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3 Begründung und Erklärung verfassungsgerichtlicher
(Normen-)Kontrolle: Modelle und Theorien
Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist die Feststellung gewesen, dass
die Intervention von Verfassungsgerichten in demokratische Prozesse theoretisch
wie empirisch umstritten ist. Umstritten sind dabei weniger Entscheidungen der
Gerichte in klassischen Kompetenzkonflikten, also etwa in Organ- oder föderativen
Streitverfahren. Diese klassische „Schiedsrichterfunktion“ ist empirisch wie theoretisch aus mehreren Gründen weithin akzeptiert: Erstens entscheiden Verfassungsgerichte in diesen Kompetenzkonflikten nur indirekt über inhaltliche Politiken. Indem
sie der einen oder anderen Streitpartei die Kompetenz in dem in Frage stehenden
Sachverhalt zu- oder absprechen, entscheiden sie zwar auch indirekt über die damit
verknüpften Handlungen oder Inhalte, diese werden aber von den (meist politischen)
Akteuren selbst verantwortet und ausgeführt. Dies führt zweitens dazu, dass Verfassungsgerichte in Kompetenzstreitfällen als „neutrale Dritte“ wahrgenommen werden
können, die – quasi auf einem Schiedsrichterstuhl sitzend – den besseren Überblick
über die zu entscheidende Kompetenzfrage besitzen und daher legitimerweise zugunsten des einen oder anderen Akteurs entscheiden.
Umstritten wird das Handeln von Verfassungsgerichten aber spätestens dann,
wenn diese in den Verdacht geraten, selbst „Politik zu betreiben“, als „Gegenspieler
zur Politik“ zu agieren oder inhaltliche Vorgaben zu postulieren, die außerhalb des
eigenen Kompetenzbereiches liegen. Dies passiert immer dann, wenn Verfassungsgerichte auch materiell die Handlungen von Legislative und Exekutive überprüfen,
wenn also das geschieht, was im engeren Sinne als „judicial review“ bezeichnet
wird: die juristische Kontrolle und Nachprüfung von Parlamentsentscheiden und
Exekutivakten.
Der Anlage dieser Untersuchung entsprechend kann die Analyse des verfassungsgerichtlichen Handelns in diesen Fällen unter zwei Gesichtspunkten erfolgen: Zum
einen kann danach gefragt werden, welche normativen Begründungsstrategien für
die Notwendigkeit von judicial review denkbar sind und wie diese Begründungen
hinsichtlich ihrer Demokratiekompatibilität zu bewerten sind. Zum anderen können
empirische Erklärungsansätze für judicial review betrachtet werden. Diese wollen
Auskunft darüber geben, weshalb, wann und unter welchen Umständen es überhaupt
zur gerichtlichen Überprüfung von Gesetzesakten kommt. Denn obwohl die institutionellen Rahmenbedingungen des demokratischen Rechtsstaates in der Regel eine
solche Überprüfung grundsätzlich ermöglichen, kommt es nur in einem Bruchteil
aller möglichen Fälle tatsächlich zu einem verfassungsgerichtlichen Verfahren.
Weshalb dies so ist und wie die unterschiedliche Intensität von verfassungsgerichtlichem Handeln zu unterschiedlichen Zeiten zu erklären ist, hoffen diese empirischen
Erklärungsansätze beleuchten zu können.
