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dem an.149 Es blieb jedoch dabei, dass Richter bei Mitwirkung an definitiven Entscheidungen vom Verfahren ausgeschlossen blieben.150 Schon in diesen Entscheidungen, die sich dem Ausschluss und nicht der Befangenheit widmeten, deutete
sich eine Präzisierung der Judikatur zu §§ 18, 19 an, indem das Gericht ausführte,
»ob die Mitwirkung an einer solchen Stellungnahme im Einzelfall geeignet ist,
die Besorgnis der Befangenheit des Richter nach § 19 zu begründen, ist eine weitere Frage und nach Maßgabe dieser Vorschrift zu entscheiden.«151 Es handelte
sich um zwei wichtige Brücken zum nächsten Beschluss, die Eigenständigkeit des
Entscheidungsprozesses nach § 19 sowie seine Charakterisierung als Einzelfallfrage – im Gegensatz zu dem typisierten Katalog des § 18 – anzuerkennen.
d) Ausdifferenzierung der Dogmatik
Die Befangenheitsjudikatur ist seit den 1990er Jahren geprägt von den Gutachter-
Entscheidungen, also Ablehnungen von Richtern, die zuvor in relevanten Rechtsfragen Gutachten erstattet hatten. Den Beginn machte ein Beschluss in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen den so genannten Wasserpfennig in Baden-
Württemberg. Es war eine Umlage zu Lasten von Wasserverbrauchern und zu
Gunsten von Landwirten, die damit dafür entschädigt werden sollten, dass sie weniger düngen durften, um das Grundwasser zu schonen.152 Die Abgabe war schon
vor ihrer Verabschiedung dem Grunde und ihrer konkreten Ausgestaltung nach
verfassungsrechtlich umstritten, unter anderem zwischen dem Landtag und der
Landesregierung. Die Regierung beauftragte den Hochschullehrer Kirchhof mit
einem Gutachten. Ihre Erwartung wurde nicht enttäuscht, das Gutachten kam zu
dem Schluss, dass die Regierungslösung rechtlich belastbar sei, die Fraktionsalternative hingegen erheblichen Bedenken begegne. Trotz anderer Gutachten, die
zum gegenteiligen Ergebnis kamen, verabschiedete der Landtag das Regierungsmodell und stützte sich zur Begründung auf den Kirchhof-Befund.153 Vier Monate
später wurde Kirchhof Verfassungsrichter in dem Senat, der über die Verfassungsbeschwerde gegen den »Wasserpfennig« zu entscheiden hatte – und die Beschwerdeführerin hielt ihn gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 2 für ausgeschlossen, weil er
149 Der Erste Senat hatte eine Woche zuvor über eine vergleichbare Konstellation mit dem
Bundesarbeitsgericht und dem Richter Dieterich zu befinden und änderte aufgrund einer
Differenzanfrage des Zweiten Senats seine Auffassung, vgl. Senatsbeschluss vom 15. Juni
1988 (1 BvL 9/83), BVerfGE 78, 306 (315).
150 Bestätigt vom Senatsbeschluss vom 23. November 1988 (2 BvR 1619, 1628/83), BVerfGE
79, 127 (140 f.) betreffend den Richter Franßen. Vgl. auch den Senatsbeschluss vom 7.
Februar 1991 (2 BvL 24/84), BVerfGE 83, 363 (374), mit dem zum einen der Richter Kirchhof als ehemaliger Beteiligtenvertreter und zum anderen der Richter Kruis als Mitautor
der Stellungnahme einer Beteiligten ausgeschlossen wurden.
151 Senatsbeschluss vom 21. Juni 1988 (2 BvR 602, 974/83), BVerfGE 78, 331 (336).
152 Senatsbeschluss vom 5. April 1990 (2 BvR 413/88), BVerfGE 82, 30.
153 Vgl. Senatsbeschluss, aaO, 31 f.
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bereits »in der Sache tätig« gewesen sei154, jedenfalls aber nach § 19 befangen.
Die Befangenheit resultiere zum einen aus seiner vorherigen klaren Stellungnahme zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des »Wasserpfennigs«, zum anderen aber auch daraus: Er sei quasi gezwungen, auch im Rahmen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens für die gefundende Wasserpfenniglösung zu votieren, andernfalls er sich dem Vorwurf nicht genügend sorgfältiger Gutachtenerstattung
ausgesetzt sehen könnte155.
Beteiligt nein, befangen ja, befand der Senat. Selbst wenn das Gutachten »dieselbe Sache« iSd § 18 Abs. 1 betreffe, so sei seine Erstattung wahlweise als »Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren« oder als Äußerung einer wissenschaftlichen Meinung zu interpretieren. Beides ist von § 18 Abs. 3 privilegiert. Die »Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren« hatte das Gericht aufgrund der breiten
Beteiligung der Öffentlichkeit am Gesetzgebungsprozess schon seit jeher weit
ausgelegt.156 Ein Auftragsgutachten umstandslos als wissenschaftliche Meinungsäußerung anzuerkennen, war neu. Jedoch sei Kirchhof befangen. In der
Begründung bemühte sich der Senat erkennbar, die misslungene Vermischung
von § 18 und § 19 aufzuarbeiten.157 Zur Grundlage seiner Entscheidung machte
er erneut den allgemein-prozessualen Befangenheitsbegriff. Aus den in § 18
Abs. 2 und 3 genannten Gesichtspunkten könne sich eine Besorgnis der Befangenheit gleichwohl nicht rechtfertigen – aus zwei Gründen: Zum einen seien sie
allgemein, zum anderen ergebe sich ein Wertungswiderspruch zwischen Ausschluss und Befangenheit. Es müsse daher stets »etwas Zusätzliches« gegeben
sein, das über die privilegierten Tatbestände hinausreiche. Der Ansatz verdient
Zustimmung.158 Gerichte lösen sich nicht leicht von einer jahrzehntelangen
Rechtsprechung. Insofern war die vorsichtige Hinwendung zur analytischen
Trennung von § 18 und § 19 einerseits und andererseits zur Erkenntnis, dass es
gerade im Bereich von § 19 um »Wertung« geht, ein beachtenswerter Schritt. Es
war dann konsequent vom Gericht, die Rückausnahmen der § 18 Abs. 2 und 3
nicht mehr quasi analog auf § 19 anzuwenden, sondern einen Wertungswiderspruch vermeiden zu wollen – gerade weil die Befangenheitsprüfung nach § 19
einen wertenden Prozess voraussetzt. Und der Senat wertete in der Sache Kirchhof: Die Erstattung des Gutachtens als solche mache ihn noch nicht befangen,
zumal jeder Wissenschaftler sich bei Auftreten anderer, besserer Gründe umstim-
154 Jedoch nicht in offizieller Funktion, weshalb er nicht nach § 18 Abs. 3 Nr. 1 BVerfGG privilegiert sei.
155 Auf die mit dem Gutachtenauftrag verbundene vertragliche Bindung legte die Beschwerdeführerin besonderen Wert: Nicht die Stellungnahme im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens als solche, sondern die schriftliche Niederlegung gegen Honorar mache ihn befangen, vgl. Senatsbeschluss vom 5. April 1990 (2 BvR 413/88), BVerfGE 82, 30 (34).
156 Dieser Auslegung ist im Ergebnis zuzustimmen: Der Befund entspricht der systematischen
Stellung von Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 Nr. 1 des § 18 BVerfGG, der §§ 18 Abs. 1 Nr. 2 und
Abs. 3.
