126
des Urzustandes. Genau wie dieser nicht von einer bestimmten Konzeption des
Guten abhängig sein soll, soll er nicht bestimmte Neigungen/Gefühle der Parteien
füreinander voraussetzen.464
Die Annahme eines Gerechtigkeitssinns schließlich wirkt sich vor allem auf
die Folgen der Übereinkunft aus. Diese Eigenschaft der Parteien bezieht sich primär auf ihr Verhalten nach der Einigung. Rawls sichert mit dieser Bedingung ab,
dass die Entscheidung über die Grundsätze bindenden Charakter besitzt.
5. Schleier des Nichtwissens und Gesetzgebung
Der Schleier des Nichtwissens ist, wie soeben dargestellt, zentrale Figur der Urzustandsbeschreibung bei Rawls. Er ist Teil der Theorie, die zu den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen als Grundstruktur führen soll. Die Einigung über die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze steht am Beginn von Rawls’ Überlegungen. Sein
Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit gliedert sich in verschiedene Teile:
Teil I ist der vorangestellte allgemeine Teil, der den grundlegenden Denkansatz
Gerechtigkeit als Fairness, das Argument »Urzustand« und die Ergebnisse
»Grundsätze der Gerechtigkeit« einführt. Dieser Teil lehnt sich in seiner Struktur
an den klassischen kontraktualistischen Ansatz an. Er wirft eine bestehende Konfliktsituation – hier die Problematik: wie können Grundgüter in einer bestehenden
Gesellschaft gerecht verteilt werden – auf und bietet einen Lösungsansatz, der
sich an dem Begriff der reinen Verfahrensgerechtigkeit orientiert. Durch den
Schleier des Nichtwissens und weitere Bedingungen wird ein faires Einigungsverfahren garantiert.
Diese Grundkonzeption beschäftigt sich jedoch nur mit der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze, nicht mit der »normalen« Gesetzgebung. Fraglich ist, ob
Rawls seine Denkfigur des Schleiers des Nichtwissens auch auf jede gesetzgeberische Entscheidung überträgt. Wie konstruiert er im Rahmen seiner Theorie
diese Entscheidungssituation? Hierfür kann auf Teil II seines Werkes zurückgegriffen werden, der zeigt, welche Auswirkungen die gefundenen Grundsätze der
Gerechtigkeit auf das System von Institutionen haben.465
a) Institutionenbegriff
Rawls unterscheidet streng zwischen Gerechtigkeitsgrundsätzen für Institutionen
und für Einzelmenschen. Er beschäftigt sich in seinem Grundwerk primär mit der
Frage der sozialen Gerechtigkeit. Bezugspunkt für seine Gerechtigkeitstheorie
sind deshalb die Institutionen innerhalb einer Gesellschaft.466 Eine Institution ist
464 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 6, 50.
465 Vgl. Rawls, TG, Einführung Kapitel 4, 223 ff.
466 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 2, 23 ff.; Abschnitt 10, 74 ff.
127
für Rawls ein öffentliches Regelsystem, das Ämter und Positionen bestimmt, indem es die Rechte, Pflichten und Machtbefugnisse festlegt. Als Beispiele für Institutionen oder soziale Verfahrensweisen führt er Spiele, Riten, Gerichtsverfahren, Parlamente, Märkte und Eigentumssysteme an.467 Jeder, der in einer Institution tätig ist, weiß, was die festgelegten Regeln von ihm und den anderen verlangen. Dabei unterscheidet Rawls zwischen konstitutiven Regeln einer Institution
und bloßen Strategien und Maximen, die für den Umgang mit den Institutionen
hilfreich sind.468 Wichtig für die weitere Untersuchung des Gesetzgebungsverfahrens ist, dass Rawls die Parlamente unter seinen Institutionenbegriff fasst.
b) Vier-Stufen-Gang
Wie schon angedeutet, beschäftigt sich Rawls im Teil II seines Werkes Eine Theorie der Gerechtigkeit mit der Anwendung der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze.
Sie bilden die Spitze eines Systems. Mit Hilfe dieses Systems kann ein Bürger einer Gesellschaft jeden Teilbereich des politischen Geschehens auf seine Gerechtigkeit hin beurteilen. Rawls unterscheidet mehrere zeitlich geordnete Stufen, mit
denen er die Arbeitsweise der Institutionen unterhalb der Gerechtigkeitsgrundsätze erfasst. Es entsteht ein Vier-Stufen-Gang mit den Ebenen:
1. Grundsätze der Gerechtigkeit
2. Verfassung
3. Einfache Gesetzgebung
4. Anwendung der Regeln auf den Einzelfall
Jede dieser Stufen soll eine brauchbare Sichtweise vermitteln, um bestimmte Arten von Fragen behandeln zu können. Rawls entwickelt eine Normenhierarchie,
die Entscheidungen auf der jeweiligen Ebene werden durch die Ergebnisse der
übergeordneten Ebene beeinflusst 469 Er nimmt hierbei eine Arbeitsteilung zwischen Verfassungsgebung und einfacher Gesetzgebung an. Der erste Gerechtigkeitsgrundsatz ist der Hauptgrundsatz für die verfassungsgebende Versammlung.470 Die Abgeordneten sind an ihn gebunden und beschließen deshalb eine
Verfassung, die die persönlichen Grundfreiheiten schützt.
