181
5.2 Institutionelle Stärke und Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts
In den Kapiteln 3 und 4 dieser Untersuchung sind verschiedene Faktoren diskutiert
worden, mit deren Hilfe die institutionelle Stärke und Unabhängigkeit eines Verfassungsgerichts sowie die faktische Kompetenzausübung eines Gerichts erklärt werden
können. Unter anderem, so ist argumentiert worden, hängt das faktische Agieren
eines Gerichtes neben seiner grundsätzlichen Kompetenzausstattung vor allem von
den Zugangsmöglichkeiten und Interessen der antragsberechtigten Akteure, der Zusammensetzung des Gerichts und seiner empirischen Legitimität ab. Zunächst sollen
daher diese Faktoren für das Bundesverfassungsgericht eingehender betrachtet werden. Ziel der weiteren Untersuchung wird es dann sein, sowohl die Intensität und
Häufigkeit verfassungsgerichtlichen Agierens zu erklären (Kapitel 5.3 und 5.4) als
auch seine Auswirkungen auf die bundesrepublikanische Demokratie zu bewerten
(Kapitel 6).
5.2.1 Kompetenzen und Aktivierungsmöglichkeiten
Die institutionelle Stärke und Macht eines Verfassungsgerichts lässt sich zunächst
vor allem durch sein Kompetenzprofil beschreiben. Allerdings bleiben auch Gerichte mit großem Kompetenzumfang „schwache“ Gerichte, wenn sie entweder ihre
Kompetenzen nicht oder nur zurückhaltend ausüben (wie dies etwa der japanische
Supreme Court tut; vgl. Ramseyer 1991; Ramseyer/Rasmusen 1999) oder wenn sie
nicht von anderen Akteuren eingesetzt und aktiviert werden. Die Stärke eines Verfassungsgerichts kann daher nur unter Berücksichtigung des Zusammenspiels von
Kompetenzausstattung und Aktivierungsmöglichkeiten vollständig erfasst werden.
Auch für das Bundesverfassungsgericht gilt, dass das Gericht nur dann seine vorhandenen Kompetenzen ausspielen kann, wenn es von anderen Akteuren aktiviert
und ins Spiel gebracht wird.
In welchen Verfahrensarten dies hauptsächlich der Fall ist, zeigt Abbildung 5.1,
in der die vom Bundesverfassungsgericht zwischen 1951 und 2005 durch Entscheidung erledigten Verfahren dargestellt sind. Wie die Zahlen zeigen, spielen vor allem
fünf Verfahrensarten95 für die Entscheidungspraxis des Gerichts eine herausragende
Rolle: die Verfassungsbeschwerde, die konkrete Normenkontrolle, das Wahlprüfungsverfahren, die abstrakte Normenkontrolle und der Organstreit. Andere Verfahrensarten, wie etwa der Bund-Länder-Streit, treten zahlenmäßig hinter die anderen
Verfahren zurück.96
95 Die einstweiligen Anordnungen sollen hier nicht weiter interessieren, münden diese doch meist
in ein Hauptverfahren, das z. T. in den anderen Verfahrenserledigungen enthalten ist.
96 Der Bund-Länder-Streit hat die große Relevanz, die er in den ersten zehn Jahren der Tätigkeit
des Bundesverfassungsgerichts hatte, mittlerweile verloren (Schlaich/Korioth 2004: 78). Er hat
„unter dem Grundgesetz [seine, S. K.] praktische Bedeutung weitgehend eingebüßt“ (ebd.: 79;
siehe auch Selmer 2001 und die Ausführungen zum Bund-Länder-Streit weiter unten).
182
In dieser Verfahrensauflistung spiegeln sich nicht nur die unterschiedlichen
Kompetenzen des Gerichts, sondern in ihr wird zugleich auch der vergleichsweise
offene Zugang zum Bundesverfassungsgericht deutlich. Oben ist argumentiert worden, dass im Sinne einer strategischen Interaktion zwischen Verfassungsgerichten
und politischen wie gesellschaftlichen Akteuren die Aktivität eines Verfassungsgerichtes prinzipiell mit der Anzahl der antragsberechtigten Akteure steigt. Dieser
Zusammenhang zeigt sich tatsächlich bereits in der Häufigkeit der wichtigsten Verfahrensarten vor dem Bundesverfassungsgericht.
