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Diese Auseinandersetzung um zusätzliche Verfahrenspflichten für das Parlament beschäftigt sich in ihrem Kern mit dem Verhältnis von Gesetzgebung und
normativer Ethik. Und gerade hierin besteht die Verbindungslinie zum Maßstäbe
– Urteil. Indem das Gericht auf den Schleier des Nichtwissens verweist, finden
Teile einer normativen Ethik Eingang in die (Finanz)Gesetzgebung. Ob diese Verknüpfung, wie in der Literatur geäußert, als »Fehlgriff« eingeordnet werden
muss, ist zentrale Frage der vorliegenden Untersuchung.
VII. Gang der Untersuchung
Die Arbeit beginnt mit einer Urteilsanalyse (1.Teil), die sich in zwei Abschnitte
aufgliedert. In einem ersten Schritt wird der Argumentationsgang des Gerichts
selbst nachgezeichnet. Darauf folgend wird auf die zahlreichen Bewertungen und
kritischen Anmerkungen eingegangen.
Es erfolgt dann ein kurzer Blick in die Philosophiegeschichte, der dazu dient,
verschiedene mögliche Konzeptionen eines idealen Gesetzgebers aufzuzeigen
(2.Teil). Es stellt sich vor allem die Frage, mit welchem Wissen andere Philosophen »ihren« Gesetzgeber ausgestattet haben. Dieser Überblick über verschiedene staatsphilosophische Ansätze stellt eine Basis für die genauere Betrachtung
von Rawls’ Überlegungen dar.
Denn im Mittelpunkt des nächsten 3. Teiles steht dessen Gerechtigkeitstheorie.
Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt auf dem Schleier des Nichtwissens. Dabei
gliedert sich die Darstellung wiederum in drei Abschnitte auf.
In einem ersten Schritt erfolgt eine Auseinandersetzung mit Rawls’ Grundwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit. Der Schleier des Nichtwissens stellt in seinen Überlegungen eine zentrale Bedingung dar. Mit seiner Hilfe konstruiert
Rawls ein künstliches Informationsdefizit der Entscheidungsträger. Dieser
Ansatz ist in der Literatur umfassend rezipiert worden. Die folgende Darstellung
versucht, ein genaues Bild des »Schleiers« zu zeichnen und dabei auf Hauptkritikpunkte einzugehen.
In einem nächsten Schritt rücken Rawls’ Folgewerke in den Blickpunkt der
Betrachtung. Dieser Abschnitt stellt in gewisser Weise einen »Drahtseilakt« dar.
Wie die Urteilsanalyse aufzeigen wird, verweist das Bundesverfassungsgericht
allein auf Eine Theorie der Gerechtigkeit. Aus diesem Grund lag es nahe, sich
lediglich mit Rawls’ Grundwerk auseinander zu setzen. Jedoch erscheint eine solche Betrachtungsweise zu eng gefasst. Bezieht man allerdings Rawls spätere
Schriften in die Untersuchung mit ein, so besteht die Gefahr, sich in einem allgemeinen Vergleich von Rawls’ verschiedenen Werken zu »verlieren«. Die entstandenen Ausführungen stellen deshalb einen Kompromiss dar. Untersucht wird vor
allem, inwieweit Rawls die Wirkungsweise des »Schleiers« verändert hat und ob
diese Figur in seinem Gesamtkonzept immer noch eine zentrale Stellung besitzt.
Auf Modifikationen der Gerechtigkeitstheorie wird nur insoweit eingegangen, als
sie für die Beantwortung dieser Fragen von Bedeutung erscheinen.
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In einem letzten Schritt erfolgt eine Betrachtung, bei der Rawls’ Vorstellung
von einer idealen Gesetzgebung mit den zuvor aufgezeigten Ansätzen in der Philosophiegeschichte verglichen wird.
Im 4. Teil der Arbeit erfolgt ein Wechsel der Begriffsebene: Die Gesetzgebung
wird nicht länger aus einer philosophischen, sondern aus einer rechtlich – politischen Perspektive betrachtet. Wie die Urteilsanalyse deutlich machen wird, legt
das Bundesverfassungsgericht seiner Argumentation ein verändertes Gesetzesverständnis zugrunde. Um diesen Ansatz einordnen zu können, wird kurz aufgezeigt, inwieweit unter dem Grundgesetz Streit um die Definition des Gesetzesbegriffs herrscht.
In Entscheidungsanmerkungen und Kritiken wurde jedoch vor allem hervorgehoben, dass das Gericht eine stark verfahrensorientierte Betrachtungsweise eingenommen hat. Insoweit wird ein Zusammenhang zwischen dieser Entscheidung
und den Forderungen der Gesetzgebungswissenschaft gesehen. Die Entwicklung
der Gesetzgebungslehre als Wissenschaft von Theorie und Praxis der Gesetzgebung25 wird deshalb in diesem Teil der Arbeit skizziert; insbesondere wird die
Diskussion um ein inneres Gesetzgebungsverfahren dargestellt.
