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5.3 Aktivierung des Bundesverfassungsgerichts
Im Sinne eines (neo-)institutionalistischen Erklärungsansatzes stellen die oben diskutierten Verfahrensarten vor dem Bundesverfassungsgericht Anreize dar, die auf
bestimmte Akteure (vor allem Bürger, Gerichte und politische Akteure) wirken
können. Allerdings reagieren nicht alle Akteure in gleicher Weise auf die ihnen
gebotenen Anreize; manche beschreiten die ihnen angebotenen institutionellen Wege, andere tun dies nicht. Grundsätzlich ist also danach zu fragen, wann und warum
Akteure die ihnen gebotenen Möglichkeiten nutzen und wann sie dies nicht tun.
Konkreter: Unter welchen Umständen bringen Bürger, Parteien, Abgeordnete oder
Regierungen ihre Klage in Karlsruhe vor? Führen unterschiedliche Akteurskonstellationen zu einer unterschiedlichen Nutzungshäufigkeit der Klagewege? Sind unterschiedliche „Konjunkturen“ in der Nutzung der Verfahrensarten festzustellen und
falls ja, wie lässt sich dies erklären? Und schließlich: Was bedeutet dies für die
Machtstellung des Bundesverfassungsgerichts? Diese Fragen sollen in diesem und
dem nächsten Abschnitt (5.4) im Mittelpunkt der Diskussion stehen. Untersucht
werden soll zunächst, wie häufig das Bundesverfassungsgericht tatsächlich von den
antragberechtigten Akteuren aktiviert wird. Wegen jeweils unterschiedlich wirkender institutioneller Anreize und Präferenzen sollen Bürger und Gerichte auf der
einen und politische Akteure auf der anderen Seite gesondert betrachtet werden. Für
beide gelten je andere Anreizlogiken.
5.3.1 Bürger und Gerichte als Antragsteller: Verfassungsbeschwerde und konkrete
Normenkontrolle
Die Entwicklung der Verfassungsbeschwerdeverfahren lässt sich am einfachsten
an den allgemeinen Verfahrenseingangszahlen des Bundesverfassungsgerichts
zeigen, da es sich in etwa 96 Prozent aller Verfahrenseingänge um Verfassungsbeschwerden handelt. Die Verfahrenseingangszahlen weisen für die Jahre von 1951
bis 2005 einen deutlich linearen Anstieg aus, wenngleich durchaus größere Varianzen in einzelnen Jahren zu verzeichnen sind (vgl. Abbildung 5.8). Die Entwicklung der Verfahrenseingänge lässt sich grob in vier Phasen einteilen: eine Phase
moderaten Anstiegs zwischen 1951 und 1976, eine zweite Phase erhöhter Verfahrenszahlen zwischen 1976 und 1990, einen eklatanten Anstieg der Verfahrenszahlen zwischen 1991 und 1995 und eine vierte Phase moderaten Abklingens nach
1995 mit Verharren der Eingänge auf hohem Niveau (vgl. Bundesverfassungsgericht 2006). Musste das Gericht zwischen 1951 und 1976 jährlich mit 500 bis
1500 neuen Verfahren rechnen, stiegen diese Zahlen in der zweiten Phase auf
2500 bis 3500 Klagen pro Jahr an, um dann in der Hochphase auf fast 6000 Eingänge im Jahr 1995 hochzuschnellen. Seit Mitte der 1990er Jahre haben sich die
Verfahrenseingänge auf dem noch immer hohen Niveau von etwa 5000 neuen
Klagen pro Jahr eingependelt.