157 Vgl. Senatsbeschluss, aaO, 37 ff.
158 Teilweise wurde er als »Wende der Rechtsprechung« bezeichnet, vgl. Volker Epping, DÖD
1995, 148 (149).
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men ließe. Es gab jedoch dieses »Zusätzliche«: Dass es sich beim Wasserpfennig-
Gutachten gerade nicht um ein privates, ergebnisoffenes Gutachten gehandelt
habe, sondern die Landesregierung Kirchhof erst beauftragt habe, als der Streit
um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit schon offen zu Tage lag. Die Landesregierung habe gewusst, dass Kirchhof ihre Konzeption unterstütze, nicht die der
Fraktion, »das Gutachten wuchs so in eine besondere Gewährfunktion für die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes gerade auch in den Punkten hinein, in denen es
im vorliegenden Fall angegriffen wird.«159 Eine angreifbare Begründung: Den
Finger in die Wunde legten die Richter Böckenförde und Klein mit ihrer Abweichenden Meinung. Nachdem sie zunächst die alte Rechtsprechung der Anwendung von § 18 Abs. 3 auf § 19 zu reaktivieren angemahnt hatten, frugen sie zu
Recht, ob es denn wirklich gerade die Festlegung des Landtags auf die Aussagen
des Kirchhof-Gutachtens sei, die diesen befangen machen könnten, oder ob nicht
vielmehr in der Art und Weise von Kirchhofs Stellungnahme selbst der Grund für
dessen Befangenheit hätte gesucht werden müssen.160 In der Tat: Es geht um die
Besorgnis, der Richter könne befangen sein, nicht um die Feststellung, ein Beteiligter habe sich festgelegt. Ob dem Kirchhof-Gutachten für die Landesregierung
Gewährsfunktion zugekommen war, ist weniger gravierend als die Frage, ob ein
besonnener Beteiligter hat annehmen dürfen, Kirchhof rücke von seinen eigenen
Befunden ab. Die Begründung der Mehrheitsmeinung war somit schwach, das
Ergebnis jedoch nachvollziehbar. Es waren eben noch ein, zwei Schritte zum Verständnis von § 19 als Vorschrift, die auf die individuelle Situation des inkriminierten Richters abhebt.
Schon gut zwei Jahre später bestätigte der Erste Senat die Kirchhof-Rechtsprechung des Zweiten Senats. Die Deutsche Bundespost, damals noch Behörde, hatte
1980 Beamte verpflichtet, Arbeiten anstelle von streikenden Arbeitnehmern zu
verrichten. Die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands hatte daraufhin den
Hochschullehrer Söllner mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt, weil ihr
seine Position bekannt war: Er hielt das Vorgehen für einen Verstoß gegen die
Koalitionsfreiheit. Auszüge aus dem Gutachten wurden daraufhin auch in
gewerkschaftsnahen Fachzeitschriften publiziert. Der Senat nahm die Selbstablehnung Söllners an,161 und begründete das damit, die Auftragserteilung sei »von
dem voraussehbaren Ergebnis des Gutachtens abhängig« gewesen.162 Erneut das
richtige Ergebnis, erneut eine merkwürdige Begründung163: Wäre Söllner weniger
befangen gewesen, wenn die Eisenbahner von seinem Befund überrascht worden
wären? Aber das Gericht wollte sich dem überaus auslegungsbedürftigen Begriff
159 Vgl. Senatsbeschluss, aaO, 39 f.
160 Abweichende Meinung der Richter Böckenförde und Klein zum Senatsbeschluss vom 5.
April 1990 (2 BvR 413/88), BVerfGE 82, 30 (40 ff.).
161 Senatsbeschluss vom 2. Dezember 1992 (1 BvR 1213/85), BVerfGE 88, 1.
162 Vgl. Senatsbeschluss aaO, 4.
163 Kritik am unklaren Entscheidungsmaßstab auch bei Andreas Müller, Zur Ablehnung von
Bundesverfassungsrichtern wegen Besorgnis der Befangenheit nach § 19 BverfGG, NVwZ
1993, 1167 (1168).
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der Befangenheit wohl typisierend nähern – und die vorherige Erteilung eines
Auftragsgutachtens gehörte zur neuen Kategorie.
Am selben Tag erging ein Beschluss des Zweiten Senats, der einer individuellen Befangenheitsprüfung weiter den Weg bahnte.164 Das Gericht hatte 1992 über
eine permanent hoch umstrittene Frage zu entscheiden: Die rechtlichen Rahmenbedingungen des Schwangerschaftsabbruchs. Unter anderem die Frankfurter
Rundschau und die taz hatten publik gemacht, dass der zur Entscheidung berufene Richter Böckenförde seit 1986 Mitglied der »Juristenvereinigung Lebensrecht e.V.«165 (JVL) war. Sein Austritt im Jahr 1990 beruhte nicht auf inhaltlichen
Differenzen, sondern auf der Tendenz der JVL, zunehmend auch verfassungsrechtlich begründete politische Stellungnahmen zur Änderung des Abtreibungsstrafrechts abzugeben – eine Mitgliedschaft schien ihm mit seiner richterlichen
Tätigkeit (nur) daher nicht weiter vereinbar.166 Das verfahrensrechtliche Problem:
Es handelte sich um eine abstrakte Normenkontrolle, also ein Verfahren lediglich
mit einem Antragsteller, der die verfassungsrechtliche Überprüfung anregt, und
keinem auf der anderen Seite Beteiligten. Diejenigen, die das Gesetz stützen
wollten, vor allem die liberale Mehrheit des Bundestages, waren nicht im rechtlichen Sinne Beteiligte, sondern lediglich äußerungsberechtigt. Sie konnten daher
keinen Befangenheitsantrag stellen. Also schrieben sie dem Vorsitzenden des
Zweiten Senats einen Brief.167 Es war eine lediglich informelle Beschwerde, aber
sie war wirkungsvoll: Böckenförde lehnte sich danach selbst als befangen ab. Der
Senat folgte der Ablehnung jedoch nicht. Zunächst zog er erneut die Rückausnahmen aus § 18 Abs. 2 und 3 heran, um Wertungswidersprüche zwischen dem Ausschluss und der Befangenheit zu vermeiden. Die konkrete Argumentation erinnerte allerdings deutlich an die frühere, nahezu analoge Anwendung, insofern das
Gericht nicht lediglich Wertungsgesichtspunkte heranzog, sondern auf den Wortlaut von § 18 Abs. 2 abstellte.168 Es verglich Böckenfördes Mitgliedschaft in der
JVL mit der unschädlichen Mitgliedschaft in einer Partei. Das ist wenig überzeugend: § 18 Abs. 2 reiht die Parteimitgliedschaft ausweislich des Wortlauts in »allgemeine Gesichtspunkte« ein, vergleichbar dem Familienstand oder der Abstammung. Parteien beschäftigen sich regelmäßig mit vielen verschiedenen politischen Positionen und integrieren in der Regel verschiedene Flügel, so dass von
der Mitgliedschaft in einer Partei selbst grundsätzlich nur vage auf den Grad der
Voreingenommenheit von Parteimitgliedern zu rechtspolitischen Fragen ge-
164 Senatsbeschluss vom 2. Dezember 1992 (2 BvF 2/90 und 4,5/92), BVerfGE 88, 17.
165 Deren § 2 Abs. 1 der Satzung lautete: »Der Verein sorgt sich um Menschenwürde und Menschenrechte Ungeborener und Schwangerer und bemüht sich auf der Grundlage der Gleichwertigkeit geborenen und ungeborenen Lebens um einen gerechten Ausgleich bei Konflikten.«
166 Allerdings schlug er als Sachverständigen für das Verfahren Prof. Stürner vor, der ebenfalls
der JVL angehörte.