Anschließend wird erörtert, inwieweit es sich bei dem Länderfinanzausgleich
um einen Spezialfall der Gesetzgebung handelt (5.Teil). Hierbei wurde die innere
Struktur aus dem vorherigen Teil übernommen. Zuerst wird untersucht, welchen
Stellenwert das Gesetz als Handlungsform in diesem Bereich besitzt. Es folgen
Ausführungen zu den spezifischen Schwierigkeiten des Länderfinanzausgleichs,
die den tatsächlichen Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens beeinflussen. Nach
diesem kursorischen Blick auf die Realität des Länderfinanzausgleichs stellt sich
die Frage, inwieweit die Forderung nach »guter Gesetzgebung« dennoch Eingang
in diese Sondermaterie findet. Möglicherweise zeigt sich bereits in den früheren
Urteilen des Bundesverfassungsgerichts eine Tendenz zur Verrechtlichung.
In einem nächsten Schritt wendet sich die Untersuchung noch einmal dem
Maßstäbe-Urteil zu (6. Teil). Denn die vorangegangenen Teile der Arbeit ermöglichen nunmehr eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Ausführungen des
Bundesverfassungsgerichts. Wie bereits angedeutet, vermischt das Gericht in seiner Entscheidung eine juristische, scheinbar an die Gesetzgebungswissenschaft
anknüpfende Begriffsebene mit einer Rawlsschen Betrachtungsweise des Länderfinanzausgleichs.
Nachdem im 3. Teil der Arbeit eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem
Schleier des Nichtwissens erfolgte und im 4. Teil die Schwierigkeiten eines inneren Gesetzgebungsverfahrens skizziert wurden, können die Überlegungen des
Gerichts jetzt genauer eingeordnet werden. Insbesondere ist an dieser Stelle zu
erörtern, warum das Gericht gerade im Länderfinanzausgleich auf den Schleier
des Nichtwissens Bezug nimmt. Wie bereits angedeutet, liegt der Entscheidungssituation möglicherweise ein Verteilungskonflikt zugrunde, auf den Rawls’
Gerechtigkeitskonzeption in besonderem Maß zugeschnitten ist.
25 Vgl. Schäffer, Über Möglichkeit, Notwendigkeit und Aufgaben einer Theorie der Rechtsetzung, in: Schäffer (Hrsg.), Theorie der Rechtsetzung, 1988, 11, 19.
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Der folgende 7. Teil führt die verschiedenen Gedankenstränge der Arbeit
zusammen. Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Maßstäbe – Urteile allein
im Hinblick auf die Spezialmaterie Länderfinanzausgleich Bezug auf John Rawls
genommen. Dieser Ansatz wird von der Verfasserin nun erweitert. Es wird auf
einer abstrakteren Ebene erörtert, inwieweit die Vorstellung eines Schleiers des
Nichtwissens im Gesetzgebungsverfahren mit der Systematik des Grundgesetzes
kompatibel erscheint.26 Entspricht Rawls’ Theorie einer idealen Gesetzgebung
den Wertungen unserer Verfassung? Wenn ja, auf welchem Weg könnte die fiktive
Bedingung eines »Schleiers« verrechtlicht werden?
Wie die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, bildet das Maßstäbe – Urteil
den Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit. Die Urteilsanalyse wird zeigen,
dass das Gericht eine Argumentation entwickelt, die sich, pauschal betrachtet, auf
die Art. 104 ff. (Finanzverfassung) und Art. 76 ff. (Gesetzgebung) stützt. Die
Stellung des Abgeordneten nach Art. 38 I 2 GG wird in der Entscheidung hingegen nicht thematisiert. Dennoch wird in vorliegender Arbeit abschließend erörtert, ob nicht auch diese Verfassungsnorm »Einbruchstelle« für die Forderung
nach einem Schleier des Nichtwissens im Gesetzgebungsverfahren sein könnte.
Die Abgeordneten als »Bausteine« der Institution Bundestag werden in dieser
Verfassungsnorm als Vertreter des ganzen Volkes bezeichnet und (nur) an ihr
Gewissen gebunden. Hieraus ergibt sich möglicherweise eine Pflicht der Abgeordneten zur Interessenverallgemeinerung.
26 Derartige Überlegungen ebenfalls im Ansatz bei Blum, Gutachten, in: Verhandlungen des
fünfundsechzigsten Deutschen Juristentages, Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Band I (Gutachten), München 2004, I 6, 46.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.