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Die Verbindung von normativen mit empirischen Fragestellungen ist dabei keineswegs so ungewöhnlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. In der Vergangenheit bestand eine Aufgabenteilung dergestalt, dass sich vor allem Juristen und
politische Philosophen mit der normativen Frage beschäftigten, wie Gerichte und
Richter handeln sollten, während „positiv“ arbeitende Politikwissenschaftler und politische Ökonomen sich der Frage widmeten, wie und warum Richter auf eine bestimmte Art und Weise handeln. Beide Seiten haben bislang die Erkenntnisse und
Ergebnisse der jeweils anderen nur selten in ihre Theoriebildung und die daraus folgenden Erkenntnisse einbezogen und sich damit bislang selbst die Chance gegenseitigen Lernens versagt (vgl. für einen guten Überblick, der dies belegt, Friedman
2005): Die normative Schule hat weitgehend die empirischen Ergebnisse ignoriert
und beharrt auf einer strikten Trennung zwischen Recht und Politik, während die
empirisch arbeitende Forschung weitgehend unbeeinflusst geblieben ist von den
Erkenntnissen über die Eigenarten und spezifischen Funktionsbedingungen des
Rechts, die von der normativen Schule herausgearbeitet worden sind. Empirische
Erkenntnisse über das tatsächliche Funktionieren von Verfassungsgerichten könnten
normativ ausgerichteten Modellen jedoch dabei helfen, diese wirklichkeitsnäher zu
formulieren und sie somit für empirische Forschungsvorhaben anschlussfähig(er) zu
machen. Umgekehrt würden empirische Forschungsvorhaben davon profitieren,
wenn sie ihre impliziten und expliziten Hypothesen und Annahmen im Lichte normativer Argumente überprüften. In dieser Untersuchung wird daher die Position vertreten, dass beide Forschungsrichtungen voneinander lernen können und fruchtbar
miteinander verbunden werden können und müssen (so auch Friedman 2005). Insbesondere für die Frage, inwiefern sich Recht von Politik unterscheidet und welche
Implikationen dies für die Analyse des Agierens von Gerichten hat, kann ein Zusammenspiel beider Positionen wünschenswert und weiterführend sein (vgl. ebd.: 262).
3.1 Normative Modelle
Die normative Frage nach dem Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber induziert zunächst nochmals die Frage nach der grundsätzlichen Legitimität
verfassungsgerichtlichen Handelns und der damit verbundenen Frage der Demokratiekompatibilität. In Kapitel 2 dieser Untersuchung ist aus demokratietheoretischer
Sicht begründet worden, weshalb Verfassungsgerichte notwendige und wichtige
Akteure für das Funktionieren von Demokratien sind. Dies soll hier nochmals vertieft
werden, indem die demokratietheoretische Diskussion um rechtswissenschaftliche
Theorien und Modelle ergänzt wird. Für eine solche Diskussion bietet sich vor allem
die US-amerikanische Debatte um die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit an, da
gerade hier – anders als im europäischen und deutschen Rechtsdiskurs – die Stellung
der Verfassungsgerichtsbarkeit immer auch in Bezug auf das zugrunde liegende Demokratiemodell diskutiert worden ist (die Strukturierung der folgenden Diskussion
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stützt sich auf Haltern 1998: 241 ff.).50 Gerade der US-Supreme Court ist immer auch
als politischer Akteur wahrgenommen und kritisiert worden, seine Urteile wurden
häufig als politischer Steuerungsversuch betrachtet (ebd.: 242). Die einschlägigen
US-amerikanischen Theorien reiben sich daher sehr viel stärker am „Fixpunkt Demokratie“ (ebd.: 244) als vergleichbare andere Theoriekonzeptionen. Im Lichte der
oben diskutierten demokratietheoretischen Aussagen sollen die unterschiedlichen
Positionen hier nochmals kritisch untersucht werden.
Grundsätzlich lassen sich solche Modelle der Legitimation von Verfassungsgerichten unterscheiden, die Verfassungsgerichte als notwendige, aber „anti-demokratische“
oder demokratie-inkompatible Akteure begreifen, und solche, die in Verfassungsgerichten einen integralen Bestandteil moderner liberaler Demokratien sehen. Ulrich
Haltern (Haltern 1998: 245 ff.) hat im Wesentlichen fünf solcher Modelle unterschieden, die in Abbildung 3.1 aufgezeigt und im folgenden diskutiert werden.