167 Darstellung des Verfahrens bei Elisabeth von Szczepanski, Die verfassungswidrigen Einseitigkeit der Verfahrensbeteiligung im abstrakten Normenkontrollverfahren, JZ 2000, 486
(488 f.).
168 Senatsbeschluss, aaO, 23.
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schlossen werden kann. Monothematische Vereinigungen sind regelmäßig nicht
nur homogener, sondern bestehen zur Durchsetzung eines eng umgrenzten Kreises politischer Ziele. Es kann daher eher darauf geschlossen werden, dass die Mitglieder diese Ziele von vornherein unterstützen.169 Indes: Dem Senat reichte die
Mitgliedschaft als solche nicht aus – und »etwas Zusätzliches«, wie er es schon
früher gefordert hatte, vermochte er gerade aufgrund des Austritts nicht zu erkennen. Auch dies wenig überzeugend, denn Böckenförde trat gewissermaßen nur aus
formalen Gründen aus. Auf die kann es aber, wenn es darum geht, inwiefern
Beteiligte die Befürchtung von Voreingenommenheit hegen müssen, kaum
ankommen.
Über die Befangenheit des Richters Herzog hatte das Gericht ein weiteres Mal
zu entscheiden – in einer außergewöhnlichen Situation. 1994 schlugen die Unionsparteien ihn, den Präsidenten des Gerichts, als Bundespräsidenten vor. Herzog
bat daraufhin anlässlich eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens den Senat um
Klärung, ob er als Bundespräsidentschaftskandidat überhaupt noch richterlich
tätig sein könne oder ob die Verfahrensbeteiligten nunmehr generell Anlass hätten, an seiner Unvoreingenommenheit zu zweifeln.170 Der Senat hielt Herzog
weder im konkreten Verfahren noch aufgrund seiner Kandidatur latent für befangen, insbesondere, weil der Erste Senat, dem er angehörte, nicht über Organstreitigkeiten und somit unter Umständen auch über Ausmaß der Rechte und Pflichten
des Bundespräsidenten zu entscheiden hätte.171 Im Ergebnis verdient die Entscheidung Zustimmung, zumal das Amt des Bundespräsidenten eine dem Bundesverfassungsrichteramt vergleichbare Neutralität verlangt und die Mitgliedschaft Herzogs in der CDU172 ohnehin bekannt war.173
Auch bei der Nachfolgerin Herzogs im Gerichtspräsidentenamt, Limbach,
stellte sich die Frage nach der Befangenheit. Es ging in zwei Verfahren um die
Tötung von »Republikflüchtlingen« auf Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) der DDR zwischen 1971 und 1989.174 Drei Mitglieder des NVR
waren wegen Totschlags verurteilt worden und hatten dagegen Verfassungsbeschwerde erhoben. Limbach war zuvor Justizsenatorin in Berlin gewesen und
hatte die dortige Arbeitsgruppe »Regierungskriminalität« bei der Staatsanwaltschaft beim Kammergericht sehr unterstützt. Auch hatte sie mehrfach öffentlich
erklärt, die Tötungen durch Mauerschützen für strafbares Unrecht zu halten.
169 Böckenförde selbst gab dies auch unumwunden zu, vgl. Senatsbeschluss, aaO, 19.
170 Senatsbeschluss vom 27. Januar 1994 (1 BvR 1693/92), BVerfGE 89, 359. Zwar lehnten
auch die Beschwerdeführer Herzog als befangen ab, die Formulierung Herzogs in seiner
dienstlichen Äußerung an den Senat, er mache »gemäß § 19 Abs. 3 BVerfGG Mitteilung«,
ist aber als Selbstablehnung im Sinne einer Prüfungsbitte zu verstehen.
171 Vgl. Senatsbeschluss, aaO, 363.
172 Ebenso wie seine frühere Regierungstätigkeit, die bereits in dem ihn betreffenden vorangegangenen Befangenheitsbeschluss thematisiert wurde.
173 Vgl. auch die dienstliche Erklärung Herzogs im Senatsbeschluss, aaO, 360 f.
174 Senatsbeschluss vom 12. Oktober 1994 (2 BvR 1851, 1853, 1875/94), BVerfGE 91, 226;
nahezu identisch der Senatsbeschluss vom 16. Februar 1995 (2 BvR 1852/94), BVerfGE
92, 138.
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Gerade hierum aber ging es den Verfassungsbeschwerdeführern: Durfte die Bundesrepublik etwas bestrafen, was in der DDR nicht strafbar war? Durfte sie ihre
Wertungsaspekte posthum in die Rechtsordnung der DDR hineinlesen, um zu
einer Strafbarkeit auch schon nach DDR-Recht zu kommen? Der Senat folgte
Limbachs Selbstablehnung mit einer denkbar knappen Begründung: Deren vehementes Eintreten für die strafrechtliche Verfolgung der Befehlsgeber der Mauerschützen mache sie voreingenommen. Tatsächlich war so voreingenommen wie
Limbach diesem Thema gegenüber bislang wohl kein Richter jenseits der Gutachtenfälle einem Verfahrensgegenstand gegenüber gewesen. Skeptisch stimmt
jedoch, dass der Umstand der Selbstablehnung Limbachs eine größere Rolle
gespielt zu haben scheint. Sie hatte nicht bloß auf dem Dienstweg ihre Funktion
als Justizsenatorin in Erinnerung gerufen, sondern sie hatte ausdrücklich den
Senat »ersucht«, sie »von einer Teilnahme an der Entscheidung … zu entbinden«.175 Darum aber kann es eigentlich nicht gehen, weil wegen der Garantie des
gesetzlichen Richters auch kein Richter das Recht hat, sich selbst aus dem Verfahren auszukoppeln. Dass es stets einer eigenständigen und ihrerseits unvoreingenommenen Prüfung bedarf, machte denn auch der dritte Limbach-Beschluss176
deutlich: In ihm ging es lediglich um die Kostenfestsetzung zu Gunsten einer
Pflichtverteidigerin eines früheren Angeklagten in den Mauerschützen-Prozessen, die zudem in anderer Sache Strafanzeige gegen Limbach gestellt hatte. Limbach lehnte sich erneut ab, zum einen, weil es wiederum um die Mauerschützen
ginge, zum anderen wegen der Strafanzeige. Nein, entschied der Senat: Weder der
Richter durch die Selbstablehnung noch die Beteiligten durch Strafanzeigen
haben es in der Hand, die Richterbank zu manipulieren. Limbach blieb an der Entscheidung beteiligt, weil nach richtiger Ansicht des Senats die Kostenfestsetzung
für die Verteidigerin etwas anderes war als die Strafbarkeit von Mauerschützen
und eine Strafanzeige keine Voreingenommenheit auszulösen vermag, um die
Richter nicht zu Spielbällen der Beteiligten zu machen. Das war eine im Sinne des
Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gelungene
Abrundung.