Abbildung 5.1: Plenar-, Senats- und Kammerentscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts nach Verfahrensarten (1951-2005)
Verfahrensart Anzahl der Verfahren
Verfassungsbeschwerden 131.845
(3.951 durch Senate,
127.894 durch Kammern)
Einstweilige Anordnungen 1.245
Konkrete Normenkontrolle 1.163
(davon 157 durch Kammern)
Wahlprüfungsverfahren 133
Abstrakte Normenkontrolle 96
Verfassungsstreitigkeit zwischen Bundesorganen (Organstreit) 84
Öffentlich-rechtliche Streitigkeiten 38
Verfassungsstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern 25
Landesverfassungsstreitigkeiten 19
Fortgeltung von Recht als Bundesrecht 19
Völkerrechtsregel als Teil des Bundesrechts 7
Verfassungswidrigkeit von Parteien 5
Vorlage eines Landesverfassungsgerichts 5
Verfahren in durch Bundesgesetz zugewiesenen Fällen 5
Verwirkung von Grundrechten 3
Anklagen gegen Bundespräsidenten 0
Richteranklagen 0
Sonstige Verfahren 16
Summe aller Entscheidungen 134.708
Quelle: Jahresstatistik des Bundesverfassungsgerichts 2005; http://www.bverfg.de/organisation/gb2005/
A-I-5.html
Die quantitativ häufigste Verfahrensart vor dem Bundesverfassungsgericht stellt die
Verfassungsbeschwerde dar, die etwa 96 % aller Verfahren ausmacht. Nach Art. 93
Abs. 1 Nr. 4a GG kann „jedermann“ eine Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung erheben, in seinen Grundrechten verletzt zu sein. Allerdings schränkt Art. 94
183
Abs. 2 Satz 2 diese Generalklausel wieder ein, indem dem Gesetzgeber die Möglichkeit eröffnet wird, die Erschöpfung des Rechtswegs zur Voraussetzung einer
Verfassungsbeschwerde zu machen, was dieser im Verfassungsgerichtsgesetz auch
getan hat (§ 90, 2 BVerfGG): Danach ist eine Verfassungsbeschwerde grundsätzlich
nur bei Verletzung der Grundrechte und nach Ausschöpfung des Rechtsweges zulässig; eine Ausnahme kann dann vorliegen, wenn die Verfassungsbeschwerde von
allgemeiner Bedeutung ist oder dem Beschwerdeführer andernfalls ein schwerer und
unabwendbarer Nachteil entstünde (ebd.). Die Verfassungsbeschwerde nimmt also
eine grundsätzlich subsidiäre Stellung im Rechtssystem der Bundesrepublik ein. Sie
stellt insofern eine Arbeitsteilung zwischen Verfassungsgericht und ordentlicher
Gerichtsbarkeit her, als zunächst Letztere mit dem Grundrechtsschutz beauftragt ist
und das Bundesverfassungsgericht nur dann tätig werden soll, wenn dieser Schutz
nicht ausreichend gewährt worden ist. Hinsichtlich der faktischen Bedeutung der
Verfassungsbeschwerde wird aber oftmals vergessen, dass über sie nicht nur Gerichtsurteile (auch höchstinstanzliche) einer weiteren Überprüfung unterzogen werden können, sondern auch Gesetze des parlamentarischen Gesetzgebers implizit wie
explizit geprüft und im Zweifelsfall kassiert werden können. Die Wirkung von Verfassungsbeschwerden ist in der Praxis daher durchaus beachtlich: Manche politisch
wie gesellschaftlich umstrittenen Gesetze sind nicht über den Weg des Normenkontrollverfahrens, sondern über den der Verfassungsbeschwerde zu Fall gebracht worden. Die Verfassungsbeschwerde „schlägt nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht in hohem Maße zu Buche“, konstatiert deshalb auch die ehemalige Präsidentin des Gerichts, Jutta Limbach
(Limbach 1999: 152).
Die Verfassungsbeschwerde besitzt zwar zunächst individuellen Charakter (der
Kläger muss schließlich in seinen Grundrechten verletzt sein), die Entscheidungen
des Gerichts im Verfassungsbeschwerdeverfahren haben aber natürlich ebenso
Auswirkungen auf die Rechtsordnung und die soziale Wirklichkeit insgesamt. Über
das Instrument der Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht nach
1951 nicht nur weite Teile der Rechtsordnung dem Grundrechtsschutz öffnen können (Schlaich/Korioth 2004: 140 f.), es hat auch dafür gesorgt, dass sich der einzelne
Bürger als Teil des demokratischen Kontrollprozesses verstehen kann. Über die
Verfassungsbeschwerde werden die Bürger zu „Wächtern des Grundgesetzes“ bestellt und sorgen so dafür, dass das „Bundesverfassungsgericht als Hüter individueller Grundrechte tätig werden kann“ (Limbach 1999: 151 f.). Die generelle demokratietheoretische Funktion der Verfassungsbeschwerde kann daher nicht hoch genug
bewertet werden: Über sie vermittelt sich den klagenden Bürgern der Eindruck, dass
ihre Grund- und Bürgerrechte ernst genommen und im Konfliktfall geschützt werden. Damit kommt ihr eine zentrale legitimatorische Funktion zu, die auf die Anerkennungswürdigkeit von Rechtsstaat und Demokratie insgesamt zurück wirken
kann. Gerade weil auch höchstrichterliche Urteile und Gesetzesnormen des Parlaments über die Verfassungsbeschwerde angegriffen werden können, genießt das
Instrument der Verfassungsbeschwerde – und damit auch indirekt der Akteur Bun-
184
desverfassungsgericht – eine erstaunliche Wertschätzung in der bundesdeutschen
Bevölkerung (dazu mehr in Kapitel 5.2.3).
Der hohen Anzahl von Verfassungsbeschwerdeverfahren steht allerdings die geringe Erfolgsquote der Verfassungsbeschwerde entgegen: Nur etwa 2,5 % der eingegangenen Beschwerden werden vom Gericht positiv beschieden (vgl.
