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3. Kapitel:
Prognose der Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung
in Bezug auf die erb- und familienrechtlichen Anrechnungs- und
Ausgleichungsverfahren unter Berück-sichtigung der Entscheidung
des BGH vom 23.10.20031454
Zuletzt ist die Frage zu beantworten, ob damit zu rechnen ist, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung zur anfechtungsrechtlichen Berücksichtigung der die
Gläubiger des Versicherungsnehmers beeinträchtigenden (widerruflichen) Bezugsrechtseinräumung zugunsten eines Dritten auch auf die dargestellten erbund familienrechtlichen Ausgleichungs- und Anrechnungsverfahren übertragen
werden wird. Besonders berücksichtigt werden dabei die durch den Vergleich der
Verfahren gewonnenen Ergebnisse sowie die vom BGH vorgebrachten Argumente.
Dabei ist zu beachten, dass der BGH in Bezug auf die Frage des auszugleichenden bzw. anzurechnenden Vermögensgegenstands bzw. -werts im Zusammenhang
mit der Zuwendung des Anspruchs auf die Versicherungsleistung bislang nur hinsichtlich der Pflichtteilsergänzung zur Wort gekommen ist.
Bezüglich der anderen Verfahren lautet die Frage daher nicht, ob hier mit
einem Wandel der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu rechnen ist, sondern
vielmehr, ob zu erwarten ist, dass der BGH den mit seiner Entscheidung vom
23.10.2003 eingeschlagenen Weg konsequent – auch im Hinblick auf diese Verfahren – weiter gehen wird.
A. Gleichbehandlung von unmittelbarer und mittelbarer Zuwendung
Die Feststellung des BGH, dass Gegenstand des anfechtungsrechtlichen Rückgewährgegenstands die bei Fälligkeit des Anspruchs vom Versicherer zu erbringende Leistung, d.h. die Versicherungssumme, ist, beruht auf der Annahme, dass
unmittelbare und mittelbare Zuwendung anfechtungsrechtlich gleich zu behandeln sind. Die für eine Gleichbehandlung sprechenden Argumente1455 lassen sich
auf alle erb- und familienrechtlichen Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren
übertragen. Insoweit kann man daher damit rechnen, dass der BGH auch im Rahmen der erb- und familienrechtlichen Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren
unmittelbare und mittelbare Zuwendungen gleich behandeln und dementsprechend auf die Versicherungssumme abstellen wird.
1454 BGHZ 156, 350 ff. = NJW 2004, 214 ff. = ZIP 2003, 2307 ff. = VersR 2004, 93 ff.
1455 Gemeint ist: Gleichbehandlung aus Interessensgesichtspunkten und unter Berücksichtigung des wahren Willens des Zuwendenden, »Quasi-Identität« zwischen Entreicherungsund Bereicherungsgegenstand, das Umgehungsargument und die wirtschaftliche Betrachtung, vgl. S. 76 ff.
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B. Gleichbehandlung von anfänglichem und nachträglichem Bezugsrecht
In der Entscheidung vom 23.10.2003 wurde ferner die Differenzierung zwischen
anfänglicher und nachträglicher Bezugsrechtseinräumung mit dem Argument
aufgegeben, dass in beiden Fällen eine mittelbare Zuwendung des Versicherungsanspruchs aus dem Vermögen des Versicherungsnehmers vorliege. Die Prämien
seien weiterhin notwendige Voraussetzung für die Begründung des Versicherungsanspruchs und Mittel für die Zuwendung der Versicherungssumme1456. Eine
Unterscheidung sei auch deshalb nicht erforderlich, weil der widerruflich Bezugsberechtigte unabhängig vom Zeitpunkt der Einräumung erst mit Eintritt des
Versicherungsfalls einen rechtlich gesicherten Anspruch auf die Versicherungssumme erwerbe.
Hierbei handelt es sich um eine von den Besonderheiten eines jeden Verfahrens
losgelöste Feststellung, die sich – bei Vorliegen eines widerruflichen Bezugsrechts – ohne weiteres auch auf die erb- und familienrechtlichen Anrechnungsund Ausgleichungsverfahren übertragen ließe. Zu beachten ist jedoch, dass sich
die Entscheidung des BGH ausschließlich auf ein widerrufliches Bezugsrecht
bezogen hat.
Betrachtet man das Argument näher, dass die Prämien sowohl bei einem
anfänglichen, als auch bei einem nachträglichen Bezugsrecht lediglich Voraussetzung und Mittel für die »eigentliche« Zuwendung seien, so ist nicht ersichtlich, warum dies nicht auch für die Einräumung eines unwiderruflichen Bezugsrechts gelten soll. Denn auch in diesem Fall dienen die Beitragszahlungen ausschließlich der Begründung bzw. der Erhöhung des Werts des Anspruchs auf die
Versicherungsleistung. Mit dem Unterschied allerdings, dass diese mit den Prämien »erkauften« Vorteile dem unwiderruflich Bezugsberechtigten bereits mit
dem Wirksamwerden der Bezugsrechtseinräumung (§ 13 II ALB 86) zugute kommen, weil er bereits in diesem Zeitpunkt Inhaber des Vollrechts ist, während dies
bei einem widerruflichen Bezugsberechtigten erst mit Eintritt des Versicherungs-
/ Todesfalls der Fall ist.
Wegen des im Hinblick auf den Zeitpunkt des Rechtserwerbs bestehenden
Unterschieds zwischen einem widerruflichen und einem unwiderruflichen
Bezugsrecht, kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass der BGH bei einem
bereits bei Vertragsschluss eingeräumten unwiderruflichen Bezugsrecht anders
entscheiden und hier statt auf die Versicherungssumme auf die innerhalb des
Anfechtungszeitraums erbrachten Prämien abstellen wird.
1456 BGHZ 156, 350 ff. = NJW 2004, 214 ff. = ZIP 2003, 2307 ff. = VersR 2004, 93ff.
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References
Zusammenfassung
Mit welchem Wert sind Lebensversicherungen anzusetzen, wenn sie in erb- oder familienrechtlichen Ausgleichungs- oder Anrechnungsregelungen zu berücksichtigen sind: Mit der Versicherungssumme? Mit der Summe der erbrachten Prämienzahlungen? Mit dem Rückkaufswert? In Rechtsprechung und Literatur ist ein einheitliches Vorgehen bislang nicht erkennbar.
Die vorliegende Arbeit untersucht diese Frage auch unter Berücksichtigung der im Jahr 2003 auf dem Gebiet des Insolvenzrechts erfolgten Rechtsprechungsänderung des Bundesgerichtshofes differenziert anhand der Vielzahl an Funktionen, die eine Lebensversicherung erfüllen kann.