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A. Zwischen Profil und Zurückhaltung
Bundesverfassungsrichter16 stehen nicht in gleichem Maße wie der Bundespräsident, die Bundesregierung oder die Führungsebenen der Parlamentsfraktionen im
Mittelpunkt öffentlicher Wahrnehmung.17 Indes prägen sie das verfassungsrechtliche Gefüge der Bundesrepublik: Die von ihnen verbindlich definierten Freiheiten und Grenzen bestimmen maßgeblich den Handlungs- und Entscheidungsspielraum von Exekutive, Legislative und Judikative. Aufgrund dieser aus dem
gewöhnlichen Machtumfang der Dritten Gewalt herausragenden Stellung rückt
die Frage, wie ein Verfassungsrichter entscheiden wird, aus dem Blickfeld ausschließlich der Beteiligten hinaus in das der Öffentlichkeit. Dies umso mehr,
wenn der Richter Berichterstatter und also für die Beratung über das Verfahren
Feder führend zuständig ist. Das Bundesverfassungsgericht genießt in der Bevölkerung ein hohes Ansehen und viel Vertrauen.18 Besondere Aufmerksamkeit verdient deshalb die Frage, ob sich ein Richter unvoreingenommen dem Verfahren
widmet, also ein von freier Rechtsfindung geprägter Entscheidungsprozess zu erwarten oder aber zu befürchten ist, dass das Ergebnis schon von vornherein fest
steht. Wenngleich sich diese Frage bei Richtern aller Gerichtszweige stellt, ist ihr
im Falle der Bundesverfassungsrichter eine spezifische Spannungsstruktur immanent, die die Sache heikel sein lässt: Kandidaten für das Amt des Bundesverfassungsrichters müssen nicht nur bestens juristisch qualifiziert und in mindestens
einem Rechtsgebiet ausgewiesene Experten sein. Von ihnen wird überdies ein
markantes rechtspolitisches, am besten verfassungsrechtspolitisches Profil erwartet. Profil aber erreicht man nicht allein durch Sachkenntnis, so hervorragend
diese im Einzelfall auch sein mag, sondern durch prononcierte Stellungnahmen,
erfolgten sie auch im Rahmen wissenschaftlicher Tätigkeit. Ist der Richter jedoch
16 Hier und im Weiteren wird lediglich die grammatikalisch maskuline Form verwendet; dies
dient allein der besseren Lesbarkeit und intendiert nicht den Ausschluss von Frauen, die
ebensogut (allein) hätten genannt werden können. Die Darstellung orientiert sich zudem
an der Diktion des für die Untersuchung maßgeblichen Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG).
17 Gleichwohl werden sie zunehmend bekannter: Das Verfahren zur Auflösung des 15. Deutschen Bundestages aufgrund der vorsätzlich verlorenen Vertrauensabstimmung durch
Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde mit größter medialer Aufmerksamkeit begleitet,
in deren Rahmen auch die Richter des erkennenden Zweiten Senats in den Mittelpunkt der
Wahrnehmung rückten, vgl. exemplarisch Helmut Kerscher, »Rätselhafter Deutschland-
Achter« in der Süddeutschen Zeitung vom 8. August 2005, http://www.sueddeutsche.de/
deutschland/artikel/341/58283/ (zuletzt besucht am 27. Januar 2008) und Kurt Kister, »Ein
Verfassungsrichter ist nicht König Salomon« in der Süddeutschen Zeitung vom 26./27.
April 2008.
18 Vgl. Werner J. Patzelt, Warum verachten die Deutschen ihr Parlament und lieben ihr Verfassungsgericht? Ergebnisse einer vergleichenden demoskopischen Studie, in: ZParl,
2005, 517 ff.
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berufen, darf – und muss! – von ihm unvoreingenommene Entscheidungsfindung
in Materien von eminenter politischer Bedeutung erwartet werden.19 Er wird mit
Erwartungshaltungen konfrontiert, die an Fachrichter nicht in vergleichbar öffentlichem Raum adressiert werden20, und rückt unter anderem deshalb in den
Sichtbereich von Medien und anderen Diskussionsveranstaltern, die ihm die
Bühne für vorschnelle Festlegungen bieten, ihm aber auch aus dem Interesse ihres
Metiers heraus möglichst eindeutige Aussagen zu entlocken trachten. Überdies
ist der bundesrepublikanische Staat so stark von Parteien geprägt, dass das Rekrutierungsreservoir nicht nur für exekutive und legislative, sondern auch für judikative Spitzenpositionen fast ausschließlich aus ihnen selbst oder ihrem unmittelbaren Umfeld entstammt. Es liegt dann nahe, die Kandidaten im politischen
Koordinatensystem einzuordnen. Vor der Wahl als Persönlichkeit mit prononciertem Profil erwünscht und nur so für die Wahl chancenhaft, nach der Wahl zur
amtsangemessenen Zurückhaltung aufgefordert: Ein Spagat.
Die Frage, in welchem Grade der jeweilige Bundesverfassungsrichter gegen-
über einem Verfahren voreingenommen ist, ist seit dem ersten Verfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht21 immer wieder gestellt worden und weiterhin höchst
aktuell.22 Hier treffen das Interesse an und das Recht der Beteiligten auf unvoreingenommene Streitentscheidung auf den Anspruch des Richters auf Meinungsfreiheit in der liberalen Demokratie in Wort und Schrift.23 Die rechtstechnischen
Topoi, mit denen der Konflikt geregelt wird, sind der Ausschluss und die Befangenheit des Richters. Beide wurzeln im Recht auf den gesetzlichen Richter, das
in Art. 101 Absatz 1 Satz 2 GG niedergelegt ist. Denn ein Richter, von dem nur
eine voreingenommene Entscheidung zu erwarten ist, darf in einem Rechtsstaat
nicht gesetzlicher Richter sein. Auch der Anspruch auf rechtliches Gehör ist tangiert – wenn schon nicht im rechtstechnischen Sinne, so doch durchaus inhaltlich:
Denn der voreingenommene Richter steht jedenfalls unter dem Verdacht, nicht
mehr zuhören zu wollen oder zu können.24 Es bedarf also eines unvoreingenommenen Richters nicht nur für die richtige Fallentscheidung, sondern auch für das
19 Auf diesen Zusammenhang wies bereits Max J. Stadler, Die richterliche Neutralität in den
Verfahren nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Regensburg 1977, 26 f. hin.