Bundesverfassungsgericht 2006), die überwiegende Mehrzahl der Verfassungsbeschwerden werden aus formalen Gründen gar nicht erst zur Entscheidung angenommen. Allerdings ist die Erfolgsquote solcher Verfassungsbeschwerden, die zur
Entscheidung angenommen werden, deutlich höher: Von diesen Beschwerden haben
immerhin ein Viertel bis ein Drittel Erfolg (Benda/Klein, zitiert in Schlaich/Korioth
2004: 137; vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 6 dieser Untersuchung).
Mit nur 2,5 % erfolgreichen Verfassungsbeschwerden ist das hohe Vertrauen in
das Bundesverfassungsgericht und das Institut der Verfassungsbeschwerde durchaus
erklärungsbedürftig. Die hohe empirische Legitimität des Gerichts wird aber verständlicher, liest man diese mit Niklas Luhmann als Bestätigung der Annahme, dass
sich Legitimation über den Prozess selbst herstellt (Legitimation durch Verfahren)
und nicht unbedingt (nur) über die substantiellen Ergebnisse desselben (vgl.
Luhmann 1969). Weil das Verfahren (hier die Verfassungsbeschwerde) institutionalisiert ist, schafft es seine Anerkennung quasi selbst: Es wird – unabhängig vom
Ergebnis – akzeptiert, weil die Überzeugung über die Richtigkeit des Verfahrens
abgekoppelt ist vom positiven Ergebnis des Verfahrens. Aus der Akzeptanz des
Verfahrens folgt gleichsam die Akzeptanz des Ergebnisses. Unabhängig davon, ob
man die Luhmannschen Überlegungen teilt oder nicht: Eine Beschwerde an das
höchste Gericht richten zu können, scheint für die Generierung hohen diffusen Vertrauens in dieses zumindest überaus zuträglich zu sein, unabhängig vom Ausgang
des eigenen Streitfalls.
Ein Großteil der beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfassungsbeschwerden betrifft so genannte „Urteilverfassungsbeschwerden“. Obwohl das Bundesverfassungsgericht keine Superrevisionsinstanz ist, kann es letztinstanzliche Urteile
anderer Gerichte am Maßstab der Verfassung und der Grundrechte überprüfen. Zwischen 1991 und 2005 sind 68.502 Urteilsverfassungsbeschwerden in Karlsruhe anhängig geworden, was einem Eingang von 2.000 bis 3.000 solcher Beschwerden pro Jahr
entspricht (vgl. Bundesverfassungsgericht 2006). Setzt man dies mit den insgesamt gut
131.000 durch das Bundesverfassungsgericht seit 1951 entschiedenen Verfassungsbeschwerden in Beziehung, wird deutlich, dass die Verfassungsbeschwerde in den seltensten Fällen nicht in Form einer Urteilsverfassungsbeschwerde erhoben wird. Tatsächlich aufgehoben wurden im gleichen Zeitraum 1.925 Gerichtsurteile, was einer
Erfolgsquote von ebenfalls etwas mehr als 2,5 % entspricht.
Eine zweite Komponente, die sowohl die Offenheit des Zugangs zum Gericht als
auch die vergleichsweise starke Kompetenzausstattung des Bundesverfassungsgerichts verdeutlicht, ist in der konkreten Normenkontrolle, der so genannten Richtervorlage, zu finden. Abgesehen von einstweiligen Anordnungen stellen konkrete
Normenkontrollen die zweithäufigste Verfahrensart des Bundesverfassungsgerichts
185
dar. Die Besonderheit des deutschen Verfassungsrechts besteht hier darin, dass zwar
jeder Richter bei Anwendung eines Gesetzes in einem zu entscheidenden Fall zu
einem Urteil darüber kommen muss, ob die anzuwendende Norm seiner Auffassung
nach dem Grundgesetz entspricht oder nicht; kommt er aber zu dem Schluss, dass
dies nicht der Fall ist, besitzt er nicht die Kompetenz, die Norm von sich aus als
verfassungswidrig zu klassifizieren. Vielmehr muss er die fragliche Norm dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorlegen (dies unterscheidet unter anderem, wie
gesehen, das diffuse vom spezialisierten Verfassungskontrollsystem). Der einzelne
Richter besitzt also eine Prüfungs-, aber keine Verwerfungskompetenz (Schlaich/
Korioth 2004: 103). Diese ist ausschließlich dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten und dort konzentriert. Diese exklusive Zuständigkeit erklärt, weshalb seit
1951 mehr als 1.100 Richtervorlagen durch das Gericht entschieden werden mussten.