Abbildung 3.1: Normative Modelle von Judicial Review
Legitimation der
Verfassungsgerichtsbarkeit
Demokratie-inkompatibel Demokratie-kompatibel
Originalismus PolitischeVariante
Aufgeklärte
Präferenzen
Partizipationsorientierung
Rechteorientierung
Quelle: nach Haltern 1998: 245
50 Die Frage der legitimen Abgrenzung zwischen verfassungsgerichtlichem und parlamentarischem
Handeln hat allerdings auch in der bundesdeutschen (rechtswissenschaftlichen) Diskussion einige
gewichtige Theorien und Modelle hervorgebracht (vgl. hierzu Haltern 1998: 211 ff.): So ist versucht worden, diese Abgrenzung über das Gewaltenteilungsprinzip selbst vorzunehmen, über die
Analyse der „Political Question-“ (Scharpf 1965) und „Judicial Self-Restraint-Doktrin“ oder über
den so genannten funktionell-rechtlichen Ansatz. Inbesondere mit dem funktionell-rechtlichen
Ansatz (siehe z. B. Schuppert 1980; Hesse 1981; Roellecke 1987; Schuppert 1988) teilt der in dieser Untersuchung vertretene demokratiefunktionale Ansatz die Vorstellung, dass Funktionen und
Kompetenzen der unterschiedlichen demokratischen Akteure in ihrem Zusammenspiel und hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Kompetenzbereiche betrachtet werden müssen. Das hier vertretene Modell abstrahiert allerdings – anders als das funktionell-rechtliche – unter dem demokratietheoretischen Blickwinkel zunächst von konkreten Verfassungsvorgaben. Diese geraten erst bei
der Analyse der Rechtsprechungstätigkeit einzelner Verfassungsgerichte wieder in den Blick (vgl.
hierzu Kapitel 6).
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3.1.1 Demokratie-Inkompatibilität von Judicial Review
Positionen, die eine grundsätzliche Demokratie-Inkompatibilität der Verfassungsgerichtsbarkeit behaupten, sehen einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen den
Prinzipien des Konstitutionalismus und den Prinzipien der Demokratie. Indem Verfassungsgerichte gegen den Willen der (parlamentarischen) Mehrheit Gesetze zu
annullieren vermögen, handeln sie dieser Auffassung zufolge einerseits per se undemokratisch. Andererseits widerspräche es den Grundprinzipien des Konstitutionalismus, Gesetze nicht zu überprüfen, da Verfassungen ja gerade die Sicherung von
Grundrechten gegen Mehrheitsentscheide gewährleisten sollen. Folgerichtig gelangen diese Positionen zu der Auffassung, dass Verfassungsgerichte in der Überprüfung parlamentarischer Gesetze zwar notwendig „undemokratisch“ agieren, zugleich
für den Konstitutionalismus aber unentbehrlich sind. Zwei Positionen spielen hier in
der US-amerikanischen Rechtswissenschaft eine zentrale Rolle: die Position des so
genannten „Originalismus“ und eine im engeren Sinne „politische“ Position.
Originalismus
Vertreter des so genannten „Originalismus“ (siehe v. a. Bork 1984, 2003) plädieren
aus der Auffassung heraus, dass Verfassungsgerichte undemokratische Organe
seien, dafür, so selten wie möglich ein Gesetz für verfassungswidrig zu erklären.
Dies solle nur dann geschehen, wenn eine Gesetzesvorschrift in offensichtlicher
und von vorne herein eindeutiger Weise gegen eine Verfassungsbestimmung verstößt. Der Originalismus beruft sich darauf, dass nur die im Verfassungstext klar
und eindeutig formulierten Bestimmungen Maßstab einer Überprüfung sein können
(daher der Name „Originalismus“), nicht aber anders geartete Auslegungsmethoden
naturrechtlicher oder moraltheoretischer Art; ebenso fallen nach dieser Schule
Auslegungen weg, die über die „Idee“ oder die „Prinzipien“ einer Verfassung argumentierend zur Annullierung von Gesetzen führen. Abstrakte Aussagen der Verfassung etwa dürfen nicht unter heutigen Gesichtpunkten interpretiert werden, sondern immer nur unter Zuhilfenahme der Intentionen derer, die die Verfassung einst
geschrieben haben.