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Abbildung 5.8: Verfahrenseingänge beim Bundesverfassungsgericht (1951-2005)
0
1000
2000
3000
4000
5000
6000
7000
1951 1954 1957 1960 1963 1966 1969 1972 1975 1978 1981 1984 1987 1990 1993 1996 1999 2002 2005
Ei
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p
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J
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Quelle: Badura/Dreier 2001: 932 f. und Bundesverfassungsgericht 2006
Hinter dem Anstieg der Verfahrenseingänge verbirgt sich also in erster Linie ein
Anstieg der Verfassungsbeschwerdeverfahren. Der zunächst moderate Anstieg der
Verfassungsbeschwerden kann mit einer allmählich stattfindenden institutionellen
Verfestigung des Gerichts und des deutschen Rechtsstaats auf der einen Seite und
einem zunächst eher langsam zunehmenden Gesetzesoutput auf der anderen Seite
erklärt werden. Vor allem die erste Erklärung scheint im Falle der Verfassungsbeschwerde beweiskräftig, da die überwiegende Mehrzahl der Verfassungsbeschwerden
von Beginn an Urteilsverfassungsbeschwerden gewesen sind, also Beschwerden
gegen Gerichtsurteile niederer Instanz. Seit Beginn der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts ist der Anteil der Urteilsverfassungsbeschwerden an den Verfassungsbeschwerden in etwa gleich hoch – bei etwa 94 Prozent – geblieben (vgl. auch Gusy
2001).
Die – von heute aus betrachtet – ursprünglich geringe Anzahl von Verfassungsbeschwerdeverfahren erfuhr erst Mitte der 1970er Jahre einen deutlichen Anstieg. Die
hauptsächliche Ursache hierfür ist darin zu vermuten, dass sich im Nachklang der
Rechtsreformen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre unter den Bürgern der
Bundesrepublik ein (Grund-)Rechtsverständnis entwickelte, das eine Klage vor dem
Bundesverfassungsgericht (wie auch vor anderen Gerichten) nicht mehr als ungewöhnlich, sondern als gangbaren Weg zur Durchsetzung von Rechtspositionen erscheinen ließ. Zudem hatten die erste Große Koalition und die sozialliberale Koalition seit 1966 rechtspolitische Reformen eingeleitet, die sich auf weite Teile der
Rechtsordnung erstreckten: Reformen des Strafrechts, des Verbraucherschutzes, der
Mitbestimmungsregelungen und des Familien- und Scheidungsrechts hatten den bis
dahin bestehenden „Reformstau“ in der Rechtspolitik beendet, aber unter anderem
209
zur Folge, dass die Bürger ihre Rechte im verwaltungsgerichtlichen Verfahren auch
mehr und mehr einklagten (vgl. Fetscher 1983). Mit der allgemeinen Zunahme der
Klagehäufigkeit vor normalen Gerichten stiegen damit implizit auch die Verfahrenszahlen vor dem Bundesverfassungsgericht an (vgl. zur allgemeinen Zunahme der
Klagehäufigkeit: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, verschiedene Jahrgänge).
Der deutliche Anstieg zu Beginn der 1990er Jahre hingegen dürfte zu einem nicht
geringen Teil auf die historische Sondersituation der überwundenen Teilung Deutschlands zurückzuführen sein. Zum einen sind seit 1990 durch den Beitritt der DDR zur
Bundesrepublik 16 Millionen potentielle Kläger hinzugekommen, zum anderen
boten wiedervereinigungsbedingte Rechtsprobleme vermehrt Anlass zur Austragung
von Streitigkeiten vor Gericht. Alleine der deutsch-deutsche Vereinigungsvertrag
fand seit 1990 in nicht weniger als 71 Entscheidungen des Gerichts Erwähnung (vgl.
BVerfGE, Bände 82-112). Das leichte Abklingen der Verfassungsbeschwerden seit
Mitte der 1990er Jahre könnte darauf zurückzuführen sein, dass die wiedervereinigungsbedingten Rechtsstreite mit der Zeit etwas nachgelassen haben und sich eine
„normale“ Klagehäufigkeit jenseits historisch bedingter Sondersituationen eingestellt hat. Allerdings dürfte die Hoffnung trügen, dass damit ein dauerhafter Rückgang der Verfassungsbeschwerden verbunden sein könnte, da die Verfahrenseingänge aus den (nicht mehr ganz so) „neuen Bundesländern“ in Bezug auf ihre Einwohnerzahl nach wie vor leicht unterdurchschnittlich sind (dies trifft allerdings auch auf
die alten Länder Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen zu. Weit überdurchschnittlich häufig klagen die Einwohner Bayerns, Berlins, Hamburgs und Hessens;
vgl. Bundesverfassungsgericht 2006).
Die auf die Bürger wirkenden institutionellen Anreize, den „Gang nach Karlsruhe“ anzutreten, haben sich zwischen 1951 und 2005 nicht wesentlich gewandelt.