Jedoch verlor die Entwicklung der Befangenheitsdogmatik durch das Gericht
erkennbar an Verve: Viele Konstellationen waren bereits judiziert, nun folgten
eher kurze Einzelentscheidungen177 und Detailveränderungen. So entsprach 1997
der Erste Senat dem Selbstablehnungsantrag des Richters Steiner im Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen die bayerische Erlaubnispflicht für Schwangerschaftsabbrüche für Ärzte.178 Steiner hatte im Normenkontrollverfahren vier
175 Vgl. die Senatsbeschlüsse, aaO, 227 bzw. 138.
176 Kammerbeschluss vom 24. April 1996 (2 BvR 1639/94), NJW 1996, 2022.
177 Vgl. den Senatsbeschluss vom 12. März 1996 (1 BvR 609, 692/90), BVerfGE 94, 241
(256 f.), der die Richterin Jaeger nicht für ausgeschlossen hielt, obgleich sie vor ihrer
Berufung ans BVerfG eine Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes zu dem Verfahren mit unterzeichnet hatte. Er ist dem Franßen-Beschluss vom 23. November 1988 (2
BvR 1619, 1628/83), BVerfGE 79, 127 (140 f.), der die Mitwirkung an gerichtlichen Stellungnahmen betraf, sehr ähnlich.
178 Senatsbeschluss vom 5. Februar 1997 (1 BvR 2306, 2314/96), BVerfGE 95, 189.
51
Jahre zuvor die Bayerische Staatsregierung vertreten.179 Das Gericht vermochte
sich weiter von der früheren Vermischung von § 18 und § 19 zu lösen: Die früher
nahe gelegene Prüfung von § 18 Abs. 1 Nr. 2 unterblieb, stattdessen hob der Senat
darauf ab, dass das angegriffene Bayerische Gesetz eben den Zielen dienen sollte,
denen die bundesgesetzlichen Regelungen nach Ansicht von Steiner und seinem
früheren Mandanten, dem Freistaat Bayern, nicht entsprach. Es war eine Einzelfallentscheidung mit nachvollziehbarer Abwägung.
Das Gericht hatte in den Folgejahren insbesondere Anlass, seine Gutachten-
Rechtsprechung weiter zu differenzieren, so etwa im Beschluss zum Vizepräsidenten Papier aus dem Jahr 1998.180 Es ging um die Überleitung von DDR-Rentenanwartschaften in das bundesrepublikanische Sozialversicherungssystem. Die
Bundesregierung hatte ihn im Mai 1994 mit einem Gutachten zur verfassungsrechtlichen Bewertung der gültigen Gesetzeslage beauftragt – und zwar allem
Anschein nach ergebnisoffen. Papier hielt die Regelungen für verfassungskonform, vertrat diese Auffassung in der Folge auch in verschiedenen Fachpublikationen und wurde als Sachverständiger zu Anhörungen bezüglich Gesetzesänderungen geladen. Das Bundessozialgericht fand sich mit den Überleitungsfragen
konfrontiert und legte dem BVerfG einen Teil der Materie vor. Papier lehnte sich
selbst mit der schon aus den Beschlüssen zu Limbach und Steiner bekannten
Formulierung, er bitte den Senat darum, ihn gemäß § 19 Abs. 3 von einer Mitwirkung an der Entscheidung in dem Verfahren zu entbinden, ab. Der Senat folgte
ihm – und modifizierte damit seine Kirchhof-Rechtsprechung. Bei Kirchhof
führte zur Befangenheit, dass er ein Auftragsgutachten erteilt hatte und die Auftraggeber ihn ersichtlich wegen seiner zuvor bekannten Position damit betraut
hatten. Das war nun, bei Papier, anders. Das Gericht stützte die Ablehnung denn
auch auf die nachfolgende Arbeit als Sachverständiger in dem Bundestagsausschuss mit dem Hinweis, die zu ihr führende Einladung sei eine Reaktion auf das
Gutachten gewesen. Eine recht schmale Argumentation. Weil es unwahrscheinlich war, dass Papier als Sachverständiger eine andere Auffassung denn als Gutachter vertreten würde, stellte sich das eine lediglich als Folge des anderen dar,
ohne, dass etwa »Zusätzliches« hinzugetreten wäre. Vielleicht hatte das Gutachten für das Gericht doch einen höheren Stellenwert als es zugab. Oder es maß –
ähnlich wie wohl zuvor bei Limbach – der Selbstablehnung als solcher besonderes
179 Ähnlich wie in den Limbach-Entscheidungen klingt hier in der Formulierung, Steiner habe
den Senat darum »gebeten«, ihn von der Mitwirkung zu entbinden, Steiners Wille nicht
lediglich nach einer Prüfung, sondern einer Stattgabe der Selbstablehnung an. Gleichwohl
darf dies, wie gezeigt, allenfalls ein Anhaltspunkt sein.
180 Senatsbeschluss vom 26. Mai 1998 (1 BvL 11/94), BVerfGE 98, 134. Vgl. die Ablehnung
Papiers als Mitglied einer Kammer, die eine Verfassungsbeschwerde zum gleichen Themenkomplex nicht zur Entscheidung annahm im Beschluss der 1. Kammer vom 18. Januar
2001 (1 BvR 2216/96), NJW 2001, 1482. Das Gericht wies die Ablehnung sowohl aus
Fristgründen wie mangels hinreichender Darlegung der Ablehnungsgründe ab, was den
diskursiven Charakter der Befangenheitsprüfung stärkt.
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Gewicht bei,181 was im Hinblick auf die Garantie des gesetzlichen Richters vergleichbar bedenklich gewesen wäre. Jedenfalls aber bestätigten die Erwägungen
des Gerichts im Papier-Beschluss die Emanzipation der Befangenheitsprüfung
von den Rückausnahmen des § 18 Abs. 2 und 3: Denn gerade bei einem ergebnisoffenen Gutachten hätte ansonsten ein Rückgriff auf das Privileg wissenschaftlicher Arbeit nach § 18 Abs. 3 Nr. 2, der »lex Leibholz«, nahe gelegen. Im Übrigen
verwundert, dass der Senat über die Frage der Zulässigkeit des Befangenheitsantrags kein Wort verlor. Denn er hatte über einen konkreten Normenkontrollantrag eines Gerichts zu entscheiden – es gab mithin keine Beteiligten, auf die es ja
ankommt bei der Frage, ob sie Anlass haben, an der Unvoreingenommenheit des
Richters zu zweifeln.182 Da das Gericht früher Ablehnungen in konkreten Normenkontrollverfahren wohl für unzulässig hielt183, wäre jetzt jedenfalls der Hinweis angebracht gewesen, dass die Selbstablehnung eines Richters gleichwohl
möglich ist184 und insofern auf die Besorgnis eines idealisierten Beteiligten185
abzustellen ist.186
Indem sich das Gericht – dogmatisch konsequent – für die Prüfung der Befangenheit immer weiter vom Prüfprogramm des § 18 entfernte, wurden die Maßstäbe immer individueller – die Tendenz ging zur Einzelfallgerechtigkeit. Deutlich wird dies im ersten Beschluss zum Richter Jentsch aus dem Jahr 1998.187
Jentsch war von 1990 bis 1994 Justizminister des Freistaats Thüringen und
wandte sich in dieser Funktion ausdrücklich gegen die PDS. In Interviews verbreitete er seine Ansicht, die von dieser angestrebte Staats- und Gesellschaftsordnung führe zur Unterdrückung und Erniedrigung der Menschen, das wahre
Gesicht der PDS sei die SED und das System der DDR sei wie das der Nazis. 1993
und 1995-1997 verweigerte der Bundestag der PDS Zuschüsse zu dem ihr nahe
stehenden Verein »Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung«, wogegen die
PDS klagte. Jentsch war mittlerweile Richter im zuständigen Zweiten Senat. Die
181 Hierfür spricht der abschließende Hinweis im Senatsbeschluss, aaO, 139, »auch der Richter selbst schätzt die Wirkung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nachvollziehbar dahin
ein, dass Beteiligte seine Unbefangenheit in Zweifel ziehen.«
182 Wie der Senat selbst betont, vgl. Senatsbeschluss, aaO, 137.
183 Vgl. Senatsbeschluss vom 5. Oktober 1977 (2 BvL 10/75), BVerfGE 46, 34.
184 Vgl. zur Frage der Befangenheitsanträge im Normenkontrollverfahren Ferdinand Klein,
in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG-Kommentar, § 19 Rn. 10 und Lars
Brocker, Ausschluss und Ablehnung von Richtern des Bundesverfassungsgerichts, 107 ff.