467 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 10, 75.
468 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 10, 76.
469 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 224.
470 Vgl. Michelman, Rawls on Constitutionalism and Constitutional Law, in: Freeman, Cambridge Companion to Rawls, 2003, 394 ff.; Moore, Rawls on Constitution – Making, in:
Pennock/Chapman, Constitutionalism, 1979, 238 ff.. Eine umfassende Bibliographie zu
dem Verhältnis von Rawlsscher Konzeption und amerikanischen Verfassungsrecht enthält
auch der von Samuel Freeman herausgegebene Band, Cambridge Companion to Rawls,
2003, Bibliography, 545 ff.
Ein Panel eines Rawls-Symposiums (»Rawls and the Law«, 7. und 8. November 2003 an
der Fordham University School of Law) beschäftigte sich ausdrücklich mit dieser Thema-
128
Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz hingegen ist Orientierungspunkt für die
einfache Gesetzgebung. Er verlangt von den Abgeordneten, in sozial- und wirtschaftspolitischen Gesetzgebungsverfahren die langfristigen Aussichten der am
wenigsten Bevorzugten zu berücksichtigen. Der lexikalische Vorrang des ersten
vor dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz wird im Rahmen des Vier – Stufen –
Ganges dadurch abgebildet, dass die verfassungsgebende Versammlung vor der
Gesetzgebung stattfindet.471 Zwischen der Ebene der Verfassungsgebung und einfacher Gesetzgebung ist insofern eine deutliche Zäsur angelegt. Rawls unterscheidet zwischen einer konstitutionellen und einer postkonstitutionellen
Ebene.472
Der Schleier des Nichtwissens wirkt hierbei in der Rawlsschen Konzeption
nicht nur auf die Parteien im Urzustand ein, sondern prägt grundsätzlich auch
noch die Entscheidungssituationen auf den untergeordneten Ebenen. Genauer zu
untersuchen ist, in welchem Umfang er auf den nachgeordneten Stufen Anwendung findet. Welche Kenntnisse lässt Rawls auf der Ebene der Verfassungsgebung und der einfachen Gesetzgebung zu?
Wie schon an anderer Stelle aufgezeigt, unterscheidet Rawls drei verschiedene
Arten von Tatsachen:
1. Einzeltatsachen über den Menschen,
2. Tatsachen bezüglich einer Gesellschaft,
3. Allgemeine Theorien und Gesetzmäßigkeiten.473
Der Umfang der »zugelassenen« Kenntnisse nimmt im Rahmen des Vier –Stufen
– Ganges immer weiter zu, der Schleier des Nichtwissens wird nach und nach gelockert. Diese Durchlässigkeit ist Rawls’ Ansicht nach deshalb möglich, weil die
zentralen Grundsätze der Gerechtigkeit als verbindliche Leitlinien bereits vorhanden sind. Sie bilden einen Rahmen, der die Entscheidungsmöglichkeiten auf
den untergeordneten Ebenen einschränkt. Für die Kenntnis auf diesen Ebenen
gilt: Die Entscheidungsträger verfügen auf jeder Stufe über das Wissen, das sie
benötigen, um die Gerechtigkeitsgrundsätze innerhalb ihres Aufgabenbereichs
471 tik (Panel I: The Constitutional Essentials of Political Liberalism). Die Beiträge wurden
in der Fordham Law Review 2004 veröffentlicht. Vgl. Fleming, Securing Deliberative
Democracy, Fordham Law Review, 1435 ff.; Kelbey, Are There Limits to Constitutional
Change – Rawls on Comprehensive Doctrines, Unconstitutional Amendments, and the
Basis of Equality, Fordham Law Review 1487 ff., Michelman, Justice as Fairness, Legitimacy, and the question of Judicial Review, Fordham Law Review 2004, 1407 ff., Sager,
Why of Constitutional Essentials, Fordham Law Review, 1421ff.; Scanlon, Adjusting
Rights and Balancing Values, Fordham Law Review, 1477 ff.
471 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 227.
472 Vgl. Müller, Der »Schleier des Nichtwissens« und der »Schleier der Unsicherheit«, Wirtschaftswissenschaftliches Studium 26 (1997), 245, 245.
473 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 229.