Verfassungsrichter dürfen also nach dieser Auffassung keine Rechte implementieren, die in der Verfassung nicht erwähnt und niedergeschrieben sind. Da beispielsweise ein Recht auf Abtreibung in keiner demokratischen Verfassung implementiert ist, dürfen auch Richter ein solches nicht konstruieren, sondern haben die
Entscheidung über Verbot oder Zulassung von Abtreibung dem politischen Prozess
zu überlassen. „Richter handeln dann undemokratisch“, so fasst Haltern (1998: 248)
die Essenz dieser Position zusammen, „wenn sie von der Oberfläche des Verfassungstextes abweichen. Sie haben stattdessen die Aufgabe, den Willen der Legislative zu respektieren, es sei denn, diese handelt ausdrücklich gegen den klaren Buchstaben des Verfassungstextes.“ Hintergrund dieser Position ist die spezifische macht-
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theoretische Annahme, dass es zwei Arten der Tyrannei gebe: eine Mehrheits- und
eine Minderheitstyrannei. Während erste dann vorliegt, wenn Gesetze in den von der
Verfassung ausdrücklich geschützten Bereich individueller Rechte eingreifen,
kommt die zweite zum Vorschein, wenn eine demokratische Mehrheit von nicht legitimierten Richtern daran gehindert wird, ihre Herrschaft legitim (im Sinne des
Freiraums, den die Verfassung hierfür einräumt) auszuüben.
Die Kritik an dieser Position ist vielfältig (vgl. für eine modellexterne Kritik
Brugger 1987: 355 ff.), zwei Hauptprobleme erscheinen aber auch für die vorliegende
Untersuchung besonders relevant: Erstens ist Winfried Brugger (vgl. ebd.) darin
zuzustimmen, dass schon grundsätzlich fraglich ist, ob der historische Wille der Verfassungsväter überhaupt festgestellt werden kann. Historische Quellen sind häufig
widersprüchlich und ungenau, mitunter widersprechen sie sich sogar. Zudem bleibt
unklar, welche Personen denn genau in eine Untersuchung dieser historischen Quellen einzubeziehen wären: Lediglich die Hauptautoren? Oder auch deren Mitarbeiter?
Oder auch die maßgeblichen Akteure, die zur Annahme einer Verfassung beigetragen
haben? Ebenso diffus bleibt, wie der „Wille“ oder die „Intention“ einer Person im
Nachhinein festgestellt werden könnte. Hinzu tritt das Problem, dass diese Intentionen auch nur schwerlich vor dem Hintergrund neuer Informationen oder faktischer
Begebenheiten beurteilt werden können, die zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung
noch nicht bekannt waren (etwa technische Überwachungsmethoden durch den
Staat). Die Interpretation des Willens der Verfassungsväter ist also derart mit Ungewissheit belastet, dass die scheinbare Klarheit der originalistischen Position deutlich
in Frage gestellt werden muss. „Die der Verfassung unterlegte Berechenbarkeit und
Objektivität der strikten Unterscheidung von Rechtsformulierung und Rechtskontrolle“ (Brugger 1987: 358) kann somit nicht aufrechterhalten werden.