185 Max J. Stadler, Die richterliche Neutralität in den Verfahren nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz, nennt auf Seite 51 das Vertrauen der Öffentlichkeit als Schutzgut, aufgrund
dessen auch im konkreten Normenkontrollverfahren Selbstablehnungsanträge möglich
sein sollten. Der Gedanke ist im Ergebnis richtig, systematisch wird das Vertrauen der
Öffentlichkeit im Sinne einer Allgemeinheit jedoch eher durch § 18 geschützt, während
§ 19 durchaus eines jedenfalls virtuellen Beteiligten bedarf.
186 Problematisch bleibt, dass im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle lediglich die
Antragsteller und der Richter das Recht zur Ablehnung haben, es aber keine Antragsgegner
gibt, die ihrerseits etwaige Befangenheit rügen könnten. Hierzu instruktiv und mit
Lösungsvorschlägen Elisabeth von Szczepanski, JZ 2000, 486 (489 ff.) und passim.
187 Senatsbeschluss vom 15. September 1998 (2 BvE 2/93, 5/95, 1/96, 3/97), BVerfGE 99, 51.
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Ablehnung wegen Befangenheit durch die PDS verwarf das Gericht: Die Ausführungen Jentschs zur PDS beschränkten sich auf seine Phase als Thüringer Justizminister, in der er am Wettstreit politischer Auffassungen teilgenommen habe und
die zudem schon einige Zeit zurückliege. Die Kundgabe politischer Äußerungen
aus der Zeit vor der Berufung zum Bundesverfassungsgericht rechtfertige eine
Ablehnung jedoch grundsätzlich nicht, zumal Jentsch jetzt Richter, früher aber
Minister gewesen sei. Eine Begründung, die erstaunt: Bislang stand außer Frage,
dass auch das Handeln vor der Berufung zum Bundesverfassungsrichter uneingeschränkt berücksichtigt werden konnte – insbesondere bei Limbach. Zudem
begab sich das Gericht in Widerspruch jedenfalls zur Tendenz seines Herzog-
Beschlusses188–: Gründe, warum Jentsch eine vergleichbare Verbundenheit zu
seinem ehemaligen Regierungshandeln nicht unterstellt wurde, nannte das
Gericht jedoch nicht.189 So nachvollziehbar es ist, dass Bundesverfassungsrichter
Erfahrung in nichtrichterlichen Positionen gewonnen haben sollen, daher politisch und auch parteipolitisch geprägt sein mögen und ihnen dies nicht per se zum
Befangenheitsvorwurf gereichen darf:190 Es mochte auch einen besonnenen
Beteiligten skeptisch stimmen, ob Jentsch, der die PDS vehement als totalitäre
Verfassungsfeindin bezeichnete, zu einer unvoreingenommenen Entscheidung
über deren Teilhabe an der indirekten Parteienfinanzierung des liberalen Rechtsstaats entscheiden konnte. Zudem erstaunen die Brüche mit den früheren Argumentationen.
Der Richter Kirchhof war ein weiteres Mal mit seiner früheren Gutachtertätigkeit konfrontiert.191 1981 hatte er ein Auftragsgutachten für die Landesregierung
von Baden-Württemberg zum Länderfinanzausgleich erstellt und diese dann vor
dem Bundesverfassungsgericht vertreten. Die Ergebnisse des Gutachtens sind
veröffentlicht worden, Kirchhofs Nähe zu den Geberländern im Finanzausgleich
wurde in Fachkreisen allgemein bekannt. 1999 dann klagte das Baden-Württemberg erneut vor dem BVerfG gegen den Finanzausgleich und bezog sich auch auf
seine Argumentationen. Kirchhof war nicht nur Richter des erkennenden Senats,
er war auch Berichterstatter für das Verfahren.192 Ausweislich der Formulierung
188 Im Falle des früheren Kultusministers Herzog war der Umstand Befangenheit begründend,
dass ein für das Land Baden-Württemberg negativer Ausgang des verfassungsgerichtlichen Verfahrens das Land Geld kosten würde. Da Herzog zum Zeitpunkt des Verfahrens
der Landesregierung nicht mehr angehörte, hat also schon die Vermutung nachläufiger
Loyalität zum ehemaligen Kabinett ausgereicht.
189 Allein der Umstand, dass es sich im Falle Herzogs um finanzielle Verpflichtungen handelte, es bei Jentsch aber »nur« um politische Verbindung hätte gehen können, dürfte kaum
ausreichen.
190 Zur daraus resultierenden, im Grundsatz richtigen Differenzierung zwischen Äußerungen
vor und nach der Berufung zum Richter vgl. Heusch, in: Umbach/Clemens/Dollinger, aaO,
§ 19 Rn. 17.