129
anwenden zu können. Jedoch ist grundsätzlich das Wissen ausgeschlossen, das zu
Voreingenommenheit, zu Gegensätzen zwischen den Menschen führen könnte.474
aa) Verfassungsgebung
Rawls gesteht den Teilnehmern einer verfassungsgebenden Versammlung Kenntnisse über die Grundsätze der Sozialwissenschaft und über die wesentlichen allgemeinen Tatsachen ihrer Gesellschaft zu. Sie besitzen ein Faktenwissen über die
natürlichen Bedingungen und den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungstand der Gesellschaft. Weiterhin ausgeblendet ist das Wissen über ihre persönliche Stellung. Die Abgeordneten kennen nicht ihre eigene gesellschaftliche
Position, ihre natürlichen Gaben und ihre persönlichen Ziele. Der Schleier des
Nichtwissens wird insgesamt durchlässiger.475
Im Urzustand hatten die Parteien nur die Kenntnis, dass die Gesellschaft, der
sie angehören, die Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit aufweist.476 Es
sollten Gerechtigkeitsgrundsätze für eine Gesellschaft festgelegt werden, von der
allein bekannt war, dass sie bereits soziale Institutionen besitzt und bei der die
Frage der gerechten Verteilung von Grundgütern einen zu lösenden Interessenkonflikt hervorruft. Die Gerechtigkeitsgrundsätze sollen als Maßstab festgelegt
werden, um nicht näher bekannte soziale Institutionen zu kritisieren und zu ver-
ändern.477
Auf der Ebene der Verfassungsgebung haben die Abgeordneten ein Mehr an
Wissen. Verfassungsgebung ist für Rawls die Anwendung des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes. Rechtsanwendung setzt jedoch im weitesten Sinn einen konkreten Sachverhalt voraus, der unter eine abstrakte Regel subsumiert wird. Indem
Rawls den Abgeordneten ein Faktenwissen über die konkrete Gesellschaft zubilligt, entsteht ein solcher subsumtionsfähiger Sachverhalt. Die Durchlässigkeit
des Schleiers des Nichtwissens ist notwendig, damit eine Verfassung als Bindeglied zwischen einer konkreten Gesellschaft und den abstrakten Gerechtigkeitsgrundsätzen aufgestellt werden kann.
Als Beispiel für die Verfassungsgebung findet sich bei Rawls die Festlegung
der Wahlkreise. Er nimmt an, dass die verfassungsgebende Versammlung allgemeine Vorschriften für die Bildung der Wahlkreise festlegt. Das Wissen der
Abgeordneten ist begrenzt; sie wissen nichts, was zu einer einseitigen Festlegung
führen könnte. Die politischen Parteien besitzen zu dem Zeitpunkt der Entscheidung keine Wählerstatistiken, sie haben keine Kenntnisse über ihre Position in
den verschiedenen Gebieten.478 Der Schleier des Nichtwissens verhindert damit,
dass sie die Wahlkreise einseitig zu ihren Gunsten festlegen. Die Durchlässigkeit
474 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 228; Abschnitt 68, 489.
475 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 225.
476 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 160.
477 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 3, 30.
478 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 36, 254.
130
des Schleiers zeigt sich daran, dass Rawls in diesem Beispiel nur aktuelles Wissen
über das jeweilige Wahlverhalten in bestimmten Gebieten ausschließen will. Er
scheint ein Wissen der Abgeordneten darüber zuzulassen, dass sie verschiedenen
Parteien angehören. Insoweit besitzen die Teilnehmer der verfassungsgebenden
Versammlung im Verhältnis zu den Parteien des Urzustandes in jedem Fall ein
»Mehr« an Kenntnissen. An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass Rawls mit
dem Vier – Stufen – Gang die schrittweise Ausdifferenzierung einer gerechten
Grundstruktur beschreibt. Der erste Gerechtigkeitsgrundsatz bildet den übergeordneten Maßstab für die Gestaltung der Verfassung, die ihrerseits eine Rahmenfunktion für die nachgeordnete Stufe besitzt.479 Denn sie gibt Kriterien für die
Wahlkreiseinteilung und damit ein gerechtes Verfahren für die Wahl des einfachen Gesetzgebers vor.
bb) Einfache Gesetzgebung
Auch auf der Ebene der Gesetzgebung bleibt der Schleier des Nichtwissens erhalten: Im Rahmen des Vier-Stufen-Ganges werden die Gesetzgebungsvorschläge vom Standpunkt eines repräsentativen Gesetzgebers aus beurteilt, der nichts
über seine Person weiß. Auch über die Gerechtigkeit von Gesetzen und politischen Programmen soll nur derjenige urteilen, der nicht von seinem persönlichen
Interesse, seinen persönlichen Zielen beeinflusst wird.480
cc) Anwendung auf den Einzelfall
Der Schleier des Nichtwissens entfällt erst auf der letzten Stufe: der Anwendung
von Regeln im Einzelfall. Erst dort werden die Kenntnisse der Entscheidungsträger nicht mehr beschränkt. Zu diesem Zeitpunkt ist ein umfassendes Regelsystem
vorhanden, das auf den einzelnen Menschen angewandt werden kann.481 Rawls’
Begründung dafür, dass der »Schleier« auf dieser Stufe entbehrlich ist, fällt sehr
knapp aus. Warum sollte nicht auch die Rechtsanwendung durch eine Neutralität
geprägt sein? Warum sollten die Entscheidungsträger nicht ohne Wissen ihrer eigenen Präferenzen entscheiden?