Aber individuelle Lerneffekte, Reformen im Bereich der Rechtspolitik, historische
Sonderbedingungen und der „Nachfrageeffekt“ einmal eingeführter Institutionen
können – zusammen mit dem oben diskutierten „Vertrauenspolster“ des Bundesverfassungsgerichts – erklären, weshalb die Anzahl der Verfassungsbeschwerdeverfahren in den letzten 55 Jahren eine so deutliche Steigerung erfahren hat.
Die hohen Zahlen der Verfahrenseingänge im Verfassungsbeschwerdeverfahren
belegen noch einmal eindrucksvoll die Bedeutung dieser Verfahrensart für die Stellung des Bundesverfassungsgerichts. Durch sie wird Karlsruhe in die Lage versetzt,
unabhängig vom Willen politischer Akteure (Normen)Kontrollhandlungen vorzunehmen und seiner Kontrollfunktion gerecht zu werden. Würden Bürgerinnen und
Bürger diesen Verfahrensweg nicht nutzen (können), wäre auch die institutionelle
Machtposition des Bundesverfassungsgerichts deutlich eingeschränkt. Dadurch, dass
die Bürger rege von dieser Klagemöglichkeit Gebrauch machen, wird indirekt auch
die Stellung des Bundesverfassungsgerichts gestärkt.
Eine zusätzliche Stärkung erfährt das Gericht durch die an es herangetragenen
konkreten Normenkontrollverfahren (Richtervorlagen). Anders als die Verfassungsbeschwerdeverfahren haben diese über die Zeit aber keineswegs zugenommen, son-
210
dern sie alternieren sehr stark und haben nach 1994 sogar stark abgenommen (vgl.
Abbildung 5.9).
Abbildung 5.9: Konkrete Normenkontrollverfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht (1980-2005)104
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60
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160
1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004
An
za
hl
Quelle: Bundesverfassungsgericht 2006
Seit 1980 verzeichnet das Bundesverfassungsgericht zwar einzelne Jahre, in denen
100 oder mehr Richtervorlagen in Karlsruhe anhängig wurden (z. B. 1986, 1991 und
1992), aber auch ein Jahr mit nur 15 Verfahrenseingängen (2003). Die vergleichsweise hohen Verfahrenszahlen in den Jahren 1991, 1992 und 1993 sind zudem auf eine
hohe Anzahl parallel anhängiger Verfahren zurückzuführen (1991: 61 Parallelverfahren, 1992: 53 Parallelverfahren, 1993: 35 Parallelverfahren); rechnet man diese heraus, ergeben sich auch für diese Jahre deutlich geringere Fallzahlen. Seit Mitte der
1990er Jahre hat die Anzahl der Richtervorlagen deutlich nachgelassen und bewegt
sich heute zwischen 20 und 30 Vorlagen pro Jahr (Bundesverfassungsgericht 2006).
Auch für die Richtervorlagen kann nicht argumentiert werden, dass sich die institutionellen Anreize für untergeordnete Gerichte, ein Verfahren auszusetzen und zur
Überprüfung an das Bundesverfassungsgericht weiter zu reichen, über die Zeit verändert haben. Eher zeigt sich, dass die Verabschiedung umstrittener Reformen und
Gesetze durch die Politik ihren Nachklang in konkreten Normenkontrollverfahren
findet: Politische und/oder rechtliche Veränderungen in der Rechtswirklichkeit führen
zu einer erhöhten Klagewelle vor normalen Gerichten und von dort aus unter Umständen bis vor das Bundesverfassungsgericht. Ein anschauliches Beispiel für diese
Klagekette stellen beispielsweise die von der rot-grünen Bundesregierung verab-
104 Die offizielle Verfahrensstatistik des Bundesverfassungsgerichts weist die jährlichen Verfahrenszahlen für das konkrete Normenkontrollverfahren erst seit 1980 aus. Über den Zeitraum vor
1980 können daher keine Aussagen getroffen werden.
