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5 Das Bundesverfassungsgericht: Institutionelle Strukturen und
Ursachen seiner starken Stellung
Das Bundesverfassungsgericht gilt im internationalen Vergleich schon lange als
eines der mächtigsten und aktivsten Verfassungsgerichte (vgl. z. B. Landfried 1992;
Clemens 1995; Guggenberger/Würtenberger 1998; Höffe 1999; Scholz 1999; Wahl
2001a; van Ooyen/Möllers 2006a). Nicht selten ist es als „Ersatzgesetzgeber“
(Scholz 1999; Blasberg 2003) bewundert oder geschmäht, als „Neben-“ oder „Gegenregierung“ bezeichnet oder sogar als „Reparaturbetrieb des Parlamentarismus“
(Schneider 1999a) charakterisiert worden. Die Perzeption des Gerichtes als mächtiges und aktives rührt vor allem aus zwei Quellen: aus seiner im internationalen Vergleich starken institutionellen Ausstattung (siehe hierzu auch die Ergebnisse des
vorangegangenen Kapitels) und aus seinem faktischen Agieren in den mehr als 55
Jahren seines Bestehens. Beides soll in den folgenden beiden Kapiteln eingehender
untersucht werden.
Zwei Fragen stehen im Mittelpunkt dieses Abschnittes: Zum einen soll noch einmal systematisch herausgearbeitet werden, welche institutionellen Ausstattungen aus
dem Bundesverfassungsgericht ein formal „starkes“ und „mächtiges“ Gericht machen. Zum anderen wird untersucht, inwiefern durch das institutionelle Zusammenspiel von Bürgern, politischen Akteuren und Gericht(en) diese institutionelle Ausstattung auch in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik wirksam wird und
wie sich dieses Zusammenspiel im Zeitverlauf entwickelt hat. Im nächsten Kapitel
kann dann untersucht werden, auf welche Art und Weise das Bundesverfassungsgericht seine institutionell vorhandenen Kompetenzen in der Vergangenheit faktisch
ausgeübt hat und welche Auswirkungen dies auf die Qualität der bundesdeutschen
Demokratie hatte (Kapitel 6).
Zu Beginn der Arbeitsaufnahme des Gerichts im Jahr 1951 zeichnete sich keineswegs so deutlich ab, dass das Gericht einmal eine solch starke Stellung im politischen System der Bundesrepublik Deutschland würde einnehmen können. Zwar war
die grundgesetzliche Institutionalisierung des Bundesverfassungsgerichtes im Parlamentarischen Rat letztlich nicht umstritten (vgl. zur Debatte im Parlamentarischen
Rat Niclauß 2006). Zunächst war dort allerdings diskutiert worden, entweder – zusätzlich zum Bundesverfassungsgericht – ein einheitliches oberstes Bundesgericht
zu installieren (dem die Aufgabe zufallen sollte, die Einheit der Rechtsordnung und
der Rechtsprechung zu sichern) oder innerhalb eines obersten Bundesgerichts eine
gesonderte Kammer für Verfassungsstreitigkeiten einzurichten (Niclauß 1998: 235;
siehe auch Parlamentarischer Rat 2002: XCII ff.). Zudem wurde diskutiert, alternativ
ein Verfassungsgericht zu errichten, das sich ausschließlich mit verfassungsrechtlichen Streitigkeiten zwischen politischen Organen befassen sollte, wie dies in der
Konstruktion des Weimarer Staatsgerichtshofs der Fall gewesen war. Dies fand im
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Parlamentarischen Rat aber ebenso wenig eine Mehrheit wie die „Kammerlösung“
(vgl. hierzu auch Kommers 1976: 72 ff.).