Demokratietheoretisch bringt diese Regelung des Grundgesetzes einen großen
Vorteil mit sich: Es ist dem einzelnen Richter nicht erlaubt, sich über den Willen des
(demokratisch stärker legitimierten) Gesetzgebers hinwegzusetzen. Dieser starke
Eingriff in die Autonomie des Parlaments ist exklusiv an eine spezialisierte Instanz
übertragen, die sich sowohl durch eine größere Kompetenz als auch – aufgrund ihrer
Stellung als Verfassungsorgan – durch eine höhere Legitimität auszeichnet. Würde
das „inzidente Prüfungsrecht“ eines jeden Richters auch eine mögliche Annullierung
von Normen implizieren, würden tatsächlich stärkere Zweifel an der Legitimität
eines solchen Rechts aufgeworfen. Unter dem Gesichtspunkt demokratischer Legitimation wäre fraglich, ob sich ein einzelner Richter über den Willen des gewählten
Gesetzgebers hinwegsetzen können sollte. Entsprechend besteht auch der Zweck des
Art. 100 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darin, zu verhindern, dass „jedes einzelne Gericht sich über den Willen des Bundes- oder Landesgesetzgebers hinwegsetze, indem es die von ihnen beschlossenen Gesetze nicht
anwendet […]“ (BVerfGE 1, 184: 197). Die konkrete Normenkontrolle schränkt
nach dieser Lesart den Willen des Gesetzgebers gerade nicht ein, sondern schützt
diesen sogar vor Missachtung durch einzelne Richter (so auch Schlaich/Korioth
2004: 104). Das prozedural-demokratische Argument, dass Normenkontrollverfahren generell den Willen des Gesetzgebers einschränken, kann also geradezu umgedreht werden: Der Wille des Gesetzgebers wird in einem gewaltenteiligen System
erst durch die zentralisierte konkrete Normenkontrolle geschützt.
Allerdings kann diese prinzipielle Schutzfunktion nicht darüber hinwegtäuschen,
dass bei mehr als 1.100 Richtervorlagen zwischen 1951 und 2005 auch im konkreten
Normenkontrollverfahren häufig Gesetze des parlamentarischen Gesetzgebers annulliert oder als mit dem Grundgesetz unvereinbar beurteilt wurden. Aus rechtsstaatlicher Sicht dient die konkrete Normenkontrolle daher vor allem der Sicherung der
Rechtseinheit und der Rechtssicherheit, weniger dem Schutz parlamentarischer
Normen (vgl. Schlaich/Korioth 2004: 105).
In der Vergangenheit sind einige wichtige (und grundrechtsrelevante) Fälle auf
dem Wege der konkreten Normenkontrolle entschieden worden, die auch „aus Grün-
186
den der politischen Opportunität“ (Schlaich/Korioth 2004: 106) nicht von den eigentlich antragsberechtigten Akteuren über den Weg der abstrakten Normenkontrolle angegriffen worden sind. Zu diesen Fällen gehörten beispielsweise das Urteil zum
Eherechtsreformgesetz von 1976 (BVerfGE 53, 224) oder die Entscheidung zur
Verfassungsmäßigkeit der Allgemeinen Wehrpflicht aus dem Jahre 2002 (BVerfGE
105, 61). Zwar sind beide Vorlagen vom Bundesverfassungsgericht abschlägig beschieden worden (die erste aus inhaltlichen Gründen, die zweite wegen Unzulässigkeit der Vorlage), dennoch zeigen beide Beispiele die „politische“ und praktische
Relevanz dieses Klageweges.
Die dritthäufigste Verfahrensart vor dem Bundesverfassungsgericht stellen mit
133 ergangenen Entscheidungen seit 1951 die Wahlprüfungsverfahren dar – noch
vor den abstrakten Normenkontrollverfahren. Wahlprüfungsverfahren stellen, demokratietheoretisch betrachtet, in materieller Hinsicht insofern eine Kernaufgabe der
Verfassungsgerichtsbarkeit in Demokratien dar, als hier über die „Kerninstitution“
der Demokratie selbst gewacht wird: das demokratische Wahlregime (vgl. Kap.
2.1.2 dieser Arbeit). Wenn davon ausgegangen werden kann, dass über den Mechanismus demokratischer Wahlverfahren alle in einer Demokratie relevanten (politischen) Positionen verteilt und damit indirekt Entscheidungen initiiert und Ansprüche
zugeteilt werden, kommt der verfassungsgerichtlichen Prüfung der demokratischen
Wahlen im Falle einer Beanstandung eine besondere Bedeutung für das Funktionieren des demokratischen Systems zu.
Die Wahlprüfung wird in der Bundesrepublik von Parlament und Bundesverfassungsgericht gemeinsam vorgenommen. Art. 41 GG bestimmt, dass der Bundestag
zunächst über die Gültigkeit einer Wahl befinden muss, bevor eine Beschwerde
gegen diese Feststellung beim Bundesverfassungsgericht zulässig ist. Antragsberechtigt sind nach § 48 BVerfGG ein einzelner Abgeordneter, dessen Mitgliedschaft
im Bundestag umstritten ist, ein einzelner Wahlberechtigter, dessen Einspruch gegen
die Gültigkeit der Wahl vom Bundestag zurückgewiesen wurde, eine Fraktion oder
ein Zehntel der Mitglieder des Bundestages. Wird die Gültigkeit der Wahl von einem einzelnen Wahlberechtigten bestritten, müssen mindestens 100 weitere Wahlberechtigte diese Beschwerde unterstützen. In allen Fällen muss eine Beschwerde
innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach Feststellung der Wahlgültigkeit durch
den Bundestag erfolgen.