20 Walter Rudi Wand, Zum Begriff »Besorgnis der Befangenheit« in § 19 des Gesetzes über
das Bundesverfassungsgericht, in: Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat 1984,
Hrsg. von Bernd Rüthers und Klaus Stern, München 1994, 515 (523 f.) mit anschaulichem
Beispiel.
21 Im Folgenden BVerfG.
22 Siehe das Ausscheiden des Richter Brun-Otto Bryde aus dem Verfahren um die so genannten stillen Reserven bei Kapital bildenden Lebensversicherungen: Bryde hatte bereits vor
zehn Jahren die mangelnde Transparenz bei Lebensversicherungen als verfassungswidrig
gerügt und für mehrere Versicherte eine Musterbeschwerde erhoben, vgl. DER SPIEGEL
Nr. 31/2005 vom 1. August 2005, 156 f.
23 Vgl. Rudolf Wassermann, Zur Besorgnis der Befangenheit bei Richtern des Bundesverfassungsgerichts, in: Ein Richter, ein Bürger, ein Christ – Festschrift für Helmut Simon,
Baden-Baden 1987, 81.
24 Rolf Lamprecht, Befangenheit an sich – Über den Umgang mit einem prozessualen Grundrecht, NJW 1993, 2222.
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Vertrauen in die Rechtsprechung.25 Gerade den Rechtsstaat zu sichern, ist Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, weshalb die Frage nach der Voreingenommenheit von Bundesverfassungsrichtern von besonderer Brisanz ist. In jüngerer
Zeit sind dabei insbesondere Aussagen von Bundesverfassungsrichtern im Rahmen von Interviews zum NPD-Verbotsverfahren auf Kritik gestoßen.26
Diese Untersuchung will zur Klärung der Frage beitragen, welche Grenzen
Bundesverfassungsrichtern dabei gesetzt sind, sich außerhalb der richterlichen
Tätigkeit selbst zu Themen zu äußern, mit denen sie befasst sind oder einmal
befasst sein könnten. Sie geht dabei zweistufig vor: Zunächst widmet sie sich im
Abschnitt B. rechtshistorisch und -analytisch dem Umgang des BVerfG selbst mit
dieser Thematik. Der Aufbau folgt dabei dem Gedanken des Anwendungsvorrangs des einfachen Rechts – das Verfassungsprozessrecht bietet mit den Normen
zu Befangenheit und Ausschluss rechtliche Instrumente zur Annäherung an die
Grenzen bundesverfassungsrichterlicher Äußerungsfreiheit. Dieser Teil der
Untersuchung zeigt bereits auf der einfachrechtlichen Ebene des Verfassungsprozessrechts Änderungsbedarf bei Gesetzgebung und Rechtsprechung auf. Sodann
schließen sich im Abschnitt C. staatsorganisationsrechtliche Überlegungen an,
die insbesondere an die Figur der Verfassungsorgantreue anknüpfen und in die
Diskussion bislang noch keinen Einzug gehalten haben. Trotz der gegenüber dem
einfachen Verfassungsprozessrecht höheren Normenhierarchiestufe ist der staatsorganisationsrechtliche Aspekt erst nach diesem zu behandeln, was zunächst historisch zu erklären ist: Der entscheidende Topos der Verfassungsorgantreue ist
erst fünfundzwanzig Jahre nach den ersten Entscheidungen des BVerfG zu Ausschluss und Befangenheit entwickelt worden. Überdies schließt die hier vorgeschlagene Rechtsfolge eines Verstoßes gegen die Verfassungsorgantreue an die
einfachrechtliche Ausgestaltung der Grenzen bundesverfassungsrichterlicher
Äußerungsfreiheit durch Ausschluss und Befangenheit an, weshalb jene zunächst
auszuloten sind. Der Abschnitt D. beinhaltet abschließende Betrachtungen.
25 Vgl. Max J. Stadler, Die richterliche Neutralität in den Verfahren nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz, passim.
26 Vgl. Werner Hoppe, »An ihren Urteilen soll man die Gerichte messen, nicht an Interviews«, DVBl. 2005, 619 ff.
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References
Zusammenfassung
Bundesverfassungsrichter müssen fachlich hervorragend geeignet sein und vor ihrer Wahl durch profilierte Meinungsäußerungen auf sich aufmerksam gemacht haben – was folgt hieraus für die unvoreingenommene Beurteilung der ihnen vorgelegten Fragen? Der Leser gewinnt einen kritischen Überblick über die Chronologie der bundesverfassungsrichterlichen Befangenheit und Ausgeschlossenheit.
Die Untersuchung entwickelt aus etwa 50 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts selbst und unter Anlehnung an den Topos der Verfassungsorgantreue Lösungsvorschläge für problematische Konstellationen. Sie trägt zur Meinungsbildung darüber bei, wann von einer unvoreingenommenen Entscheidungsfindung ausgegangen werden kann und macht das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme der Verfassungsorgane für diese Fragen nutzbar.