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schiedeten so genannten „Hartz-Gesetze“ dar. Alleine im Jahr 2006 betraf etwa die
Hälfte aller Klagen vor dem größten deutschen Sozialgericht in Berlin einzelne Regelungen von „Hartz IV“ (12.000 von insgesamt 26.000 Klagen vor dem Berliner Sozialgericht im Jahr 2006; vgl. Tagesspiegel vom 27.12.2006). Deutschlandweit waren
zu diesem Zeitpunkt sogar ca. 100.000 Klagen gegen diese Sozialreformpolitik vor
deutschen Gerichten anhängig.105 Dass mit dieser „Klagewelle“ zumindest auch die
Wahrscheinlichkeit gestiegen ist, dass eines oder mehrere der angerufenen Gerichte
die in Frage stehenden gesetzlichen Grundlagen für verfassungswidrig halten und
einen oder mehrere der Fälle zur Entscheidung nach Karlsruhe weiter leiten, scheint
überaus plausibel. Erhöht sich dadurch die Anzahl der Richtervorlagen nach Karlsruhe, ist der Auslöser hierfür also vor allem in einer Veränderung des gesetzlichen
Status quo (und den dadurch induzierten Klagen betroffener Bürger) zu finden. Temporäre Ereignisse – wie etwa die deutsche Wiedervereinigung und die in diesem
Zusammenhang erlassenen Rechtsnormen – dürften daher eine bedeutende Rolle für
die Zu- oder Abnahme von Richtervorlagen spielen.
Festgehalten werden kann in jedem Fall, dass Richtervorlagen offenkundig keiner
strukturellen Anreizlogik folgen: Normen werden dann zur Überprüfung vorgelegt,
wenn der befasste Richter sie für verfassungswidrig hält. Spezifische Muster oder
„Konjunkturen“ lassen sich hier – ebenso wie bei den Verfassungsbeschwerdeverfahren – nicht erkennen. Für die Machtstellung des Bundesverfassungsgerichts im
Gewaltenteilungssystem der Bundesrepublik spielen die konkreten Normenkontrollverfahren aber dennoch eine wichtige Rolle, da das Bundesverfassungsgericht nicht
selten auch über konkrete Normenkontrollverfahren Normen annulliert (vgl. hierzu
auch Kapitel 6).
Die Aktivierung des Bundesverfassungsgerichts durch einzelne Bürger (Verfassungsbeschwerde) und Gerichte (Richtervorlage) folgt also keinen bestimmten
„Konjunkturmustern“, beide Verfahrensarten tragen aber faktisch zur starken Stellung des Bundesverfassungsgerichts bei. Die Anzahl der Verfassungsbeschwerden
ist seit Bestehen des Gerichts kontinuierlich angewachsen, hat seit Mitte der 1970er
Jahre deutlich zugenommen und verharrt heute – nach einem Höhepunkt Mitte der
1990er Jahre – auf hohem Niveau. Die Gründe für diesen Anstieg scheinen aber
nicht in sich wandelnden institutionellen Anreizsystemen zu liegen, sondern eher in
der Ausweitung individueller Bürgerrechte, der Aufwertung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens Mitte der 1970er Jahre und der Tatsache, dass die Bundesbürger
nach und nach „gelernt“ haben, ihre Rechte auch vor Gericht einzuklagen.
Die Richtervorlagen stagnieren hingegen auf niedrigem Niveau. Hier ist keine
generelle Zunahme der Eingaben festzustellen, rechnet man die Parallelverfahren
Mitte der 1980er und 1990er Jahre heraus. Zurückgewiesen werden kann damit die
Vermutung, dass das Bundesverfassungsgericht auch über die Richtervorlage häufi-
105 Zur „Hartz-IV-Kurve“ des Berliner Sozialgerichts vgl. http://www.berlin.de/sen/justiz/gerichte/
lsg/ (abgerufen am 17.10.2007). Die Kurve zeigt, dass seit Januar 2007 monatlich zwischen
1100 und 1700 neue Verfahren gegen Hartz IV vor dem Gericht anhängig wurden.