Ein zweites Problem wiegt jedoch noch schwerer: Das Originalismus-Modell bietet kein überzeugendes Argument dafür an, weshalb die Intentionen derer, die die
Verfassung einst geschrieben haben, auch heute Maßstab ihrer Interpretation sein
sollten. Selbst wenn sich die Intention der Verfassungsautoren feststellen ließe,
bleibt im Modell unbegründet, weshalb eine heutige demokratische Gemeinschaft
nicht eine andere Norminterpretation als die der Gründerväter als die richtige anerkennen sollte. Verfassungen sind keine statischen Gebilde, sondern ihre Gehalte,
Wirkungen und Interpretationen ändern sich über die Zeit (vgl. grundlegend zum
Begriff des Verfassungswandels Böckenförde 2000a: 141 ff.). An der Bedeutung des
allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes lässt sich dies beispielhaft zeigen: Die Vorstellung von gerechter Gleichbehandlung von Mann und Frau, Hetero- und Homosexuellen, weißen und schwarzen Bürgern hat in den letzten 200 Jahren eine deutliche
Veränderung erfahren, die mit den Intentionen der Gründerväter zweifellos nicht
immer vereinbar ist. Aber folgt daraus, dass die heutigen Auffassungen „falsch“,
„nicht anwendbar“ oder zumindest „irrelevant“ sind?
Eine solche Folgerung ist so lange unhaltbar, wie kein Argument dafür eingebracht wird, dass ausschließlich die Intention der Verfassungsväter als Interpretationshilfe für die Verfassungsauslegung in Betracht kommt. Gerade moralische Auf-
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fassungen wandeln sich mit der Zeit. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die solche
Wandlungen nicht in ihre Urteilsfindung mit einbeziehen kann, müsste zwangsläufig
gegen ihr eigenes Grundprinzip verstoßen, dem demokratischen Souverän nicht
Prinzipien vorzuschreiben, die dieser selbst ablehnt. Dadurch verlöre ein Verfassungsgericht mittelfristig seine wichtigste Unterstützungsressource, seine (empirische) Legitimation (vgl. zum Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und gesellschaftlichem Grundkonsens Schuppert/Bumke 2000).
Allerdings muss beachtet werden, dass der „Originalismus“ streng genommen
kein Legitimationsmodell für Verfassungsgerichte generell ist (wie Haltern in seiner
Diskussion nahe legt), sondern eher eine spezifische Methode der Verfassungsinterpretation. Als solche mag sie unsinnig, wenig Erfolg versprechend und mit vielen
internen Problemen behaftet sein, sie widerspricht aber nicht prinzipiell den oben
getroffenen demokratietheoretischen Aussagen. Auch ein originalistisch agierendes
Verfassungsgericht könnte prinzipiell seine Funktionen für den demokratischen
Prozess erfüllen (wenngleich dies aus den eben genannten Gründen empirisch
höchst unwahrscheinlich ist). Zurückgewiesen werden muss aber nach der oben
geführten demokratietheoretischen Diskussion die dieser Position innewohnende
Kennzeichnung der Verfassungsgerichtsbarkeit als „anti-demokratisch“.
Politische Variante
Die „politische Theorie“ der Verfassungsgerichtsbarkeit (siehe z. B. Tushnet 1999)
betont wie die originalistische ebenfalls die Unvereinbarkeit von Konstitutionalismus und Demokratie, ohne sich jedoch deren Interpretationsmethode der Verfassung
zu eigen zu machen. Während Mark Tushnet aufgrund dieser Unvereinbarkeit richterliche Normenkontrolle grundsätzlich für problematisch hält (ebd.: 154 ff.), befürworten andere Strömungen dieser Position „judicial activism“ ebenso wie einen
deutlichen Ermessensspielraum richterlicher Entscheidungen – zumindest so lange
die Richter bedenken, dass ihre Entscheidungen „unvermeidbar auf ihren persönlichen Werten beruhen“ (vgl. Haltern 1998: 251). „Politisch“ ist das Modell also insofern, als es davon ausgeht, dass Richter in ihrer Urteilsfindung immer auch ihre
persönlichen politischen Urteile und Präferenzen mit einfließen lassen (müssen). Um
dieses Problem zumindest abzumildern (zu lösen ist es nach Auffassung dieser Position nicht), muss der Auswahlprozess der Richter in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken: Es sollen solche Richter an die höchsten Gerichte gewählt werden,
deren persönliche Präferenzen und Werturteile mit denen der Mehrheit der Bevölkerung übereinstimmen (oder zumindest von dieser akzeptiert werden können). Das
Modell plädiert also für einen Modus der Richterauswahl, der die Wahl politisch
moderater, am „Median“ der Werturteile der Bevölkerung orientierter Richter sicherstellt. Nur auf diesem Wege lasse sich, so die Vertreter dieser Position, die prinzipielle Unvereinbarkeit von richterlichem Handeln und demokratischen Prozessen
zumindest ansatzweise überbrücken (vgl. Haltern 1998: 252).