Wäre ein einheitliches Oberstes Bundesgericht90 anstelle der später gewählten diffusen Lösung mit fünf Bundesgerichten (Bundesgerichtshof, Bundesarbeitsgericht,
Bundesfinanzhof, Bundessozialgericht, Bundesverwaltungsgericht) gewählt worden,
hätte dies die Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichtes insofern beeinflusst, als seine zentrale Machtstellung im politischen Gefüge der Bundesrepublik
deutlich relativiert worden wäre. Dies legen zumindest die Diskussionen im Parlamentarischen Rat (Parlamentarischer Rat 2002: CIV ff. und 144 ff.) nahe, aber auch
die empirischen Befunde aus solchen Ländern, in denen neben einem Verfassungsgericht ein weiteres zentralisiertes oberstes (Appellations-)Gericht eingerichtet worden
ist, wie etwa in Italien mit dem Kassationsgerichtshof (vgl. Di Federico/Guarnieri
1988; Pizzorusso 1988; de Franciscis/Zannini 1992). Das Vorhandensein eines
zweiten obersten Gerichts relativiert die Stellung eines Verfassungsgerichts deshalb,
weil mit dieser Doppelstruktur in der Regel eine Kompetenzteilung einhergeht, die
der Verfassungsgerichtsbarkeit zwar die Lösung von Verfassungsstreitigkeiten im
engeren Sinne zuweist, ihm aber keine supremative Stellung im Justizgefüge insgesamt zubilligt. Dem Bundesverfassungsgericht würde es in einer solchen Doppelstruktur beispielsweise deutlich schwerer fallen, Urteile von anderen obersten
Bundesgerichten zu überprüfen und gegebenenfalls aufzuheben. Der Verzicht auf
die Einrichtung eines einheitlichen Obersten Bundesgerichts hat damit von Beginn
an die Vormachtstellung des Bundesverfassungsgerichts im Rechtssystem der
Bundesrepublik faktisch impliziert.
Die in den Beratungen des Parlamentarischen Rates zum Ausdruck kommende
Demokratievorstellung sah in der Judikative von Beginn an die „dritte Säule“ der
neu zu konstituierenden Bundesrepublik Deutschland. Mit dieser grundsätzlichen
Entscheidung ging die von allen Teilnehmern geteilte Auffassung einher, dass eine
unabhängige Rechtsprechung als wesentlicher Bestandteil einer liberalen Demokratie gedacht werden müsse und dass eine starke Judikative zum Wesensgehalt moderner Demokratien gehöre. Eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit war daher von
Beginn der Beratungen an eine von allen Teilnehmern gewünschte Option.
Hingegen herrschten unter anderem unterschiedliche Vorstellungen darüber vor,
inwieweit die Sphären des Rechts und der Politik institutionell zu trennen seien und in
welcher Weise das Justizwesen politisch kontrolliert werden sollte: Insbesondere die
Vertreter der christlich-konservativen und liberalen Parteien im Parlamentarischen Rat
hingen der alten rechtspositivistischen Auffassung an, dass Recht und Politik zwei
strikt zu trennende Sphären seien, die nicht verwischt werden dürften. Konsequenterweise plädierte diese Seite daher für einen Verfassungsgerichtshof alter Prägung, der –
durch ein professionelles Auswahlverfahren besetzt – in erster Linie staatsrechtliche
Streitigkeiten lösen sollte. Ganz anders die Vertreter der Sozialdemokratie: Sie plädier-
90 Bis 1968 sahen die Artikel 92 und 95 GG die Einrichtung dieses Obersten Bundesgerichtes
noch vor, bevor der Passus gestrichen wurde; eingerichtet wurde dieses Gericht nie.
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ten für ein Verfassungsgericht, das – an der Spitze des gesamten Justizsystems stehend
– für die Auslegung des gesamten Grundgesetzes zuständig sein sollte und das schon
in seiner Zusammensetzung die Untrennbarkeit von Recht und Politik sichtbar machen
sollte. Die Sozialdemokraten plädierten damit für eine umfassende Rolle des neu zu
schaffenden Bundesverfassungsgerichts im politischen System der Bundesrepublik
Deutschland, während die christlich-liberalen Vertreter eine deutlich eingeschränkte
Funktion des Gerichtes präferierten (vgl. Kommers 1976: 76).