Die praktische Relevanz der Wahlprüfungsbeschwerde ist vergleichsweise gering:
In der amtlichen Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts ist kein
einziges Wahlprüfungsverfahren aufgeführt, das zur Annullierung einer Wahl geführt hätte. Allerdings hat das Gericht hin und wieder die Gelegenheit genutzt, in
den jeweiligen Urteilen Präzisierungen und Auslegungen vorzunehmen, die Einfluss
auf das jeweilig geprüfte Wahlgesetz hatten. So hat das Gericht beispielsweise anlässlich einer (im Ergebnis abgelehnten) Wahlprüfungsbeschwerde 1998 die Anforderungen an die Nachfolge von ausgeschiedenen Wahlkreiskandidaten präzisiert,
deren Partei im betreffenden Land über Überhangmandate verfügt (BVerfGE 97,
317; siehe hierzu auch Kapitel 6 dieser Arbeit).
187
Die aus Sicht der politischen Akteure vielleicht wichtigste Verfahrensart vor dem
Bundesverfassungsgericht stellt das abstrakte Normenkontrollverfahren dar. Obwohl es nur das vierthäufigste Entscheidungsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist, sind die aus der abstrakten Normenkontrolle heraus ergangenen Urteile
die vermutlich öffentlich am stärksten wahrgenommenen. Politische Akteure können
sich der abstrakten Normenkontrolle aus mehreren Gründen bedienen: Zum einen
kann eine abstrakte Normenkontrolle aus im engeren Sinne politischen Motiven
initiiert werden. Oppositionelle Akteure können diesen Weg nutzen, um im Parlament verlorene Abstimmungen und Entscheidungen über den Umweg des Verfassungsgerichts wieder rückgängig zu machen. Zum anderen kann die Einleitung eines
abstrakten Normenkontrollverfahrens aber auch den ernsthaften Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer von der parlamentarischen Mehrheit beschlossenen Norm
zum Ausdruck bringen: In diesem Fall dient die abstrakte Normenkontrolle einer
effektiven und zügigen Überprüfung einer fraglichen Norm an den Maßstäben der
Verfassung, die ansonsten relativ zeit- und ressourcenaufwändig über konkrete Normenkontrollen oder Verfassungsbeschwerden einzelner Bürger geschehen müsste.
Die abstrakte Normenkontrolle kann also zwei unterschiedlichen Zielen dienen: Sie
kann zur politischen Auseinandersetzung mit einem anderen politischen Akteur
eingesetzt werden, sie kann aber ebenso dazu benutzt werden, ein tatsächlich als
verfassungswidrig wahrgenommenes Gesetz einer zügigen Prüfung zu unterziehen
und so die Verfassungsordnung wirksam und effektiv zu schützen.
Die abstrakte Normenkontrolle ist vor allem deshalb politisch wie rechtlich so
brisant, weil es mit ihr zu einer direkten Gegenüberstellung von Gericht und Parlament kommt. Sie ist der sichtbarste Ausdruck der großen Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts, weil mit der abstrakten Überprüfung von Gesetzesnormen deutlich
wird, wie weitreichend das Gericht in die zentrale Kompetenz des Bundestages, die
Gesetzgebung, eingreifen kann. Während das Bundesverfassungsgericht in anderen
Verfahrensarten seine Zuständigkeit unter Zuhilfenahme formeller Gründe zurückhaltender ausüben kann, indem es zum Beispiel auf seine subsidiäre Tätigkeit (etwa
in Verfassungsbeschwerdeverfahren) verweist und faktisch bestimmte Fragen gar
nicht erst zur Entscheidung annimmt, kommt das Gericht bei abstrakten Normenkontrollklagen in der Regel nicht umhin, eine korrekt eingereichte Klage auch zu
verhandeln und zu entscheiden. Dem Gericht eröffnen sich nur wenige Möglichkeiten, sich einer abstrakten Normenkontrolle durch Nicht-Entscheidung zu entziehen
und auf diesem Weg eine mögliche Konfrontation mit dem Gesetzgeber zu vermeiden (vgl. Schlaich/Korioth 2004: 94).
Antragsberechtigt für abstrakte Normenkontrollverfahren sind die Bundesregierung, Landesregierungen und ein Drittel der Mitglieder des Bundestags (Art. 93
Abs. 1 Nr. 2 GG und §76 Abs. 1 BVerfGG). Nach einer Verfassungsänderung von
1994 (neu eingefügt wurde Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG) kann zudem der Bundesrat,
eine Landesregierung oder ein Landesparlament im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle überprüfen lassen, ob die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG
(Erforderlichkeit einer bundeseinheitlichen Regelung im Rahmen der konkurrieren-
188
den Gesetzgebung) vorliegen. Letzte Regelung hat in der Folge die Stellung der
Bundesländer im Gesetzgebungsverfahren deutlich gestärkt (siehe zur Begrenzung
der Bundeskompetenz durch diese „Erforderlichkeitsklausel“ Korioth 2006), wie
nicht nur das Urteil zum Altenpflegegesetz belegt (BVerfGE 106, 62; vgl. auch
Schlaich/Korioth 2004: 96), sondern auch die Urteile zu den von der rot-grünen
Bundesregierung veranlassten Änderungen des Hochschulrahmengesetzes (BVerf-
GE 111, 226 und 112, 226; vgl. auch Kneip 2007a).