Rawls wird deshalb an dieser Stelle vorgeworfen, dass er sich nicht genügend
mit der Justiz beschäftige. Sie besitze in seiner Konzeption nur eine administrative Rolle, habe nur einen geringen Stellenwert. Er spreche ihr fälschlicherweise
479 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 36, 251.
480 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 225.
481 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 228.
131
keinen Einfluss auf die Gesetzgebung zu.482 Im Hinblick auf die nur sehr oberflächlichen Äußerungen von Rawls erscheint diese Kritik berechtigt. Die Rechtsanwendung hat für ihn nur eine untergeordnete Bedeutung. Sein Bild eines Stufenganges basiert möglicherweise auf einem positivistischen Gesetzesverständnis.483 Dafür spricht, dass nach seinen Ausführungen auf der Ebene der Rechtsanwendung bereits ein »gesamtes Regelsystem feststehe«. Die Arbeit von Justiz
und Verwaltung gehört für Rawls mehr zur nichtidealen Theorie. Sie ist für ihn
nicht entscheidend, um Grundlagen politischer Pflichten und Verpflichtungen zu
bestimmen.
dd) Zwischenergebnis
Im Rahmen des Konkretisierungsprozesses bleibt der Schleier des Nichtwissens
eine entscheidende Figur. Die Gerechtigkeitsgrundsätze sollen bei der Verfassungsgebung und der einfachen Gesetzgebung vernünftig und unparteiisch angewandt werden.484 Diese Unparteilichkeit wird auch auf den Ebenen unterhalb des
Urzustandes durch den Schleier des Nichtwissens garantiert.
Die Bedeutung der Gedankenfigur zeigt Rawls auch auf, indem er die ideale
Gesetzgebung mit dem idealen Marktgeschehen vergleicht. Der ideale Markt
unterscheidet sich von der idealen Gesetzgebung wesentlich dadurch, dass er
auch dann zu einem optimalen Ergebnis gelangt, wenn jeder nur seinen eigenen
Vorteil verfolgt. Teilnehmer an diesem Markt treffen ihre wirtschaftlichen Entscheidungen allein von ihrem individuellen Standpunkt aus. Gerade das persönliche Wissen, das der Schleier des Nichtwissens ausblendet, ist ihre Urteilsgrundlage. Eine solche egoistische Perspektive ist für Rawls bei der idealen Gesetzgebung nicht denkbar. Die ideale Gesetzgebung verfolgt in seiner Konstruktion das
Ziel, die Gerechtigkeitsgrundsätze umzusetzen. Dieses Ziel kann nur dann
erreicht werden, wenn die untergeordneten Ebenen Verfassungs- und einfache
Gesetzgebung nicht durch persönliche Interessen beeinflusst werden. Der ideale
Markt dagegen verfolgt ein Ziel, das auf dem Einzelnutzen aufbaut. Das egoistische Handeln der einzelnen Teilnehmer und damit die Konkurrenz beleben den
Wirtschaftsmarkt. Während also der ideale Markt durch die individuellen Neigungen der Menschen gefördert wird, wird die ideale Gesetzgebung durch egoistische Positionen behindert.485
482 Vgl. Hicks, Philosophers´ Contracts and the Law, Ethics 85 (1974), 18, 34. Vertiefend zur
der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit Kim, Gerechtigkeit und Verfassung, 2004, 376
ff., der Rawls’ Vier – Stufen – Gang dahingehend interpretiert, dass dieser die Verfassungsgerichtsbarkeit nur als Teil einer nichtidealen Theorie betrachtet.
483 Vgl. Hicks, Philosophers´ Contracts and the Law, Ethics 85 (1974), 18, 35.
484 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 228.
485 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 54, 396 ff.