Besonders sichtbar wurden diese Meinungsunterschiede in den Debatten über den
Mechanismus und die Art der Personalbestellung der höchsten Gerichte: Während die
eine Seite den neu zu begründenden „Verfassungsgerichtshof“ ausschließlich mit
(professionellen) Richtern besetzt sehen wollte, machte die andere Seite geltend, dass
gerade bei verfassungsrechtlichen Streitigkeiten die Gefahr bestehe, dass Berufsrichter Dinge für Rechtsfragen halten könnten, die in Wirklichkeit „politische Fragen“
seien (vgl. Niclauß 1998: 237). Insbesondere Carlo Schmid, für die SPD Mitglied des
Verfassungskonvents, hielt es für wünschenswert, gerade das Verfassungsgericht
auch mit solchen Personen zu besetzen, die verfassungsrechtliche Streitigkeiten aus
politischer Sicht beurteilen konnten. Da ein Verfassungsgericht neben rechtlichen
immer auch politische Fragen zu berücksichtigen habe, hielt Schmid es für unerlässlich, auch „politische Menschen“ als Verfassungsrichter berufen zu können (ebd.).
Die zweite größere Kontroverse betraf den Modus der Richterbestellung: Während
die eine Seite für eine Ernennung der Richter durch den Justizminister oder die Regierung als Kollektiv plädierte, schlug die andere Seite die Einrichtung von Richterwahlausschüssen vor, in denen unter Beteiligung der Legislative Richterinnen und
Richter bestellt werden sollten. Auch hier trat einmal mehr die unterschiedliche Auffassung hinsichtlich der „Professionalisierung“ des Bundesverfassungsgerichts zu
Tage: Während die eine Seite mit der Ernennung durch den Justizminister einen rein
professionellen Auswahlmechanismus präferierte,91 betonte die andere Seite die
Notwendigkeit, über die Auswahl durch legislative Körperschaften auch eine politische Legitimation zu gewährleisten, die durch ein rein exekutives Verfahren nur
unzureichend hergestellt werden könnte. Der Vorschlag der Sozialdemokraten, Richterwahlausschüsse einzurichten, war offenkundig der Einsicht (und den Weimarer
Erfahrungen) geschuldet, dass nicht nur die fachliche Qualifikation der Richterinnen
und Richter, sondern auch ihre „demokratische Qualifikation“ bei der Auswahl eine
Rolle spielen sollte (vgl. Niclauß 1998: 240).92
91 Interessant ist, dass die Vertreter dieser Position zwar einerseits eine problematische politische
Einflussnahme über den Richterwahlausschuss befürchteten, andererseits aber in der direkten Bestellung der Richter durch die Regierung oder gar einen einzelnen Minister keine Beeinträchtigung der Unabhängigkeit des Gerichtes sahen (so auch Niclauß 1998: 242). Offenkundig erschien
den Befürwortern einer exekutiven Bestellung der Richter die Regierung vertrauenswürdiger als
die (parteipolitisch zusammengesetzte) Legislative. Demokratietheoretisch ist diese Position eher
nicht nachzuvollziehen (vgl. auch die Ausführungen hierzu in Kap. 4 dieser Arbeit).
92 Dies spielt für den heutigen Richterwahlausschuss keine herausragende Rolle mehr. Allerdings
kommen nun – neben der fachlichen Qualifikation – andere Qualitätsmerkmale hinzu, etwa eine weitgehende parteipolitische Unauffälligkeit bzw. Überparteilichkeit. So hatte beispielswei-
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Zwei Dinge an dieser Debatte im Parlamentarischen Rat sind bemerkenswert:
Zum einen zeigt sich bereits in diesen frühen Debatten die „Zwitterstellung“ des
Bundesverfassungsgerichts zwischen Politik und Recht. In ihnen kommt zum einen
die Sorge zum Ausdruck, dass das Gericht zu sehr „politisch“ motiviert agieren
könnte, zum anderen aber auch die Einsicht, dass es durch seine Machtfülle, seine
Kompetenzen und seine Funktion im politischen System notgedrungen auch politischer Akteur ist. Ein Ergebnis dieses Erkenntnisprozesses ist die heute gültige Regelung, dass nicht nur professionelle Richter der obersten Bundesgerichte zu Verfassungsrichtern berufen werden können, sondern prinzipiell jede Person, die die formale Befähigung zum Richteramt (erstes und zweites juristisches Staatsexamen)
mitbringt. Dies spricht auch solchen Personen die Befähigung zum Verfassungsrichteramt zu, die verfassungsrechtliche Konflikte aus Sicht der „Politik“ zu bewerten
verstehen, wie dies Carlo Schmid gefordert hatte. In der gemischten Zusammensetzung der Richterinnen und Richter spiegelt sich somit auch die Stellung des Gerichts
im politischen System insgesamt wider.