Die letzte „große“ Verfahrensart vor dem Bundesverfassungsgericht stellen die
Organstreitverfahren (Verfassungsstreitigkeiten zwischen Bundes- oder Landesorganen) dar. Organstreitverfahren zeichnen sich im Vergleich zu den oben diskutierten Verfahrensarten dadurch aus, dass hier zunächst nicht direkt die Geltung einer
Norm in Frage steht, sondern die Kompetenzen und Zuständigkeiten unterschiedlicher Verfassungsorgane. Sie stellen so etwas wie den historischen Kern der Verfassungsgerichtsbarkeit dar. Die Verfassungen des 19. Jahrhunderts ließen sich als
„Verträge“ zwischen Monarch und Volks- bzw. Ständevertretung verstehen, die
Zuständigkeiten und Kompetenzen der Akteure zwar festlegten, aber nicht für alle
Konfliktfälle hinreichend klar formuliert waren; Aufgabe der alten „Staatsgerichtshöfe“ war es daher zunächst, Streitigkeiten über Inhalt, Bedeutung und Auslegung
dieser Verfassungen zu klären und auf diesem Wege die Zuständigkeiten der jeweiligen politischen „Organe“ zu definieren (vgl. Schlaich/Korioth 2004: 61 f.).97 Nichts
anderes tut das Bundesverfassungsgericht noch heute, wenn es im Rahmen des Organstreits über die Rechte von Abgeordneten und Fraktionen, der Exekutive oder der
parlamentarischen Minderheit befindet.
Das Bundesverfassungsgericht selbst zählt für den Zeitraum zwischen 1951 und
2005 84 Verfassungsstreitigkeiten zwischen Bundesorganen. Politisch sind Organstreitverfahren deswegen von großer Relevanz, weil in ihnen faktisch nicht nur formale Zuständigkeiten dieses oder jenes Akteurs zum Gegenstand verfassungsgerichtlicher Streitigkeiten werden können, sondern darüber implizit immer auch inhaltlichmaterielle Fragen mitentschieden werden: Wird die Handlung eines Akteurs aus
formalen Gründen in einem Organstreitverfahren als verfassungswidrig beurteilt, hat
dies automatisch auch die Nichtigkeit der Auswirkung dieser Handlung zur Folge.
Deshalb kann aus Sicht der Akteure neben dem Normenkontrollverfahren auch das
Organstreitverfahren ein probates Mittel in der politischen Auseinandersetzung sein.
Antragsberechtigt im Organstreitverfahren sind nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG ein
oberstes Bundesorgan oder ein „anderer Beteiligter“, der durch das Grundgesetz
oder durch die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten
ausgestattet ist (vgl. auch § 63 BVerfGG). Hinter dieser recht kryptischen Formulierung verstecken sich in erster Linie der Bundespräsident, Bundestag und Bundesrat
97 Allerdings sahen die nach 1848/49 entstandenen (deutschen) Verfassungen den Organstreit
nicht mehr vor, weil der Justiz keine Entscheidungsbefugnis in politischen Auseinandersetzungen zugestanden werden sollte; dies galt auch für den Reichsstaatsgerichtshof der Weimarer
Verfassung von 1919, so dass erst mit dem bundesdeutschen Grundgesetz der Organstreit wieder institutionalisiert wurde (Schlaich/Korioth 2004: 62).
189
sowie die Bundesregierung als oberste Bundesorgane (aber auch – in bestimmten
Fällen – der Bundesratspräsident und der Gemeinsame Ausschuss). Teile und Untergliederungen dieser obersten Bundesorgane sind ebenfalls antragsberechtigt,
beispielsweise Bundestags- und Bundesratspräsident, Mitglieder der Bundesregierung, Ausschüsse und Fraktionen, einzelne Abgeordnete, Fraktionen und Gruppen
im Untersuchungssausschuss usw. (vgl. Schlaich/Korioth 2004: 65 ff.). Antragsberechtigt als „andere Beteiligte“ im Sinne des Art. 93 GG sind – jedenfalls nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – außerdem politische Parteien:
Sehen diese sich durch andere Verfassungsorgane in ihrem verfassungsrechtlichen
Status und den sich daraus ergebenden Rechten beeinträchtigt, steht ihnen der Organklageweg offen (vgl. kritisch dazu ebd.: 69 und grundlegend BVerfGE 4, 27, in
dem bestimmt wird, dass politische Parteien diese Rechte nur im Wege des Organstreits, nicht aber über eine Verfassungsbeschwerde geltend machen können). Der
Kreis der Antragsberechtigten ist also im Organstreitverfahren recht weit gezogen,
allerdings bietet der Organstreit im Gegensatz zum Normenkontrollverfahren den
Bundesländern (und damit auch den „oppositionellen“ Ländern) keine Klagemöglichkeit, da die Länder nicht als Teilorgan des Bundesorgans Bundesrat angesehen
werden.98 Mit Ausnahme der Klagemöglichkeit für außerparlamentarische Parteien
beschränkt sich diese Antragsberechtigung also vornehmlich auf parlamentarische
Akteure bzw. solche der Exekutive. Im Gegensatz zur abstrakten Normenkontrolle
muss der Antragsteller aber glaubhaft machen können, dass die angegriffene Maßnahme ihn direkt in seinen Rechten verletzt oder „unmittelbar gefährdet“ (§ 64 Abs.
