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1.4. Die Hypothesen
Der Untersuchung werden folgende Hypothesen zugrunde gelegt:
Hypothese 1: Quantitative und qualitative Veränderungen des Engagements externer Akteure in Südosteuropa finden in Reaktion auf tatsächliche oder wahrgenommene nationale bzw. regionale Krisen statt.
Die Annahme geht davon aus, dass sich die europäischen multilateralen Organisationen nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Ost- und Südosteuropa nicht proaktiv (wie im Sinne der Regimekonkurrenz während des kalten
Krieges) für die Demokratisierung engagieren. Sie agieren vielmehr „reaktiv“, d.h.
erst, nachdem ein Bedrohungspotential für die westliche Gemeinschaft wahrgenommen wird. Mit jeder weiteren Krise bzw. Bedrohung kommt es – im Sinne einer
„sich selbst erfüllenden Verpflichtung“ – zu einem steigenden Niveau an Unterstützung durch die externen Akteure, das sich nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ausdrückt. Diese Verhaltensweise der externen Akteure wird hier als „Eskalations-Engagement-Syndrom“ bezeichnet.
Hypothese 2: Der Beitrag der externen Akteure zur Demokratisierung ist an das
Vorhandensein eines minimalen Niveaus staatlicher Kapazität zum Wandel gebunden.
Externe Akteure sind in unmittelbarer Weise auf die Kooperation und Zusammenarbeit mit den staatlichen Institutionen des Transformationslandes angewiesen.
Obwohl die europäischen Organisationen eine machtvolle Position in der Besetzung
von Themenfeldern und der Definition von Agenden besitzen, hängt die Normübernahme und Implementierung von Reformmaßnahmen von den Kapazitäten der staatlichen Administration ab.
Hypothese 3: Die Kapazitäten (u.a. innere Struktur und Organisationsweise) der
externen Akteure haben einen Einfluss auf die Anpassungsfähigkeit ihrer Unterstützung an die Probleme, die Ressourcen und den Unterstützungsbedarf des Transformationslandes.
Die Annahme geht davon aus, dass die externen mit den innenpolitischen Akteuren interagieren. Da es sich bei der Demokratisierung um einen Prozess handelt, auf
den die externen Akteure – ihrem eigenen Anspruch zufolge – positiv einzuwirken
versuchen, ist zu vermuten, dass das Ergebnis ihrer Handlungen auch von den eigenen Kapazitäten und ihrer Anpassungsfähigkeit beeinflusst wird.
1.5. Die Gliederung der Arbeit
Nach der Einleitung (Kapitel 1) wird im zweiten Kapitel der Forschungsansatz dieser Arbeit entwickelt. Dort werden zunächst die zentralen Begriffe Demokratisierung und Konsolidierung definiert (Kapitel 2.1). Danach werden die Forschungsansätze analysiert und diskutiert, die sich mit der Rolle externe Akteure für die Demokratisierung in postsozialistischen Transformationsländern beschäftigen (Kapitel
2.2). Dabei handelt es sich erstens um die innerhalb der Theorien der internationalen
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Beziehungen entwickelte Forschungsperspektive der „internationalen Sozialisierung“, zweitens um den sich aus der europäischen Integrationsforschung ergebenen
Ansatz der „Europäisierung“ und drittens um den aus der vergleichenden Transformationsforschung entstammenden Ansatz der „internationalen Dimension der Demokratisierung“. Am Ende des Theoriekapitels wird schließlich der eigene Forschungsansatz vorgestellt, der sich aus der kritischen Auseinandersetzung mit den
bestehenden Konzepten ergibt (Kapitel 2.3).
Das dritte Kapitel widmet sich der Analyse der regionalen und albanienspezifischen Rahmenbedingungen, in denen sich das Engagement der drei untersuchten
europäischen Organisationen im Untersuchungszeitraum bewegte. Der erste Teil des
Kapitels beschäftigt sich mit den zentralen Herausforderungen für die politische und
wirtschaftliche Transformation Südosteuropas und analysiert, mit welchen Strategien und Instrumenten die europäischen Organisationen auf diese reagierten (3.1).
Der zweite Teil des Kapitels setzt sich darüber hinaus mit den spezifischen Transformationsproblemen in Albanien auseinander und beleuchtet die innenpolitischen
Bedingungen für die Demokratisierung, die als Kontextfaktoren für das Handeln der
externen Akteure einbezogen werden müssen (3.2). Der Prozess des Systemwechsels in Albanien wird dabei anhand der unterschiedlichen Phasen, die die Transformationsforschung unterschieden hat, beleuchtet. Nach einer Betrachtung des Endes
des autokratischen Regimes in Albanien wird der Prozess der Institutionalisierung
der Demokratie untersucht. Dabei werden besonders die innenpolitischen Faktoren
der Demokratisierung analysiert, die als Voraussetzung für eine Konsolidierung der
Demokratie von Bedeutung sind. Am Ende des dritten Kapitels wird zudem ein
kurzer Überblick über das Engagement der internationalen Organisationen in Albanien nach Beginn des Transformationsprozesses gegeben (3.3).