Zum anderen fällt auf, dass sich die Debatte über die politische Kontrolle des
Bundesverfassungsgerichtes von Beginn an vor allem auf die Bestellung der Richterinnen und Richter bezogen hat. Zwar betonte der Parlamentarische Rat mehrfach,
dass der Bundesgesetzgeber über das Bundesverfassungsgerichtsgesetz prinzipiell
immer die Möglichkeit haben solle, die institutionelle Macht des Bundesverfassungsgerichts zu erweitern oder zu beschränken (und überließ diese Aufgabe auch
ausdrücklich dem ersten deutschen Bundestag); hinsichtlich einer direkten Beeinflussung des Gerichts durch die Politik herrschte im Parlamentarische Rat aber Konsens, dass dies ausschließlich über die personelle Zusammensetzung des Gerichts
erfolgen sollte; weitergehende Kontrollmechanismen wurden im Parlamentarischen
Rat offenkundig nicht diskutiert. Mit anderen Worten: Mit der Beschränkung der
direkten Einflussnahme auf das Gericht ausschließlich über die Richterauswahl war
von Anfang an ein relativ hoher institutioneller Autonomiegrad des Gerichts angelegt. Und da sich bezüglich der Richterwahl letztlich auch die Position derer durchsetzte, die einen Richterwahlausschuss einer Ernennung durch den Justizminister
vorzogen, wurde auch diese Einflussnahme vergleichsweise moderat ausgestaltet
und trug so von Anfang an zu einer erhöhten institutionellen Autonomie des Bundesverfassungsgerichts bei.
Allerdings schränkten zu Beginn der Arbeitsaufnahme des Gerichts andere institutionelle Mechanismen diese Autonomie ein. Bis 1953 gehörte das Bundesverfassungsgericht zum Geschäftsbereich des Bundesjustizministers und war dadurch auch
dem Etat des Justizministeriums zugeordnet. Es bedurfte erst einer „ersten Krise“
se die Kandidatur der ehemaligen SPD-Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin für das Amt
der Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts zu Beginn der 1990er Jahre keine Aussicht
auf Erfolg, weil sie parteipolitisch zu profiliert und daher (vor allem dem politischen Wettbewerber CDU/CSU) nicht zu vermitteln gewesen ist. Auch in der Vergangenheit sind Personen,
die den politischen Akteuren als politisch zu liberal oder zu konservativ galten, nicht zu Verfassungsrichtern gewählt worden (vgl. Kommers 1976: 113 ff.).
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(Uwe Wesel) zwischen Bundesregierung und Gericht im Zuge der Verfassungsstreitigkeiten um den EVG-Vertrag und einer „Denkschrift“ durch den damaligen Verfassungsrichter Gerhard Leibholz, bevor das Bundesverfassungsgericht als selbständiges Verfassungsorgan mit eigenem Etat agieren konnte. Erstmals erhielt das Gericht im Haushaltsgesetz 1953/54 einen eigenen Etat, und zugleich wurde durch eine
Änderung des Bundesbeamtengesetzes die Ressortierung der Bundesverfassungsgerichtsbeamten beim Justizminister abgeschafft. Diese waren zukünftig dem Präsidenten des Gerichts unterstellt (vgl. Wesel 2004: 76 ff.).93 Mit den vorgenommenen
Änderungen des Jahres 1953 war auch die Statusfrage des Gerichts faktisch entschieden: War zuvor unklar, ob das Bundesverfassungsgericht nun normales „Gericht“ oder unabhängiges „Verfassungsorgan“ sein sollte (§ 1 BVerfGG spricht
lediglich davon, dass das Gericht „ein Gerichtshof des Bundes“ ist), hatte sich das
Gericht damit als oberstes Verfassungsorgan etabliert.
Wie sich diese hohe institutionelle Autonomie des Gerichts nun heute genau darstellt und inwieweit sie sich in einen hohen Aktivitätsgrad und eine hohe Machtfülle
übersetzt, soll in den folgenden Abschnitten näher untersucht werden. In diesem
Rahmen wird auch zu hinterfragen sein, ob das Bundesverfassungsgericht tatsächlich ein solch „aktives Gericht“ ist, als das es gerne gesehen wird.