1 BVerfGG). Zudem muss der Antrag innerhalb einer Frist von 6 Monaten gestellt
werden, nachdem die beanstandete Maßnahme getroffen worden ist.
Betrachtet man die zentralen Kompetenzen und wichtigsten Verfahrensarten des
Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang, wird nochmals deutlich, weshalb
das Gericht zu Recht als eines der „stärksten“ im internationalen Vergleich gilt: Es
bündelt in seinem Kompetenzkatalog fast alle wichtigen Kompetenzen, mit denen
ein Verfassungsgericht ausgestattet sein kann (mit Ausnahme der Popularklage).
Schon die institutionell ermöglichte Verfassungsbeschwerde führt zu einer großen
Zahl an Verfahrenseingängen beim Bundesverfassungsgericht, die in der Vergangenheit auch durch die hohe Misserfolgsquote der Verfassungsbeschwerden nicht
vermindert werden konnte. Über die Verfassungsbeschwerde wird das Gericht in die
Lage versetzt, Normen und Entscheidungen nicht nur auf Antrag politischer Akteure, sondern auch auf Antrag einzelner Bürger zu überprüfen. Durch die Ausweitung
des Antragsrechts über die politischen Akteure hinaus erhöhen sich die Wahrscheinlichkeit einer Aktivierung des Gerichts und damit implizit auch die Justizialisierungstendenzen der Politik. Das Verfassungsbeschwerdeverfahren steigert damit auf
der einen Seite die Aktivierungshäufigkeit des Bundesverfassungsgerichts und seine
Machtstellung im politischen Prozess; auf der anderen Seite vermag es aber auch
98 Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern müssen daher über ein Bund-Länder-
Streitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG ausgetragen werden.
190
eine höhere Legitimität des Rechtsstaates und der rechtsstaatlichen Demokratie zu
generieren, weil Bürgerinnen und Bürger nicht darauf vertrauen müssen, dass politische Akteure an ihrer statt fragliche Normen oder Entscheidungen überprüfen lassen, sondern es ihnen selbst überlassen bleibt, mit einer begründeten Klage nach
Karlsruhe zu ziehen. Dies hat die (prinzipiell positive) Folge, dass auch solche Normen einer Überprüfung unterzogen werden, die von den politischen Akteuren im
Konsens verabschiedet worden sind und von ihnen selbst nicht angegriffen würden.
Das Verfassungsbeschwerdeverfahren erweitert also sowohl den Kreis der Antragsberechtigten als auch die Häufigkeit von Beschwerdeverfahren insgesamt. Das zunächst paradox anmutende Ergebnis dieser institutionellen Regel: Das Verfassungsbeschwerdeverfahren stärkt implizit den Akteur Verfassungsgericht auf Kosten des
Gesetzgebers, verbessert aber prima facie die Qualität der Demokratie, da sich jenseits der (partei-)politischen Akteure auch jeder einzelne Bürger als Subjekt des
Rechtsstaates und Auslöser von Kontrollhandlungen begreifen kann.
Eine ebensolche Stärkung des Akteurs Bundesverfassungsgericht lässt sich der
konkreten Normenkontrolle zuschreiben. Auch diese erhöht auf der einen Seite die
Machtposition des Gerichtes, weil nur diesem die Entscheidung über die Geltung
einer Gesetzesnorm obliegt. Demokratietheoretisch ist zu begrüßen, dass nicht jeder
Richter zum „Gegenspieler“ des Parlamentes werden kann, indem er Gesetzesnormen von sich aus annullieren kann; wäre dies der Fall, stellte sich die Frage nach der
Legitimation des judicial review noch sehr viel stärker als im Fall des Bundesverfassungsgerichts ohnehin schon. Verkannt werden sollte auf der anderen Seite aber
auch nicht, dass die Richtervorlage ein weiteres Einfallstor für eine häufigere Aktivierung des obersten deutschen Gerichts in (mitunter politisch strittigen) Verfahren
darstellt. Ob man dies bedauern oder begrüßen muss, hängt allerdings eher von den
konkreten Urteilen des Gerichts und weniger von der Häufigkeit seiner Aktivierung
ab (vgl. hierzu Kapitel 6 dieser Untersuchung).
Die von ihrer praktischen Relevanz drittwichtigste Ursache für die starke Stellung
des Bundesverfassungsgerichts ist die institutionelle Ausgestaltung des abstrakten
Normenkontrollverfahrens. Auch dieses stärkt die Stellung des Bundesverfassungsgerichts, weil es politischen Akteuren einen relativ leicht zu beschreitenden Klageweg eröffnet und somit die Befassung des Bundesverfassungsgerichts mit einer
umstrittenen Norm wahrscheinlicher macht – unabhängig davon, ob politische Akteure diesen Klageweg aufgrund politischer „Obstruktion“ oder „echter“ verfassungspolitischer Sorge beschreiten. Anders als etwa im Verfassungsbeschwerdeverfahren, in dem viele Anträge aus formalen Gründen gar nicht erst zur Entscheidung
angenommen werden, ist es dem Gericht im abstrakten Normenkontrollverfahren
praktisch nur schwer möglich, einer Entscheidung in der Sache auszuweichen. Vor
allem für (oppositionelle) Landesregierungen stellt das abstrakte Normenkontrollverfahren eine hervorragende Möglichkeit dar, politisch missliebige Normen über
den Umweg des Verfassungsgerichts doch noch zu verhindern.