Die drei darauffolgenden Kapitel der Arbeit konzentrieren sich auf die empirische
Analyse des Engagements der EU (Kapitel 4), der OSZE (Kapitel 5) und des Europarats (Kapitel 6) in Albanien. Dort wird ihr Beitrag zur Demokratisierung und zum
Institutionenaufbau des Landes untersucht. Jedes dieser Kapitel analysiert im ersten
Teil die Ziele und Strategien der drei Organisationen, im zweiten Teil ihre inneren
Strukturen und Organisationsweise und im dritten Teil ihre Instrumente der Demokratisierung. Bei den Instrumenten der Demokratisierung stehen zwei Instrumente
im Vordergrund: das Instrument der Verhandlungen und des politischen Dialogs
sowie das Instrument der Unterstützungsprojekte auf operativer Ebene. Exemplarisch werden Hilfsprojekte der europäischen Organisationen in vier zentralen Sektoren untersucht: im Bereich des Aufbaus der politischen Institutionen, der Justiz, der
öffentlichen Verwaltung und der Zivilgesellschaft. Es sind diejenigen Sektoren, auf
die die externen Akteure am meisten Aufmerksamkeit in ihrer Unterstützung gelenkt
haben, weil Fortschritte in diesen Bereichen als besonders wichtig für die Demokratisierung erachteten wurden. Die empirische Untersuchung der Unterstützungsprojekte bezieht sich im wesentlichen auf den Zeitraum von 1994–2003. Ein abschlie-
ßendes Kapitel zieht Schlussfolgerungen in Hinblick auf den Beitrag der drei untersuchten Organisationen zur Demokratisierung Albaniens.
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Betrachtet man die Ergebnisse der Untersuchung, so lassen sich im Hinblick auf
die Unterstützung der drei europäischen Organisationen für den Demokratisierungsprozess Albaniens die folgenden Schlussfolgerungen ziehen:
Insgesamt verhielten sich die europäischen Organisationen mit ihrem Engagement in Albanien reaktiv zu der Staatskrise in Albanien (1997) und der Kosovo-
Krise (1999). Dem „Eskalations-Engagament-Syndrom“ folgend erhöhten die europäischen Organisationen nach jeder Krise ihr Engagement in Albanien, um die Lage
zu stabilisieren. Die Untersuchung zeigte, dass die Wirkungskraft der Konditionalität, der vor allem bei der Integrationsstrategie der EU eine wesentliche Rolle zukommt, unter den spezifischen Bedingungen Südosteuropas, d.h. im Kontext der
Dominanz sicherheitspolitischer Interessen der europäischen Organisationen und
schwacher Staaten, eingeschränkt ist. Im Fall von „scheinheiligen Demokratisierern“
wie Albanien wird die Machtasymmetrie, die als Voraussetzung der Wirkungsmöglichkeit der Konditionalität angenommen wird, durch sicherheitspolitische Überlegungen verringert. So vermeiden die europäischen Organisationen aus Angst vor
erneuter Instabilität einen Abbruch der Beziehungen bzw. den Entzug der finanziellen Mittel, auch wenn die Konditionalität nicht umfassend eingehalten wird.
Weiterhin zeigte die Analyse der externen Unterstützung der drei Organisationen
für die Reform des Wahlgesetzes, der Staatsbürokratie und des Rechts- und Justizsystems, dass die geringen staatlichen Kapazitäten zum Wandel auf albanischer
Seite die Umsetzung der Hilfsprojekte der europäischen Organisationen und damit
ihren Beitrag zur Demokratisierung behinderten. Allerdings wurde auch deutlich,
dass über die schwachen staatlichen Umsetzungskapazitäten hinaus in großem Maße
der mangelnde politische Wille der albanischen politischen Elite für die langsame
Umsetzung von Reformen entscheidend war.
Darüber hinaus wurde deutlich, dass die Leistungsfähigkeit der drei europäischen
Organisationen deutlich von ihren Kapazitäten (u.a. innere Struktur, Organisationsweise, Ressourcen) bestimmt wurde. Obwohl alle drei Organisationen zum Aufbau
eines gesetzlichen Rahmens und demokratischer Institutionen beitrugen, unterschied
sich ihre Anpassungsfähigkeit an die Ressourcen, Probleme und den Unterstützungsbedarf in Albanien aufgrund ihrer Kapazitäten vor Ort erheblich.