5.1 Verfassungsrechtliche Grundlagen und gesetzliche Bestimmungen
Die Beratungen des Parlamentarischen Rates mündeten in zwei konkrete Resultate:
In die Festschreibung der generellen Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit (und
des Justizwesens insgesamt) im Grundgesetz und in den Auftrag an den ersten Bundesgesetzgeber, die Einzelheiten der Funktionen und Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts in einem gesonderten Gesetz festzulegen. Die Verfassungsnormen
und die aufgrund dieser Normen vorgenommene gesetzliche Ausgestaltung des „Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht“ vereinen diejenigen institutionellen Regeln, die zunächst über den formalen Kompetenzumfang und die Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts entscheiden. Ein kurzer Blick auf diese Normen erscheint also
angebracht, bevor im nächsten Schritt die Kompetenzen des Gerichtes im Lichte der
institutionellen Anreizstrukturen des politischen Systems genauer betrachtet werden.
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland findet das Bundesverfassungsgericht in 15 unterschiedlichen Verfassungsartikeln insgesamt 26 Mal Erwähnung.
Obwohl die Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Wesentlichen dem
Bundesverfassungsgerichtsgesetz überlassen wird, werden doch die zentralen Funk-
93 Die Haushaltsautonomie ist für die Unabhängigkeit und Durchsetzungsfähigkeit von verfassungsgerichtlichen Akteuren kein unbedeutender Punkt: Besitzt die Exekutive die Kontrolle
über die Finanzmittel des Gerichtes, kann die unabhängige Entscheidungsfindung bei politisch
heiklen Verfahren eingeschränkt sein, da politische Akteure über die Budgetierung das Gericht
potentiell abstrafen können.
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tionen schon im Verfassungstext beschrieben und festgelegt. Hierzu zählen beispielsweise das Recht, über die Verwirkung von Grundrechten zu entscheiden (Art.
18 GG), die Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Parteien (Art. 21 GG), die
Überprüfung der durch den Bundestag ausgeübten Wahlprüfung (Art. 41 GG), die
Amtsanklage gegen den Bundespräsidenten (Art. 61 GG), die Richteranklage (Art.
98 GG) und das Mängelrügeverfahren im Rahmen der Landeseigenverwaltung (Art.
84 Abs. 4 GG). Zudem entscheidet das Bundesverfassungsgericht über das Fortgelten von Recht als Bundesrecht (Art. 126 GG). Nachdem Art. 92 GG das Bundesverfassungsgericht als Teil der rechtsprechenden Gewalt definiert (und es damit formal
eindeutig als Teil des Gerichtswesens kennzeichnet), werden in Art. 93 GG (sowie
in dem auf Art. 93 Abs. 2 GG beruhenden Bundesverfassungsgerichtsgesetz) die
Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichtes abschließend aufgezählt (vgl. Jarass/
Pieroth 2004: 1042). Hierzu zählen die Zuständigkeit bei Bundesorganstreitigkeiten
(Abs. 1 Nr. 1), abstrakte Normenkontrollverfahren (Abs. 1 Nr. 2 und 2a), Bund-
Länder-Streitigkeiten (Abs. 1 Nr. 3), Länder- und Landesstreitigkeiten (Abs. 1 Nr.
4), Verfassungsbeschwerden (Abs. 1 Nr. 4a) und Kommunalverfassungsbeschwerden (Abs. 1 Nr. 4b). Artikel 94 GG regelt die personelle Besetzung, Organisation
und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, soweit dies nicht im Bundesverfassungsgerichtsgesetz näher geregelt ist.
Entsprechend der Beratungen des Parlamentarischen Rates bestimmt das Grundgesetz lediglich, dass das Bundesverfassungsgericht aus „Bundesrichtern und anderen Mitgliedern“ besteht und dass seine Mitglieder je zur Hälfte von Bundestag und
Bundesrat gewählt werden (Art. 94 Abs. 1). Absatz 2 legt fest, dass ein Bundesgesetz Verfassung und Verfahren des Gerichts regelt und zudem bestimmt, wann Entscheidungen des Gerichts Gesetzeskraft erlangen. Zugleich werden die Anforderungen an Verfassungsbeschwerden dahingehend präzisiert, dass eine vorherige Erschöpfung des Rechtswegs zur Voraussetzung der Annahme einer Verfassungsbeschwerde gemacht werden kann. Ebenso können nach dieser Norm „besondere
Annahmeverfahren“ vorgesehen werden, was jedoch nach herrschender Lehre nicht
bedeutet, dass dem Bundesverfassungsgericht ein „freies Annahmeverfahren“ nach
US-Vorbild möglich wäre: Ein solches „freies Annahmeermessen […] wäre von der
Ermächtigung nicht gedeckt“ (Jarass/Pieroth 2004: 1082).