191 Senatsbeschluss vom 6. Juli 1999 (2 BvF 2, 3/98, 1, 2/99), BVerfGE 101, 46.
192 Vgl. Rolf Lamprecht, NJW 1999, 2791 (2792).
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seines Selbstablehnungsantrags193 hielt er sich nicht für befangen, wollte aber
Klarheit wegen öffentlich vorgetragener Bedenken.194 Der Senat lehnte den
Antrag ab – und musste für die Begründung abermals seine bisherige Gutachten-
Rechtsprechung umwerfen. Denn während im ersten Kirchhof-Beschluss es
gerade das Auftragsgutachten war, das die Befangenheit auslöste, und im Papier-
Beschluss ein ergebnisoffenes Gutachten aufgrund seiner Folgewirkungen die
Befangenheit begründete, lag hier beides vor: Kirchhof hatte für das Land Baden-
Württemberg ein Auftragsgutachten erstellt, in dessen Folge er das Land sogar
vor dem BVerfG vertrat und dessen Nähe zur Position der Geberländer im Finanzausgleich eindeutig war. Überdies hatte der Steiner-Beschluss die frühere Tätigkeit als Prozessbevollmächtigter als Befangenheitsgrund dann hinreichen lassen,
wenn die Rechtsfragen von früher für das aktuelle Verfahren relevant sind. Der
Gehalt aller drei Beschlüsse – Kirchhof, Steiner, Papier – sprach also dafür,
Kirchhof auch hier für befangen zu halten. Gleichwohl entschied das Gericht
anders. Zum einen fehlte ihm die »zeitliche und sachliche Verklammerung«195
Zum anderen stellte das Gericht fest, die Klage Baden-Württembergs sei nicht auf
Kirchhofs Initiative angestrengt worden.196 Eine kuriose Argumentation. Der
sachliche Zusammenhang erschloss sich schon daraus, dass die Landesregierung
Bezug genommen hatte auf Kirchhofs Schriften. Die im ersten Kirchhof-
Beschluss zum Wasserpfennig kreierte Gewährsfunktion hätte das Gericht auch
hier erkennen können, setzte sich damit aber geradezu willkürlich nicht mehr auseinander. Und das Initiativargument wirkt doch sehr bemüht: In keinem Fall sind
es schließlich die Gutachter, die den Anstoß für Klagen geben, sie übernehmen
vielmehr Dienstleistungen für die Betroffenen. Gewichtig ist wohl allein das Zeitargument: Es war durchaus eine lange Zeit vergangen zwischen Kirchhofs Tätigkeit und dem Verfahren. Im Sinne der Transparenz und Nachvollziehbarkeit hätte
sich das Gericht auf diesen Aspekt beschränken sollen – auch um, wenn denn
keine Befangenheit vorgelegen haben mag, einen nachvollziehbaren Anhaltspunkt für weitere Verfahren zu geben. Stattdessen brachte es durch die offen
gebliebene Frage zum Maß der inhaltlichen Verklammerung, das Initiativargument und schließlich durch einen unnötigen und wenig verständlichen Satz zu
193 Vgl. die deutlichen Hinweise auf den Zeitablauf und die öffentlichen Bedenken als Motivation des Antrags in seiner Stellungnahme im Senatsbeschluss, aaO, 48.
194 Überdies brachten die »Nehmerländer« Bremen, Niedersachen und Schleswig-Holstein
einen eigenen Normenkontrollantrag ein, wohl in der Hoffnung, nach Verbindung der
Sachen zu einem Verfahren Kirchhof wegen Befangenheit ablehnen zu können – instruktiv
zum Gang des Verfahrens Elisabeth von Szczepanski, JZ 2000, 486 (487 f.).
195 Senatsbeschluss, aaO, 52.
196 Besonders deutlich im Senatsbeschluss, aaO, 52 f.: Kirchhof habe die Landesregierung
nicht beeinflusst, das Normenkontrollverfahren anzustrengen.
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§ 18 Abs. 3 Nr. 2197 weitere Unklarheit in die Befangenheitsdogmatik. Bemerkenswert ist zudem die Formulierung des Beschlusstenors: Auf Kirchhofs Selbstablehnung antwortet der Senat damit, der Sachverhalt begründe nicht die Besorgnis der Befangenheit.198 Der – ebenfalls gestellte – Ablehnungantrag von Beteiligten wurde jedoch ausdrücklich »zurückgewiesen«. Hätte sich der Senat strikt
an den Wortlaut des § 19 Abs. 3 gehalten, hätte er auch die Selbstablehnung
zurückweisen müssen, jedenfalls aber hätte eine in beiden Fällen gleiche Tenorierung nahe gelegen. Die Unterschiedlichkeit ist ein Zeichen für die Tendenz,
Selbstablehnungen anders zu behandeln als Ablehnungen von Beteiligten199 –
obwohl das Gesetz für die Selbstablehnung auf das normale Verfahren verweist.
Die Tendenz zur hinsichtlich ihrer Maßstäbe schwankungsanfälligen Einzelfalljudikatur setzte sich in zwei Entscheidungen zu beruflicher Verbundenheit –
auch noch in der nahezu gleichen Konstellation – fort, zunächst 1999. Es bestanden Bedenken gegen die Gültigkeit der hessischen Landtagswahl vom Februar
1999: Die CDU hatte einen Teil ihres Wahlkampfbudgets mit Auslandsvermögen
bestritten, das nicht entsprechend des Parteienfinanzierungsrechts deklariert war.
Als dies bekannt wurde, nahm das so genannte Wahlprüfungsgericht200 beim Hessischen Landtag ein bereits abgeschlossenes Wahlprüfungsverfahren wieder auf.
Die Hessische Landesregierung wollte dem Ergebnis zuvorkommen und erhob
einen Normenkontrollantrag mit dem Ziel, einige die Wahlprüfung betreffende
Gesetze und sogar Teile der hessischen Verfassung für bundesverfassungswidrig
zu erklären. Im für Normenkontrollanträge zuständigen Zweiten Senat saß auch
der Richter Jentsch, der schon in dem Verfahren um die Finanzierung der PDSnahen Stiftung erfolglos abgelehnt worden war. Er war vor seiner Ernennung zum
Bundesverfassungsrichter auch Sozius-Rechtsanwalt in Wiesbaden und ließ während seines Amtes den Rechtsanwaltsberuf zwar ruhen, war an grundlegenden
Entscheidung wie der Aufnahme neuer Partner aber gleichwohl beteiligt. In die
von ihm gegründete Kanzlei trat im Mai 1999 Manfred Kanther ein, der frühere
Generalsekretär und Landesvorsitzende der Partei. Dies mache Jentsch nicht
befangen, befand der Senat.201 In der Begründung wich er auf einen Aspekt aus,
197 Laut Senatsbeschluss, aaO, 53, führen andere wissenschaftliche Meinungen als die des
betroffenen Richters aber »für sich allein weder zum Ausschluss eines Richters … noch
zur Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit« – das aber hatte auch niemand behauptet und es wäre auch kaum nachzuvollziehen, warum andere Auffassungen einen Richter
befangen machen oder gar ausschließen können sollen.
198 »Der von dem Richter Kirchhof mit dienstlicher Erklärung vom 22. Juni 1999 angezeigte
Sachverhalt begründet nicht die Besorgnis der Befangenheit.«, Senatsbeschluss, aaO, 47.
199 Der Eindruck verstärkt sich noch durch die die Begründung einleitenden Worte des
Gerichts, die Mitteilung von Kirchhof habe es »geboten erscheinen« lassen, »einen
Beschluss des Senats gemäß § 19 Abs. 3 i.V.m. § 19 Abs. 1 BVerfGG herbeizuführen«,
Senatsbeschluss, aaO, 50.
200 Die Einordnung als »Gericht« war einer der in diesem Verfahren strittigen Punkte – das
fünfköpfige Gremium bestand aus dem Präsidenten des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs, der Präsidentin des Oberlandesgerichts Frankfurt/Main und drei vom Landtag
gewählten Abgeordneten.
201 Mit 4:2 Stimmen: Senatsbeschluss vom 12. Juli 2000 (2 BvF 1/00), BVerfGE 102, 192.
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der kaum am schwersten gewogen haben dürfte:202 Das wirtschaftliche Interesse
Jentschs. Folge des laufenden Verfahrens könne nach Ansicht des Gerichts die
Rehabilitierung203 Kanthers sein. Dass hierdurch die gemeinsame Anwaltskanzlei
an Wert gewinne, reiche jedoch nicht aus, Jentsch für voreingenommen zu halten.
Es liege nicht einmal das berufliche Interesse des § 18 Abs. 2 vor – und selbst dieses sei schließlich privilegiert. Außerdem gehe es gar nicht um Kanther, sondern
das Wahlprüfungsgericht. Eine in dreierlei Hinsicht missliche Argumentation.
Erstens griff das Gericht – erneut – auf die Sperrwirkung des § 18 Abs. 2 zurück.