Betrachtet man schließlich die Wirkungen der Unterstützung der europäischen
Organisationen für den Demokratisierungsprozess in Albanien, so lässt sich aus der
Untersuchung schlussfolgern, dass die externen Akteure einen wesentlichen Beitrag
zu einer Stabilisierung Albaniens geleistet haben. Darüber hinaus hatte die externe
Unterstützung in erster Linie eine positive Wirkung auf der formalen Ebene, wie u.a.
der Anpassung des gesetzlichen Rahmens an europäische Normen und Standards. In
Bezug auf Wirkungen der drei externen Akteure auf die Verhaltensebene, z.B. durch
die Umsetzung des reformierten gesetzlichen Rahmens, sind fünfzehn Jahre nach
Beginn der Transformation in Albanien in wesentlichen Bereichen des Demokratisierungsprozesses (z.B. Wahlen, Justiz) durch die Unterstützung der europäischen
Organisationen nur geringe Fortschritte erzielt worden. Die Analyse zeigte, dass sich
das Land noch im Prozess der Institutionalisierung der Demokratie befindet. Trotz
starker Zeichen einer Stabilisierung nach 1999 kann von einer Konsolidierung der
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Demokratie nicht gesprochen werden. Insgesamt machen die Ergebnisse der Untersuchung deutlich, dass die Integrationsperspektive der EU durch den Stabilisierungsund Assoziierungsprozess (SAP) und das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) im Fall von Albanien nicht ausreichend war, um einen umfassenden
Reformprozess zu erreichen.
1.6. Die Quellenlage
Die Arbeit basiert auf einer Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur, und einer
eingehenden Analyse von Primärquellen, wie u.a. offizielle Dokumente der EU, der
OSZE und des Europarats, Dokumente der albanischen Regierung und anderer internationaler Organisationen in Albanien. Diese Quellen wurden während mehrerer
Forschungsaufenthalte der Verfasserin in Albanien (zwischen 2000 und 2004) gesammelt. Die Untersuchung der drei Akteure (und die Auswahl ihrer Projekte) stützt
sich vor allem auf eine Auswertung dieser Materialien.
Während mehrmonatiger Feldforschungsphasen im Jahr 2001 und 2004 in Albanien und einem kürzeren Forschungsaufenthalt im Mai 2003 in Brüssel wurden
Experteninterviews mit mehr als 50 Vertretern der drei untersuchten europäischen
Organisationen sowie anderer internationaler Organisationen vor Ort, hochrangigen
Vertretern der albanischen Regierung, des Parlaments und der öffentlichen Verwaltung, Wissenschaftlern und Journalisten, Vertretern von zivilgesellschaftlichen Organisationen in Albanien, die den albanischen Transformationsprozess und das ausländische Engagement (kritisch) verfolgen, sowie Vertretern der EU Kommission in
Brüssel durchgeführt. Die Autorin untersuchte außerdem im Jahr 2000 während
einer dreimonatigen Consultant-Tätigkeit für die Weltbank die Unterstützung des
albanischen Transformationsprozesses durch multi- und bilaterale Geber in Albanien.19 Dafür wurde die Mehrzahl der in Albanien tätigen Vertreter ausländischer
Hilfsorganisationen sowie Vertreter albanischer Nichtregierungsorganisationen
(NROs) und Forschungsinstitutionen interviewt. Erkenntnisse aus dieser Untersuchung fließen vor allem in das Kapitel über externe Akteure in Albanien ein. Eine
Übersicht über die räumliche und sektorale Verteilung der internationalen Unterstützung zum damaligen Zeitpunkt gibt Anhang II.
Die Dokumente der drei Organisationen wurden neben der Untersuchung ihrer
Strategien und Projektaktivitäten vor allem in Hinblick auf ihre Bewertung der Demokratisierungsfortschritte Albaniens ausgewertet. Zu den verwendeten Dokumenten zählen Strategiepapiere, Fortschrittsberichte und Beschreibungen der jeweiligen
Unterstützungsprojekte. Während die Strategiepapiere und die allgemeinen Programmdokumente der drei Organisationen in den meisten Fällen öffentlich verfüg-
19 Der Auftrag wurde im Rahmen der Vorbereitungen der „Interim-Poverty Reduction Strategy“
der albanischen Regierung vergeben, die nach 2000 die neue Grundlage für die Vergabe von
Weltbankkrediten in Albanien darstellte.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im Schnittfeld von Transformations- und Integrationsforschung bietet die Arbeit eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Einflussmöglichkeiten europäischer Institutionen auf die Demokratisierung in Südosteuropa. Analysiert wird die Demokratisierungshilfe von EU, OSZE und Europarat am wenig untersuchten Fall des „scheinheiligen Demokratisierers“ Albanien. Scheinheilige Demokratisierer stellen die Demokratisierungsbemühungen europäischer Organisationen in Südosteuropa vor große Herausforderungen. Wegen der prekären Sicherheitslage weisen sie einen erhöhten Stabilisierungsbedarf auf und begrenzten dadurch die Wirkung des Engagements der europäischen Akteure. In Auseinandersetzung mit den Forschungsansätzen der Internationalen Sozialisierung, der Europäisierung und der Konditionalität leistet die Arbeit einen Beitrag zur Debatte über die Rolle externer Akteure und untersucht die Wirkungszusammenhänge zwischen der internationalen und nationalen Dimension der Demokratisierung von Transformationsländern. Die Ergebnisse der Studie werfen einen kritischen Blick auf die EU-Konditionalität und zeigen die Notwendigkeit einer neuen Integrationsstrategie für die Länder Südosteuropas auf.