Artikel 99 GG ermöglicht es zudem, Landesstreitigkeiten vor dem Bundesverfassungsgericht klären zu lassen. Artikel 100 GG schließlich behandelt die Einholung
verfassungsgerichtlicher Entscheidungen durch Gerichte, also die über den Weg der
konkreten Normenkontrolle (Richtervorlage) herbeizuführende Normprüfung durch
das Bundesverfassungsgericht. Zum anderen wird dem Gericht dort die Entscheidungskompetenz in der Frage zugewiesen, wann völkerrechtliche Normen als Teil
des Bundesrechts anzusehen sind. Schließlich wird auch die so genannte „Divergenzvorlage“ geregelt, die dann Anwendung findet, wenn ein Verfassungsgericht
eines Bundeslandes von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes oder
eines anderen Landesverfassungsgerichts abweichen möchte; ist dies der Fall, muss
eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eingeholt werden.
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Auf die herausgehobene Stellung des Gerichtes im politischen System der Bundesrepublik Deutschland weisen zudem die Normen hin, die im Verteidigungsfall
Anwendung finden. So legt Art. 115g GG ausdrücklich fest, dass die „verfassungsmäßige Stellung und die Erfüllung der verfassungsmäßigen Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts und seiner Richter“ auch im Verteidigungsfall nicht beeinträchtigt werden dürfen. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz darf durch den im Verteidigungsfall entscheidenden Gemeinsamen Ausschuss nur nach Zustimmung des
Gerichts selbst geändert werden und seine Funktion ansonsten nicht beeinträchtigt
werden. Mit dieser Vorschrift wird deutlich, dass auch Notstandsmaßnahmen prinzipiell der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen (Jarass/Pieroth 2004:
1250). Art. 115g GG stärkt damit – im Vergleich zur Verfassungspraxis anderer
westlicher Demokratien keineswegs selbstverständlich – die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit auch in Krisenzeiten.
Das „Gesetz über das Bundesverfassungsgericht“ (kurz: Bundesverfassungsgerichtsgesetz – BVerfGG) konkretisiert und ergänzt die im bundesdeutschen Grundgesetz festgeschriebenen Verfahren, Aufgaben und Kompetenzen. Die einzige hier
angeführte, nicht schon im Text des Grundgesetzes erwähnte Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts ist jene zur Überprüfung der Vereinbarkeit eines Beschlusses
des Deutschen Bundestages zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses mit
dem Grundgesetz (§ 13 Abs. 11a BVerfGG). Bezüglich der Kompetenzen und Verhandlungsgegenstände konkretisiert das Gesetz ansonsten lediglich die bereits im
Grundgesetz verankerten Kompetenzen.
Die vielleicht wichtigste Bestimmung bezüglich der übergeordneten Stellung des
Bundesverfassungsgerichtes ist in § 31 Abs. 1 BVerfGG festgehalten. Hier heißt es:
„Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane
des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.“ Absatz 2 legt dar-
über hinaus fest, in welchen Fällen Entscheidungen des Gerichts zugleich Gesetzeskraft entfalten: Dies gilt bei Entscheidungen im Rahmen der abstrakten und konkreten Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a und Art. 100 Abs.
1 GG), bei der Feststellung von Völkerrecht als Bundesrecht (Art. 100 Abs. 2 GG)
und bei Meinungsverschiedenheiten über das Fortgelten von Recht als Bundesrecht
(Art. 126 GG). Gleiches gilt für die Fälle von Verfassungsbeschwerdeverfahren, in
denen ein Gesetz für vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt wird. In
diesen Fällen muss die Entscheidungsformel des Gerichts im Bundesgesetzblatt
veröffentlicht werden (§ 31 Abs. 2 BVerfGG).