132
Allerdings wird innerhalb des Vier-Stufen-Gangs nur noch das Wissen ausgeschlossen, das sehr eng mit der Person verbunden ist. Ausgeblendet wird nur noch
das persönliche Wissen der Entscheidungsträger. Das Beispiel der Wahlkreise
zeigt zudem, das möglicherweise nicht alle persönlichen Eigenschaften von dem
durchlässigen Schleier des Nichtwissens erfasst werden. So scheinen die Abgeordneten zu wissen, welchen politischen Parteien sie angehören. Sie dürfen nur
keine Kenntnisse über ihre aktuelle eigene Position, über ihre aktuellen individuellen Interessen besitzen. Rawls’ Ausführungen können hier dahin gehend verstanden werden, dass bei Einzeltatsachen genauer differenziert werden muss. Das
von ihm geforderte unparteiische Verfahren liegt schon dann vor, wenn nur aktuelle Informationen über die eigene Position ausgeblendet, dauerhafte Zugehörigkeiten wie beispielsweise Parteimitgliedschaft jedoch zugelassen werden.
c) Gesetzgebung und Konsens
Möglicherweise bestehen neben der Dichte des Schleiers weitere Unterschiede
zwischen dem Urzustand und den Ausführungen zur Gesetzgebung. Die Übereinkunft der Parteien im Urzustand zeichnete sich dadurch aus, dass sie einstimmig
erfolgte. Dieser Konsens wird von Rawls als wesentlicher Vorteil aufgefasst. In
der Literatur hingegen wurde diese Form der Entscheidung als Verlust empfunden. Es fehle die Kommunikation zwischen den Parteien. Wie beschreibt Rawls
also die Entscheidung über Verfassung und einfache Gesetze? Weicht er von dem
Bild eines Konsenses ab?
Rawls stellt ausdrücklich fest, dass die Beschränkungen des Wissens im Rahmen der Verfassungs- und einfachen Gesetzgebung keine Übereinstimmung
gewährleisten. Zwar sind die Abgeordneten aufgrund des Schleiers unparteiisch.
Sie können eine objektive Betrachtungsweise einnehmen. Dennoch sind die allgemeinen gesellschaftlichen Tatsachen oft unklar und schwer festzustellen.486 Vor
allem der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz zeichnet sich durch seine Unbestimmtheit aus; verschiedene wirtschaftliche oder gesellschaftliche Regelungen sind
deshalb mit ihm vereinbar. Unterschiedliche Gesetze und Programme im Bereich
der Sozial- und Wirtschaftspolitik können gleichermaßen gerecht erscheinen.487
Diese Ausführungen zeigen, dass vor allem die Ausdifferenzierung auf der
Ebene der einfachen Gesetzgebung eine besondere Komplexität besitzt. Auch der
vernunftgeleitete ideale Gesetzgeber kann auf dieser Stufe der Entscheidungsfindung zu verschiedenen Schlüssen kommen.488
Rawls spricht folglich innerhalb seiner Ausführungen zu den Anwendungsebenen der Gerechtigkeitsgrundsätze nicht von einem Konsens. Er geht vielmehr
davon aus, dass Gesetze durch Diskussion und Abstimmung entstehen. Die Diskussion stellt jedoch keinen Interessenkampf dar. Sie ist ein Versuch, das beste
486 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 54, 394.
487 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 229.
488 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 54, 393.
133
Vorgehen gemäß den Gerechtigkeitsgrundsätzen zu finden.489 Der einzelne Abgeordnete besitzt in der Rawlsschen Konzeption nur ein begrenztes Wissen und eine
begrenzte Denkfähigkeit. Auch in einem fiktiven idealen Gesetzgebungsverfahren kann keiner alles wissen oder alle Gedankengänge vollziehen. Die Diskussion
ist dann eine Methode, um Information zusammenzufassen und Gesichtspunkte
zu erweitern.490
Wie wir gesehen haben, werfen Stimmen in der Literatur Rawls vor, von »seinen« Parteien im Urzustand eine Allwissenheit mit Ausnahme des persönlichen
Wissens zu verlangen. Diese Kritik greift ersichtlich nicht für die Ebene der
Gesetzgebung. Die Abgeordneten sind hier nicht allwissend. Sie besitzen unterschiedliche Kenntnisse über die Gesellschaft. Es ist im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens ein Wissensaustausch notwendig. Der Schleier des Nichtwissens verhindert allein, dass ein Interessenkampf entsteht. Er schließt jedoch eine
Kommunikation nicht aus.