Das Organstreitverfahren ergänzt dieses Bild. Auch dieses Verfahren weist dem
Bundesverfassungsgericht Machtressourcen zu, weil das Gericht auch im Organ-
191
streitverfahren grundsätzliche, über den Einzelfall hinaus gehende Urteile fällen
kann, durch die politische Akteure in der Zukunft gebunden werden. Zudem werden
auch über diesen Weg häufig parteipolitische Machtkonflikte unter dem Deckmantel
verfassungsrechtlicher Klärungen ausgetragen. Der Organstreit erhöht den faktischen Handlungsspielraum des Bundesverfassungsgerichts zusätzlich, und die politischen Wirkungen der Organstreitentscheidungen sind mitunter erheblich (siehe etwa
den im Wege einer Organklage eingeführten „Parlamentsvorbehalt“ bei der Entsendung der Bundeswehr ins Ausland, BVerfGE 90, 286).
Alle vier hier diskutierten, institutionell eröffneten Verfahrenswege erhöhen also
sowohl die Aktivierungswahrscheinlichkeit als auch die faktische Aktivierungshäufigkeit des Bundesverfassungsgerichts und stärken damit auch dessen Position im Zusammenspiel der demokratischen Gewalten. Dies ist aber nur die eine Seite des verfassungsgerichtlichen Spiels. Diese institutionell eröffneten Wege müssen auch tatsächlich von Akteuren beschritten werden, damit die Kompetenzfülle des Gerichts zur
Wirkung gebracht werden kann. Dies lenkt den Blick auf die institutionelle Umgebung
des Gerichts und die Akteurskonstellationen, die bei der Aktivierung des Bundesverfassungsgerichts eine Rolle spielen (und die in Kapitel 5.3 untersucht werden).
Bevor dieser Zusammenhang eingehend diskutiert wird, soll aber zunächst ein
Blick auf die Organisation und die Zusammensetzung des Akteurs Bundesverfassungsgericht selbst geworfen werden. Geht man von einer strategischen Interaktionsbeziehung zwischen Gericht und politischen Akteuren aus, dann sollten nicht nur
die Kompetenzausstattung und die institutionellen Zugangsmöglichkeiten zum Gericht als Anreize zur Aktivierung des Gerichts wirken, sondern auch die perzipierten
Erfolgsaussichten der Kläger. Teile der Literatur und die Argumente der oben diskutierten mikrotheoretischen Theorien (vgl. Kapitel 3.2.1) legen nahe, dass die richterliche Zusammensetzung eines Verfassungsgerichts die Perzeption dieser Erfolgsaussichten in hohem Maße prägt. Zunächst muss daher betrachtet werden, aus welchen
Richtern sich das Bundesverfassungsgericht zusammensetzt (bzw. zusammengesetzt
hat) und wie diese Richter (aus)gewählt werden.
5.2.2 Organisation, Zusammensetzung und Richterauswahl
Die Richterauswahl und die richterliche Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts sind in zweierlei Hinsicht für die hier interessierenden Fragen bedeutsam:
Nimmt man erstens – wie manche der oben diskutierten Theorien – an, dass Richterinnen und Richter ihre Urteile nicht ausschließlich nach rechtlichen Kriterien fällen,
sondern vor allem in den Fällen, in denen klare rechtliche Maßstäbe fehlen, auch
ihre eigenen politischen oder gesellschaftspolitischen Vorstellungen zwangsläufig in
die Urteilsfindung mit einfließen lassen, dann ist die Zusammensetzung eines Gerichts und der Modus der Auswahl seiner Richter relevant für die Art und Weise,
wie Gerichte ihre Kompetenzen inhaltlich ausüben. Gerichte, die mehrheitlich mit
politisch liberalen Richtern besetzt sind, werden in Streitfällen um die Reichweite
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Zusammenfassung
Verfassungsgerichte sind machtvolle Akteure und zentrale Mitspieler in fast allen liberalen Demokratien. Gleichwohl wird ihre Demokratiekompatibilität mitunter in Frage gestellt, wenn sie – demokratisch vergleichsweise schwach legitimiert – in demokratische Prozesse intervenieren.
Der vorliegende Band analysiert die spezifischen Funktionen, die Verfassungsgerichte für demokratische Regierungssysteme erbringen und argumentiert, dass Verfassungsgerichte nicht nur keine Gegenspieler demokratischer Politik sind, sondern dass sie für demokratisches Regieren schlichtweg konstitutiv sind. Anhand einer umfassenden Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der letzten 55 Jahre wird empirisch belegt, dass das höchste deutsche Gericht in der Vergangenheit überaus demokratiefunktional agiert und damit wesentlich zur hohen Qualität der bundesdeutschen Demokratie beigetragen hat.
Sascha Kneip ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Demokratieforschung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).