Für die Macht und Durchsetzungsfähigkeit eines Gerichts und seiner Richter ist
ferner nicht unerheblich, welche Mehrheiten zur Entscheidungsherstellung erforderlich sind. Wie für andere Gerichte gilt auch für das Bundesverfassungsgericht, dass
in der Regel Entscheidungen mit einfacher Mehrheit getroffen werden können. Allerdings benennt §15 Abs. 4 BVerfGG solche Fälle, in denen eine Zweidrittelmehrheit des jeweiligen Senats für eine für den Antragsgegner nachteilige Entscheidung
notwendig ist: Dies ist der Fall bei Verfahren über die Verwirkung von Grundrechten, der Verfassungswidrigkeit von Parteien, der Anklage gegen den Bundespräsi-
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denten und bei Richteranklagen gegen Bundes- und Landesrichter. Diese Vorschriften schränken die Macht des Bundesverfassungsgerichts nicht prinzipiell ein, erhöhen aber die Legitimationsschwellen für ein entsprechendes Votum des Gerichts.
Aufgrund der symmetrischen Besetzung der beiden Senate des Gerichts94 ist zudem
von Bedeutung, dass bei Stimmengleichheit in einem Senat kein Verfassungsverstoß
festgestellt werden kann (ebd.).
Was folgt aus diesem kursorischen Streifzug durch die grundlegenden verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Bestimmungen für die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge?
Grundsätzlich lässt sich konstatieren, dass das Bundesverfassungsgericht insofern eine Sonderstellung im Staatsgefüge einnimmt, als es einerseits an der Spitze
des Gerichtswesens steht, andererseits aber als oberstes Bundesorgan einen eigenen
Status genießt. Seine Stellung im „Schnittpunkt von Politik und Recht“ (Piazolo
1995) wird zum einen durch seine Zusammensetzung deutlich (die Verfassungsrichter rekrutieren sich aus Berufsrichtern und (juristisch ausgebildeten) Nicht-
Richtern), zum anderen durch die mitunter hochpolitischen Materien, die von ihm
zu entscheiden sind. Zugleich steht es über den höchsten Bundesgerichten, wenn
verfassungs- und grundrechtliche Fragen betroffen sind, ohne jedoch grundsätzlich
Superrevisionsinstanz zu sein (über das Instrument der (Urteils-)Verfassungsbeschwerde wird das Bundesverfassungsgericht faktisch allerdings doch zur Revisionsinstanz, wenn ein Bürger die Verletzung seiner Grundrechte glaubhaft machen
kann). Seine besondere Stellung wird aber vor allem dadurch deutlich, dass es ihm
obliegt, alles staatliche Handeln auf allen Ebenen an seiner Verfassungsmäßigkeit
zu messen (vgl. Wallach 1991: 156). Und durch die abstrakte und konkrete Normenkontrollkompetenz ist es letztlich auch dem Parlament „übergeordnet“ (Clemens
1995: 15).
Mit seiner Kompetenzausstattung nimmt das Bundesverfassungsgericht also eine
„im internationalen Vergleich […] herausragende Stellung ein“ (ebd.). Gleichwohl
wird die Machtfülle des Gerichtes nur dann sichtbar und auch effektiv, wenn das
Gericht durch andere politische Akteure, Gerichte oder Bürger aktiviert wird. Seine
Kompetenzausstattung bleibt folgenlos, wenn sie nicht durch den politischen (bzw.
juristischen) Prozess „aktualisiert“ wird. Die Kompetenzen des Gerichts einerseits
sowie die politischen und rechtlichen Opportunitätsstrukturen und die institutionellen Anreize andererseits sind also im Zusammenhang zu betrachten, wenn am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts erklärt werden soll, wie „machtvoll“ Gerichte
tatsächlich agieren (können) und was die Ursachen unterschiedlicher verfassungsgerichtlicher Tätigkeit und ihrer Varianzen sind.