Rawls würde es jedoch ablehnen, im Zusammenhang mit der Vorstellung von
idealer Gesetzgebung von einem Kompromiss zu sprechen. Denn ein solcher setzt
seiner Ansicht nach einen Interessenkampf voraus; ein Kompromiss wird für ihn
nur zwischen gegnerischen Parteien mit Interessen gefunden.491 Eine ideale
gesetzgeberische Diskussion hingegen stellt sich nicht als Interessenkampf dar,
sondern wird von Rawls als der Versuch verstanden, das beste Vorgehen gemäß
den Gerechtigkeitsgrundsätzen zu finden.492
Möglicherweise können Rawls’ Ausführungen zur Gesetzgebung der grundsätzlichen Kritik am »Schleier« entgegengehalten werden. Denkbar ist ein Rückschluss von den Beschreibungen der Gesetzgebung auf den Urzustand. Im Rahmen des Vier-Stufen-Gangs geht Rawls davon aus, dass die Parteien, die über die
Gerechtigkeitsgrundsätze entscheiden, später auch Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung werden.493 Er scheint also nicht zwingend anzunehmen,
dass auf verschiedenen Ebenen unterschiedliche Personen agieren. Folglich
könnten die Menschen nicht nur bei der einfachen Gesetzgebung, sondern auf
allen Ebenen ein unterschiedliches Wissen besitzen. Dann wäre ein Wissensaustausch und damit eine Kommunikation schon auf der Ebene des Urzustandes
denkbar. Einer solchen Argumentation muss jedoch entgegengehalten werden,
dass sich die verschiedenen Ebenen des Vier-Stufen-Gangs wesentlich unter-
489 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 54, 393, 394.
490 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 54, 395. Auch innerhalb der Gesetzgebungslehre wird betont,
dass der einzelne Abgeordnete nur eine beschränkte Informationskapazität besitze. Die
Annahme eines real gebildeten Willens aller Abgeordneten bezüglich jeder Detailregelung
eines Gesetzes stelle eine bloße Fiktion dar. Vgl. Reicherzer, Legitimität und Qualität von
Gesetzen, ZG 2004, 121, 123. Ohne der Untersuchung vorgreifen zu wollen, besteht insoweit eine Übereinstimmung zwischen Rawls’ Ausführungen und einer mehr öffentlich –
rechtlichen Betrachtungsweise.
491 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 54, 394.
492 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 54, 394.
493 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 224.
134
scheiden.494 Während die Parteien im Urzustand aus einer Liste von Gerechtigkeitsgrundsätzen übergeordnete Maßstäbe auswählen, beschäftigt sich die einfache Gesetzgebung in der Konzeption von Rawls mit konkreten Fragen der Sozialund Wirtschaftspolitik. Die Ausführungen zur Gesetzgebung können deshalb
nicht für die Annahme herangezogen werden, es bestehe auch zwischen den Menschen im Urzustand eine Kommunikation. Die verschiedenen Ebenen sind nur
bedingt miteinander vergleichbar. Der Urzustand stellt eine fiktive Entscheidungssituation dar, die Veränderungen in bestehenden Gesellschaften initiieren
soll.
d) Gesetzgebung und Verfahrensgerechtigkeit
Wesentliche Unterschiede bestehen auch, wenn man die einzelnen Stufen unter
dem Gesichtspunkt der Verfahrensgerechtigkeit betrachtet. Wie bereits dargestellt, baut der Urzustand auf dem Begriff der reinen Verfahrensgerechtigkeit
auf.495 Es existiert kein unabhängiger Maßstab, an dem das Ergebnis der Einigung
überprüft werden kann.
Bei der Verfassungsgebung und der einfachen Gesetzgebung dagegen besteht
mit den bereits beschlossenen Gerechtigkeitsgrundsätzen eine solche Leitlinie.496
Die (Verfassungs-)Gesetze können an den aufgestellten Grundsätzen gemessen
werden. Fraglich ist dann, ob es sich bei dem Gesetzgebungsverfahren um einen
Fall der vollkommenen oder der unvollkommenen Verfahrensgerechtigkeit handelt.
Wie erörtert, kann bei der vollkommenen Verfahrensgerechtigkeit ein Entscheidungsprozess gefunden werden, der dem übergeordneten Maßstab in jeder
Fallkonstellation gerecht wird. Im Bereich der Gesetzgebung ist für Rawls dieses
»perfekte« Gesetzgebungsverfahren nicht denkbar. Jedes praktikable politische
Verfahren kann zu einem ungerechten Ergebnis führen. Es gibt für ihn keine Verfahrensregeln, die ungerechte Gesetze mit Sicherheit ausschließen können.497
Selbst wenn die Menschen, bedingt durch den Schleier des Nichtwissens, unparteiisch und vernunftgeleitet entscheiden, ist dies keine Garantie für die Gerechtigkeit ihres Beschlusses.498 Auch ein vernunftgeleiteter Gesetzgeber kann sich
nur gewissenhaft bemühen, den Gerechtigkeitsgrundsätzen zu folgen.499 Damit
494 Vgl. Moore, Rawls on Constitution – Making, in: Pennock/Chapman, Constitutionalism,
1979, 238, 241.
495 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 159.
496 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 226.
497 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 226.
498 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 54, 398.
499 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 54, 398.