Zweitens widersprach sich das Gericht: Wenn es ihm um das Wahlprüfungsgericht und nicht um Kanther ging, hätte die Frage nach dem wirtschaftlichen Wert
der Rechtsanwaltskanzlei nach dem Ausgang des Verfahrens irrelevant sein müssen. Und drittens ging es bei der Frage der Befangenheit Jentschs ohnehin nicht
in erster Linie um den wirtschaftlichen Wert der Kanzlei, sondern um die Unvoreingenommenheit in einem Verfahren, das es gar nicht gegeben hätte, wenn neben
anderen nicht auch Kanther in den Verdacht unlauterer Machenschaften gekommen wäre. Was wiegt schwerer: Ein nur potenzieller und kaum zu beziffernder
Vermögenszuwachs oder der Umstand, in einem Verfahren mittelbar auch über
die gesellschaftliche und berufliche Position eines zukünftigen engen Kollegen
zu entscheiden? In früheren Beschlüssen hatte das Gericht zur Vermeidung von
Wertungswidersprüchen im Rahmen der Befangenheitsprüfung auf die Ausschlussregelungen zurückgegriffen – allerdings stets nur zu Gunsten der Richter,
indem das Gericht die Rückausnahmen der § 18 Abs. 2 und 3 in den Blick nahm.
Hier wäre – um tatsächlich Wertungswidersprüche zu vermeiden und nicht, um
§ 19 mit § 18 zu verwechseln – eine gedankliche Anleihe bei § 18 Abs. 1 sinnvoll
gewesen. Ein Richter ist kraft Gesetzes ausgeschlossen, wenn ein Verfahrensbeteiligter sein Neffe ist. Jedenfalls nicht von vornherein abwegig erscheint es, die
strukturelle Voreingenommenheit diesem gegenüber mit einer Konstellation zu
vergleichen, in der der Richter über jemanden zu befinden hat, mit dem er partnerschaftlich eine Anwaltskanzlei zu betreiben beabsichtigt.
Noch deutlicher als in vorangegangenen Entscheidungen zeigte sich in der Initialbemerkung der Begründung ein Missverständnis des Gerichts von der Selbstablehnung: »Die mitgeteilten Umstände« gäben »zu einer Senatsentscheidung
gemäß § 19 Abs. 3 in Verbindung mit § 19 Abs. 1 BVerfGG … Anlass.«204 Das
ist ein Duktus, der eher einer Entscheidung von Amts wegen entspricht. Denn
genau genommen gibt nicht die Kenntnis des Senats von Umständen, sondern die
Selbstablehnung Anlass zur Entscheidung. Dem Senat ist keine sprachliche
Ungenauigkeit zu unterstellen. Die Formulierung deutet vielmehr darauf hin, dass
er die Selbstablehnungsanträge tendenziell als objektive Überprüfungsverfahren
verstand.
202 Kritik bei Ernst Benda, Befangenes zur Befangenheit, NJW 2000, 3620 (3621).
203 Vgl. Senatsbeschluss, aaO, 196.
204 Senatsbeschluss, aaO, 194.
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Drei Jahre später war der Senat wieder mit der Konstellation Jentsch/Kanther
befasst.205 Diesmal ging es direkt darum, dass der Hessische CDU-Landesverband
entgegen den Vorschriften des Parteiengesetzes Geld ins Ausland transferiert und
teilweise als »Vermächtnisse jüdischer Mitbürger« wieder zurückgeholt hatte. Es
lag nahe, dass Kanther als früherer Generalsekretär daran beteiligt war. Der Bundestagspräsident hatte daraufhin der CDU Teile der staatlichen Parteienfinanzierung verweigert, wogegen die CDU durch alle Instanzen klagte, bis zum Bundesverfassungsgericht. Im zuständigen Zweiten Senat saß weiterhin Jentsch, der
zukünftige Kollege Kanthers. Jetzt gab der Senat der Selbstablehnung statt. Und
erklärte wortreich den Unterschied zum vorangegangenen Jentsch-Beschluss:
Das damalige Verfahren um das Wahlprüfungsgericht habe zwar möglicherweise
Kanther rehabilitieren und damit den Wert der Anwaltskanzlei steigern können,
das jetzige könne aber ein Vorverfahren sein für die mögliche finanzielle Haftung
Kanthers, in deren Strudel die von Jentsch begründete Anwaltskanzlei gezogen
werden könne. Die Differenz zwischen den beiden Interessenlagen ist so schmal,
dass die Argumentation kaum überzeugt. Im Verfahren zum Wahlprüfungsgericht
hatte eine potenzielle Wertsteigerung der Kanzlei keine Befangenheit begründet.
Im Falle der CDU-Finanztransaktionen reichte hingegen das finanzielle Verlustrisiko Jentschs206 aus. Es ist widersprüchlich, Gewinnchancen nicht, Verlustrisiken jedoch durchaus als Befangenheit begründend zu werten. Interessanter wäre
gewesen, den Grad der Mittelbarkeit abzumessen: Im Verfahren um das Wahlprüfungsgericht war Kanther nur mittelbar betroffen, wenn auch sein Verhalten im
Fokus der Untersuchungen stand.207 Beim Streit um den Rechenschaftsbericht der
CDU war das schon ein wenig anders. Immerhin hätte die CDU ihn unter Umständen in Regress nehmen können. Dennoch spielte die Frage höchstens am Rande
eine Rolle – und die Frage der persönlichen Verbundenheit aufgrund der gemeinsam betriebenen Kanzlei gar nicht, obwohl es das Nächstliegende gewesen wäre.
Die Frage der Befangenheit nach Gutachtertätigkeiten beschäftigte das Gericht
weiterhin, die letzten beiden Beschlüsse dazu betrafen den zunächst Vize-, dann
Präsidenten des Gerichts Papier. Im Jahr 2000 legten private Spielbanken Verfassungsbeschwerde ein gegen ein Gesetz Baden-Württembergs, das ihnen die
Betriebserlaubnis entziehen sollte. Sie stützten sich dabei auf ein gut vier Jahre
altes, von Papier erstelltes Rechtsgutachten, das auch publiziert worden ist.
Papier lehnte sich selbst mit der aus den Limbach-Beschlüssen bekannten Formulierung ab.208 Das Gutachten sei zwar ergebnisoffen erteilt worden, die Nähe
205 Senatsbeschluss vom 18. Juni 2003 (2 BvR 383/03), BVerfGE 108, 122.
206 Da mögliche Ansprüche gegen Kanther nicht von der Bundestagsverwaltung, sondern im
Wege des Regresses nur von der CDU hätten geltend gemacht werden können, hätte es im
für die Kanzlei schlimmsten Falle gehießen, dass die Partei Kanthers Anteil an der
Anwaltsgesellschaft gepfändet und sich bei der Auseinandersetzung hätte ausbezahlen lassen, wobei nicht ausgeschlossen gewesen wäre, dass Jentsch hätte Geld nachschießen müssen.
207 Das Gericht hat dies im ersten Kanther/Jentsch-Beschluss zwar auch gesehen, sich im
zweiten aber gleichwohl auf die ökonomische Seite kapriziert.
