Regierung blockiert werden. Stattdessen handelt es sich um ein Gesetz, das essentielle
Länderinteressen tangiert.1214 Überspitzt formuliert, geht es um einen Ausnahmefall: Nicht der Bundesrat wird für Bundesinteressen, sondern der Bundestag für
Länderinteressen instrumentalisiert. Aus diesem Grund findet die eigentliche
Entscheidungsfindung nicht im Gesetzgebungsverfahren, sondern in »informellen« Verhandlungen zwischen den Ländern statt.
1211 Vgl. Fischer – Menshausen, in: v. Münch/Kunig, GG – Kommentar, Band 3, 1996, Art.
104a – 109, Rn. 12; Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung, 1998, 67.
1212 Vgl. Hidien, in: Bonner Kommentar, Art. 106 (97. Lfg November 2001) Rn. 342; Hidien,
Handbuch Länderfinanzausgleich, 1999, 26; Seybold, Der Finanzausgleich im Kontext des
deutschen Föderalismus, 2005, 23.
1213 Vgl. Hidien, Handbuch Länderfinanzausgleich, 1999, 341; Kesper, Bundesstaatliche
Finanzordnung, 1998, 25; Korioth, Maßstäbegesetzgebung im bundesstaatlichen Finanzausgleich, ZG 2002, 334, 344 für die Verhandlungen zum Maßstäbegesetz.
1214 Vgl. Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung, 1998, 68.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.