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ger mit der Prüfung von Gesetzesnormen befasst wird. Weder tendieren Richter an
untergeordneten Gerichten dazu, vermehrt das Bundesverfassungsgericht anzurufen,
noch nutzt das Gericht selbst häufiger als früher dieses Verfahren, um Gesetze oder
Verordnungen einer verfassungsrechtlichen Prüfung zu unterziehen. Dies bedeutet
nicht, dass das Bundesverfassungsgericht nicht auch über die Richtervorlage in die
Lage versetzt wird, seine formalen Kompetenzen auszuspielen, für die zunehmende
Häufigkeit der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts ist aber vor allem das Verfassungsbeschwerdeverfahren verantwortlich.
5.3.2 Politische Akteure als Antragsteller: Abstrakte Normenkontrolle, Bund-
Länder-Streit und Organklage
Für die drei „politischen“ Streitverfahren – abstrakte Normenkontrolle, Bund-
Länder-Streit und Organklage – gelten andere Anreizlogiken als bei Verfassungsbeschwerden oder konkreten Normenkontrollverfahren. Anders als bei Bürgern und
Gerichten kann bei politischen Akteuren davon ausgegangen werden, dass diese die
Zugangsmöglichkeiten zum Bundesverfassungsgericht (auch) strategisch einsetzen.
Geht es Bürgern in der Regel vor allem um die Klärung des eigenen Streitfalls und
Gerichten um die Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsordnung, ist ein mögliches Klagemotiv politischer Akteure in dem Wunsch nach Fortsetzung politischer
Auseinandersetzung mit rechtlichen Mitteln zu vermuten. Gerade für einen oppositionellen politischen Akteur liegt es nahe, den Weg der abstrakten Normenkontrolle
dann zu beschreiten – vorausgesetzt, diese Möglichkeit steht ihm institutionell offen
–, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: erstens, wenn von einer parlamentarischen Mehrheit ein Gesetz verabschiedet worden ist, das dieser Akteur aus politischen oder rechtlichen Gründen ablehnt; zweitens, wenn er dieses Gesetz im normalen Gesetzgebungsprozess nicht verhindern kann, und drittens, wenn der Akteur eine
hinreichend große Erfolgsaussicht für seinen Antrag vermuten kann.106 Mit Veränderungen dieser drei Bedingungen, so die nahe liegende Vermutung, sollte auch die
Häufigkeit der Befassung des Bundesverfassungsgerichts mit diesen „politischen“
Streitverfahren variieren. Denkbar ist aber ebenso, dass die institutionell eröffneten
Klagewege von politischen Akteuren nicht nur aus Gründen der politischen Auseinandersetzung beschritten werden, sondern dass auf diese Art und Weise tatsächliche Rechtsprobleme, etwa Kompetenzabgrenzungskonflikte zwischen Akteuren
unterschiedlicher föderaler Ebenen, gelöst werden sollen. In diesem Abschnitt soll
daher zunächst untersucht werden, welche typischen Konflikttypen in den „politischen“ Verfassungsstreitverfahren beobachtbar sind und wie häufig politische Akteure diesen Weg überhaupt beschreiten. Im nächsten Kapitel (5.4) wird dann näher
106 Prinzipiell ist auch denkbar, dass eine verfassungsrechtliche Klage aus rein expressiven Gründen
erhoben wird, um den jeweiligen (Partei-)Anhängern die eigene Position deutlich vor Augen zu
führen. Solche Fälle werden aber eher selten sein und sollen daher hier außer Betracht bleiben.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Verfassungsgerichte sind machtvolle Akteure und zentrale Mitspieler in fast allen liberalen Demokratien. Gleichwohl wird ihre Demokratiekompatibilität mitunter in Frage gestellt, wenn sie – demokratisch vergleichsweise schwach legitimiert – in demokratische Prozesse intervenieren.
Der vorliegende Band analysiert die spezifischen Funktionen, die Verfassungsgerichte für demokratische Regierungssysteme erbringen und argumentiert, dass Verfassungsgerichte nicht nur keine Gegenspieler demokratischer Politik sind, sondern dass sie für demokratisches Regieren schlichtweg konstitutiv sind. Anhand einer umfassenden Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der letzten 55 Jahre wird empirisch belegt, dass das höchste deutsche Gericht in der Vergangenheit überaus demokratiefunktional agiert und damit wesentlich zur hohen Qualität der bundesdeutschen Demokratie beigetragen hat.
Sascha Kneip ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Demokratieforschung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).