94 Siehe zur grundsätzlichen Organisation des Bundesverfassungsgerichts den Abschnitt 5.2.2.
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5.2 Institutionelle Stärke und Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts
In den Kapiteln 3 und 4 dieser Untersuchung sind verschiedene Faktoren diskutiert
worden, mit deren Hilfe die institutionelle Stärke und Unabhängigkeit eines Verfassungsgerichts sowie die faktische Kompetenzausübung eines Gerichts erklärt werden
können. Unter anderem, so ist argumentiert worden, hängt das faktische Agieren
eines Gerichtes neben seiner grundsätzlichen Kompetenzausstattung vor allem von
den Zugangsmöglichkeiten und Interessen der antragsberechtigten Akteure, der Zusammensetzung des Gerichts und seiner empirischen Legitimität ab. Zunächst sollen
daher diese Faktoren für das Bundesverfassungsgericht eingehender betrachtet werden. Ziel der weiteren Untersuchung wird es dann sein, sowohl die Intensität und
Häufigkeit verfassungsgerichtlichen Agierens zu erklären (Kapitel 5.3 und 5.4) als
auch seine Auswirkungen auf die bundesrepublikanische Demokratie zu bewerten
(Kapitel 6).
5.2.1 Kompetenzen und Aktivierungsmöglichkeiten
Die institutionelle Stärke und Macht eines Verfassungsgerichts lässt sich zunächst
vor allem durch sein Kompetenzprofil beschreiben. Allerdings bleiben auch Gerichte mit großem Kompetenzumfang „schwache“ Gerichte, wenn sie entweder ihre
Kompetenzen nicht oder nur zurückhaltend ausüben (wie dies etwa der japanische
Supreme Court tut; vgl. Ramseyer 1991; Ramseyer/Rasmusen 1999) oder wenn sie
nicht von anderen Akteuren eingesetzt und aktiviert werden. Die Stärke eines Verfassungsgerichts kann daher nur unter Berücksichtigung des Zusammenspiels von
Kompetenzausstattung und Aktivierungsmöglichkeiten vollständig erfasst werden.
Auch für das Bundesverfassungsgericht gilt, dass das Gericht nur dann seine vorhandenen Kompetenzen ausspielen kann, wenn es von anderen Akteuren aktiviert
und ins Spiel gebracht wird.
In welchen Verfahrensarten dies hauptsächlich der Fall ist, zeigt Abbildung 5.1,
in der die vom Bundesverfassungsgericht zwischen 1951 und 2005 durch Entscheidung erledigten Verfahren dargestellt sind. Wie die Zahlen zeigen, spielen vor allem
fünf Verfahrensarten95 für die Entscheidungspraxis des Gerichts eine herausragende
Rolle: die Verfassungsbeschwerde, die konkrete Normenkontrolle, das Wahlprüfungsverfahren, die abstrakte Normenkontrolle und der Organstreit. Andere Verfahrensarten, wie etwa der Bund-Länder-Streit, treten zahlenmäßig hinter die anderen
Verfahren zurück.96
95 Die einstweiligen Anordnungen sollen hier nicht weiter interessieren, münden diese doch meist
in ein Hauptverfahren, das z. T. in den anderen Verfahrenserledigungen enthalten ist.
96 Der Bund-Länder-Streit hat die große Relevanz, die er in den ersten zehn Jahren der Tätigkeit
des Bundesverfassungsgerichts hatte, mittlerweile verloren (Schlaich/Korioth 2004: 78). Er hat
„unter dem Grundgesetz [seine, S. K.] praktische Bedeutung weitgehend eingebüßt“ (ebd.: 79;
siehe auch Selmer 2001 und die Ausführungen zum Bund-Länder-Streit weiter unten).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Verfassungsgerichte sind machtvolle Akteure und zentrale Mitspieler in fast allen liberalen Demokratien. Gleichwohl wird ihre Demokratiekompatibilität mitunter in Frage gestellt, wenn sie – demokratisch vergleichsweise schwach legitimiert – in demokratische Prozesse intervenieren.
Der vorliegende Band analysiert die spezifischen Funktionen, die Verfassungsgerichte für demokratische Regierungssysteme erbringen und argumentiert, dass Verfassungsgerichte nicht nur keine Gegenspieler demokratischer Politik sind, sondern dass sie für demokratisches Regieren schlichtweg konstitutiv sind. Anhand einer umfassenden Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der letzten 55 Jahre wird empirisch belegt, dass das höchste deutsche Gericht in der Vergangenheit überaus demokratiefunktional agiert und damit wesentlich zur hohen Qualität der bundesdeutschen Demokratie beigetragen hat.
Sascha Kneip ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Demokratieforschung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).