208 Senatsbeschluss vom 10. Mai 2000 (1 BvR 539/96), BVerfGE 102, 122.
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seiner rechtswissenschaftlichen Position zu der Absicht der Spielbanken sei
jedoch offensichtlich. Er halte es daher für nahe liegend, dass »von Dritter Seite
seine Unbefangenheit angezweifelt werde.«209 Der Senat entsprach seinem als
Bitte formulierten Selbstablehnungsantrag. Er war der Auffassung, so ergebnisoffen sei der Auftrag wohl nicht erteilt worden, denn die Spielbanken hätten früheren Publikationen Papiers entnehmen können, dass er in der entscheidenden
Frage der staatlichen Monopole auf ihrer Seite gestanden habe. Und so seien sie
durch Papiers Gutachten unterstützt worden. Das ist zwar richtig. Den Kern der
Befangenheitsbegründung nennt der Senat aber nicht, wohl aus (falscher) Rücksichtnahme gegenüber dem Kollegen Papier, der zugleich sein Vorsitzender war.
Ob sich die Spielbanken über Papiers Gutachten gefreut haben, darum ging es gar
nicht. Sondern darum, ob ein Beteiligter ernsthafte Zweifel daran hegen durfte,
dass Papier der Verfassungsbeschwerde unbefangen werde gegenüber treten können. Das war wohl auch so. Aber der Senat drückte es nicht aus. Ebenso wenig
erläuterte er den Unterschied zum Kirchhof-Beschluss in Sachen Finanzausgleich. Beide unterschieden sich letztlich nur durch den Zeitablauf: Kirchhof
hatte sein Gutachten 18 Jahre zuvor erstattet, Papiers lag nur gut vier Jahre
zurück. War es das? Vermindert oder gar erledigt sich Befangenheit durch Zeitablauf? Welche Grenzen sind zu ziehen, um kalkulatorische Rechtssicherheit zu
ermöglichen?
Immerhin konnte es etwas später einen älteren Beschluss quasi wiederholen:
Es ging erneut um Rentenüberleitungen,210 wie schon einmal im Falle Papier. Die
wiederum beanstandete neue Regelung war weniger streng als die alte, und
Papier hielt ja schon die alte für ausreichend: Erst recht befangen, entschied das
Gericht auf seine Selbstablehnung hin.
Die zeitlich letzte Entscheidung betraf den Richter Di Fabio.211 1998 hatte er
als Verfahrensbevollmächtigter eine Verfassungsbeschwerde gegen die Änderung
des früheren Stromeinspeisungsgesetzes, in dem unter anderem die Vergütung
ökologisch vorteilhaften Stroms geregelt war, vertreten. Im gleichen Jahr hatten
einige Landesregierungen ein Normenkontrollverfahren gegen dieses und andere
Gesetzesvorhaben angestrengt. Sechs Jahre später kam es zur Verhandlung. Di
Fabio war nun Richter – und erklärte sich »gemäß § 19, § 18 BVerfGG für befangen«. Der Senat stellte keinen Ausschluss nach § 18 fest – die Teilidentität der
Gegenstände reichte ihm nicht, um von »derselben Sache« zu sprechen. Aber er
erklärte Di Fabio für befangen, gerade wegen der Teilidentität. Di Fabio könne
sich dem Gesamtverfahren nicht mehr offen und unbefangen widmen, stellte das
Gericht fest. Man hätte sich noch ein, zwei erläuternde Seiten dazu gewünscht,
vor allem weil das Gericht vom Inhalt des v.Schlabrendorff-Beschlusses abwich212
209 Senatsbeschluss, aaO, 124.
210 Senatsbeschluss vom 17. September 2003 (1 BvL 3/98, 9/02, 2/03), BVerfGE 108, 279.
211 Senatsbeschluss vom 19. Januar 2004 (2 BvF 1/98), BVerfGE 109, 130.
212 Eine »Teilidentität« lag damals insofern vor, als sich es um die selben Äußerungen des
selben Betroffenen ging, die v.Schlabrendorff einmal als Anwalt zu sanktionieren und einmal als Richter zu judizieren hatte.
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und sich in den zuletzt vermehrt behandelten Gutachterfällen die Frage der Relevanz von Zeitablauf gestellt hat: Vier Jahre (Papier) waren es wohl nicht, sechs
Jahre (Di Fabio) auch nicht – 18 aber wohl schon (Kirchhof). Aber vielleicht
wollte das Gericht auch gar keine Maßstäbe entwickeln, an die es sich dann später
gebunden fühlen müsste. Es hätte nicht gepasst zu einer Befangenheitsjudikatur,
die sich einer Strukturierung entzieht.
3. Zusammenführung
In der Gesamtschau ergibt sich ein höchst divergentes Bild der bundesverfassungsgerichtlichen Befangenheitsjudikatur. Die Unvereinbarkeitsentscheidungen, die sich in ihrem ganz überwiegenden Teil auf die Befangenheit nach § 19
stützen, auch wenn sie sich materiell in vielerlei Hinsicht eher mit dem automatischen Ausschluss nach § 18 beschäftigen, sind hochgradig einzelfallbezogen –
case law, ohne dass sich jedoch wie im angelsächsischem Rechtskreis aus einer
Entscheidung eine Vorbildfunktion für eine ähnlich gelagerte Entscheidung ergeben hätte. Es lassen sich gleichwohl einige Befunde destillieren (unter a). Soweit
dies nicht möglich ist, sind Perspektiven für zukünftige Entscheidungen zu formulieren (unter b). Einige wenige offene Probleme ließen sich durch Änderungen
des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht lösen (unter c).
a) Befunde
Im Grundsatz gilt vor dem Bundesverfassungsgericht wie vor allen anderen Gerichten, dass Urteile unter Mitwirkung befangener Richter gegen die Garantie des
gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen und also verfassungswidrig sind. Die Besorgnis der Befangenheit kann auch dann vorliegen und
zu erfolgreichen Ablehnungen führen, wenn die Richter objektiv nicht befangen
sind, sondern ein Beteiligter lediglich begründete subjektive Zweifel an der Unbefangenheit haben darf.213 Die Besorgnis erschließt sich somit erst aus der Perspektive des Ablehnenden.214 Wenngleich das Bundesverfassungsgericht sich immer wieder bemühte, einen eigenständigen verfassungsprozessualen Befangenheitsbegriff zu kreieren und zu begründen, hat es eben diesen Kerngedanken des
Befangenheitsrechts doch immer wieder aufgegriffen: Es kommt mithin nicht
darauf an, ob der Richter tatsächlich »parteilich« oder »befangen« ist oder ob er
sich selbst für befangen hält. Entscheidend ist ausschließlich, ob ein am Verfahren
213 Rolf Lamprecht, Karlsruher Befangenheits-Logik, NJW 1999, 2791 (2792).
214 Rolf Lamprecht, NJW 1999, 2791 (2792); vgl. auch Heusch, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Auflage, Heidelberg 2005, § 19 Rn. 7.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Bundesverfassungsrichter müssen fachlich hervorragend geeignet sein und vor ihrer Wahl durch profilierte Meinungsäußerungen auf sich aufmerksam gemacht haben – was folgt hieraus für die unvoreingenommene Beurteilung der ihnen vorgelegten Fragen? Der Leser gewinnt einen kritischen Überblick über die Chronologie der bundesverfassungsrichterlichen Befangenheit und Ausgeschlossenheit.
Die Untersuchung entwickelt aus etwa 50 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts selbst und unter Anlehnung an den Topos der Verfassungsorgantreue Lösungsvorschläge für problematische Konstellationen. Sie trägt zur Meinungsbildung darüber bei, wann von einer unvoreingenommenen Entscheidungsfindung ausgegangen werden kann und macht das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme der Verfassungsorgane für diese Fragen nutzbar.