135
unterliegt das Gesetzgebungsverfahren grundsätzlich der unvollkommenen Verfahrensgerechtigkeit.500
In einigen Bereichen der Gesetzgebung geht Rawls jedoch von einem Begriff
der fast reinen Verfahrensgerechtigkeit aus. Er begründet dies damit, dass die
Gerechtigkeitsgrundsätze in vielen Fragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik nur
eine sehr unbestimmte Vorgabe darstellen. Sie geben kein genau umrissenes
Ergebnis vor, sondern stecken nur einen zulässigen Bereich ab. Gesetze und Programme sind dann gerecht, wenn sie in diesen Rahmen fallen und gemäß einer
gerechten Verfassung gesetzgeberisch in Kraft gesetzt worden sind.501
Die Ausführungen von Rawls zeigen, dass die Grenzen zwischen der unvollkommenen und der reinen Verfahrensgerechtigkeit fließend sind. Die unvollkommene Verfahrensgerechtigkeit zeichnet sich dadurch aus, dass das Ergebnis eines
Verfahrens an einem unabhängigen Maßstab überprüft werden kann. Dieser Orientierungspunkt verliert jedoch an Bedeutung, wenn er nur eine sehr unbestimmte
Zielvorgabe enthält. Dann steckt er nur noch einen Rahmen ab, innerhalb dessen
alle Ergebnisse gleich gerecht sind. Eine genauere Ergebniskontrolle ist in diesem
Fall nicht möglich. Insoweit scheint Rawls sich für einen Perspektivenwechsel
hin zu einer fast reinen Verfahrensgerechtigkeit auszusprechen.
Bei dieser steht nicht länger das Ergebnis, sondern die Ausgestaltung des Verfahrens selbst im Vordergrund. Eine solche Sichtweise nimmt Rawls ein, wenn er
davon spricht, dass gerechte Gesetze gemäß einer gerechten Verfassung gesetzgeberisch in Kraft gesetzt worden sind. Geben die Gerechtigkeitsgrundsätze nur
einen Rahmen vor, so wird die inhaltliche Anforderung (= Anwendung der
Gerechtigkeitsgrundsätze) durch Verfahrensbedingungen ergänzt. Die Gesetze
müssen nach den Regeln beschlossen worden sein, die in der übergeordneten
gerechten Verfassung festgelegt worden sind.
e) Gesetzgebung als Teil einer idealen Theorie
Schon bei der grundsätzlichen Diskussion des »Schleiers« wurde verdeutlicht,
dass sich Rawls’ Theorie in zwei Teile aufspaltet. Er unterscheidet zwischen einer
500 Hier besteht eine Ähnlichkeit zwischen Diskurstheorie und Rawlsscher Konzeption. So
führt beispielsweise Robert Alexy aus, dass Diskursregeln kein Verfahren definieren, das
in einer endlichen Zahl von Operationen stets zu genau einem Ergebnis gelangt. Er verneint, dass es eine Gewissheit absoluter Richtigkeit gibt, Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1991, 403, 411.
501 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 229.
136
idealen und einer nichtidealen Theorie der Gerechtigkeit.502 Die ideale Theorie
stellt hierbei ein Leitbild dar. Rawls entwickelt Gerechtigkeitsgrundsätze für eine
fiktive wohlgeordnete Gesellschaft. Diese Überlegungen machen den Schwerpunkt seines Werkes Eine Theorie der Gerechtigkeit aus. Der zweite Teil seiner
Konzeption beschäftigt sich dann damit, inwieweit die unter Idealbedingungen
gewonnenen Grundsätze umgesetzt werden können. In welchem Umfang können
sie auf die Realität übertragen werden?503
Zu überlegen ist, wie die Ausführungen zu dem Vier-Stufen-Gang eingeordnet
werden können. Sind die Vorstellungen zur Verfassungs- und einfachen Gesetzgebung noch Teil der idealen Theorie und damit ein Ideal, an das sich das wirkliche Gesetzgebungsverfahren nur annähern kann? Oder ist die Tatsache, dass
Rawls in diesem Zusammenhang nur eine unvollkommene Verfahrensgerechtigkeit annimmt, ein Hinweis darauf, dass er bereits die »alltägliche« Gesetzgebung
im Blick hat?
Dafür, dass die Ausführungen zur Gesetzgebung bereits zur nichtidealen Theorie gehören, spricht Folgendes: Der Vier-Stufen-Gang soll die Anwendung der
Gerechtigkeitsgrundsätze erleichtern.504 Der Begriff »Anwendung« könnte darauf hindeuten, dass Rawls auf das reale Gesetzgebungsverfahren Bezug nimmt.
Jedoch macht er deutlich, dass der von ihm skizzierte Stufenbau nicht darauf
abzielt, die Arbeitsweise wirklicher Institutionen zu analysieren.505 Die verschiedenen Ebenen sollen nur die vollkommene Gerechtigkeitsvorstellung stärker ausdifferenzieren. Die Gerechtigkeitsgrundsätze werden durch ein Schema ergänzt.
Dieses Schema ist ebenfalls Teil der idealen Theorie. Es soll dem Bürger helfen,
verschiedene Gerechtigkeitsprobleme durchdenken zu können. Das in den
Gerechtigkeitsgrundsätzen verkörperte Ideal wird quasi auf verschiedene Stufen
»heruntergebrochen«: auf die Frage der gerechten Verfassung, der gerechten
Gesetzgebung, der gerechten Einzelfallanwendung. Der Leser soll durch den
Vier-Stufen-Gang ein umfassenderes Leitbild erhalten.506
Dies bedeutet für die Ausführungen zur Verfassungs- und einfachen Gesetzgebung: Sie sind wie die Gerechtigkeitsgrundsätze Zielvorstellungen. Rawls unterscheidet streng zwischen der Realität der Gesetzgebung und seiner Konstruktion
eines Vier-Stufen-Ganges. Er will den Menschen eine Vorstellung vermitteln, wie
502 Auch hier gleichen sich Diskurstheorie und Gerechtigkeit als Fairness. Robert Alexy
unterscheidet innerhalb seiner Ausführungen ebenfalls zwischen idealen und realen Diskursen, vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1991, 411. Eine solche Unterscheidung zwischen Idealbetrachtung und Realbetrachtung des Staates weist eine lange
Tradition auf. Bereits Platon und Aristoteles hatten eine doppelte Sichtweise des Staates.
Sie unterschieden zwischen dem theoretisch besten Staat und dem zweitbesten im Sinne
des praktisch besten Staates, vgl. hierzu vertiefend Maluschke, Philosophische Grundlagen
des demokratischen Verfassungsstaates, 1982, 147.
503 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 2, 24; Abschnitt 39, 277.
504 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 223.
505 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 225 Fussnote; dies betonend auch Moore, Rawls on Constitution – Making, in: Pennock/Chapman, Constitutionalism, 1979, 238, 239.
506 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31.
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eine auf den Gerechtigkeitsgrundsätzen aufbauende gerechte Gesetzgebung aussehen kann. Auch der Vier-Stufen-Gang muss als ein hypothetisches Modell verstanden werden.507
f) Zwischenergebnis
Der Schleier des Nichtwissens wird dadurch, dass er auch bei der Verfassungsund einfachen Gesetzgebung erneut aufgegriffen wird, nicht automatisch Bedingung für ein reales Gesetzgebungsverfahren. Er bleibt Argumentationsfigur innerhalb eines theoretischen Systems. Die Beschreibung einer gerechten Gesetzgebung kann als eine Weiterentwicklung bestimmter Bedingungen des Urzustandes aufgefasst werden. Dem Urzustand und der Einigung über die Gerechtigkeitsgrundsätze folgen untergeordnete Entscheidungssituationen. Der Leser von
Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit kann das Gedankenexperiment Urzustand quasi
weiterdenken: Was passiert, wenn die Gerechtigkeitsgrundsätze beschlossen
wurden?
Die Stufen einer idealen Verfassungsgebung und einer einfachen Gesetzgebung unterscheiden sich in einigen Punkten wesentlich vom Urzustand. Die
Dichte des Schleiers nimmt von Stufe zu Stufe ab. Je umfangreicher das bereits
geschaffene Regelsystem wird, desto unwichtiger scheint für Rawls die Objektivität des Entscheidungsträgers zu sein. Zu kritisieren ist hierbei, dass er einen
möglichen Einfluss der Justiz auf die Gesetzgebung nicht problematisiert. Der
Schwerpunkt seiner Ausführungen liegt eindeutig auf der Wahl der Grundsätze
der Gerechtigkeit. Die nachfolgenden Stufen scheinen ihn immer weniger zu
interessieren. Dies entspricht auch der Zielsetzung seiner Theorie. Rawls will zu
einer gerechten Grundstruktur für eine Gesellschaft gelangen. Er möchte primär
eine Rahmenordnung entwerfen, die auf im Urzustand gewählten Verteilungsgrundsätzen aufbaut. Wie dieser Rahmen durch eine Gesetzgebung ausgefüllt
wird, steht nicht im Mittelpunkt seiner Ausführungen. Dennoch ist festzuhalten,
dass der Schleier auch hier eine zentrale Figur bleibt. Mit seiner Hilfe konstruiert
Rawls ein ideales Gesetzgebungsverfahren, in welchem der Wissensaustausch im
Vordergrund steht.
II. Weiterentwicklung in späteren Werken
Rawls Eine Theorie der Gerechtigkeit wird als Klassiker angesehen. So gut wie
keine Seite, kein Argument wurde nicht diskutiert, kritisiert, widerlegt oder un-
507 Vgl. Hicks, Philosophers´ Contracts and the Law, Ethics 85 (1974), 18, 32; Kim, Gerechtigkeit und Verfassung, 2004, 188.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.