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Das „politische“ Modell lässt den Betrachter mit Verwunderung zurück, da es
nicht hinreichend zwischen den persönlichen Präferenzen der Richter und dem
Ergebnis richterlicher Entscheidungsfindung differenziert. Die Auswahl „politisch
moderater“ Richter kann sicherlich der prinzipiellen Neutralität eines Verfassungsgerichts dienlich sein (siehe hierzu auch die Diskussion weiter unten). Aus
ihr folgt aber nicht, dass sich damit auch das Entscheidungsverhalten eines Gerichts am Median der Werturteile von Politik und Bevölkerung orientiert. Was
empirisch zweifelhaft ist, wäre normativ überdies auch keineswegs wünschenswert: Da Verfassungsgerichte ja gerade als anti-majoritäre Instanzen konzipiert
sind, wäre eine Ausrichtung der Gerichte am „Präferenzenmainstream“ einer Bürgerschaft über das Institut der Richterauswahl wenig funktional. Der Versuch, die
Abgrenzungsproblematik zwischen Gerichten und Parlamenten bzw. Exekutiven
dadurch zu lösen, dass beide Instanzen politisch-inhaltlich gleich ausrichtet werden, widerspricht weitgehend der funktionalen Logik der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie.
Zudem arbeitet die Position mit zwei fragwürdigen Annahmen: Zum einen ist
umstritten, inwieweit Richter tatsächlich ihre persönlichen Präferenzen in den Gerichtsprozess einbringen können und wollen (dies wird weiter unten noch zu diskutieren sein). Zum anderen wird in diesem Modell implizit unterstellt, dass sich die
Einstellungen und Präferenzen der Richter nach ihrer Wahl nicht mehr verändern.
Dies kann aber durchaus der Fall sein und ist empirisch vermutlich nicht einmal
selten (vgl. z. B. Epstein et al. 1998; Greenhouse 2005). Sowohl politische wie auch
rechtlich-dogmatische Einstellungen einzelner Richter können über die Zeit variieren und sich verändern, so dass selbst dann, wenn man die Grundannahmen dieser
Position akzeptierte, mit dem vorgeschlagenen Richterwahlmodus alleine das angestrebte Ziel nicht erreicht werden könnte.
Aus den hier angestellten demokratietheoretischen Überlegungen heraus kann aber bereits der Ausgangspunkt dieses Modells nicht überzeugen: Wenn Verfassungsgerichte einen Beitrag für das Funktionieren von Demokratien leisten sollen,
und wenn zu diesem Beitrag notwendig auch Entscheidungen gegen den erklärten
Willen einer Mehrheit von Bürgern oder Abgeordneten gehören, dann ist der Ansatz, die ideologische Ausrichtung des Gerichtes von vorne herein an der des „Median-Bürgers“ auszurichten, demokratietheoretisch inakzeptabel.
Beide „anti-demokratischen“ Positionen vermögen also nicht zu überzeugen.
Während die originalistische (Verfassungsauslegungs-)Theorie unter anderem
unlösbare methodische Probleme aufwirft, ist bereits die Grundausrichtung der
„politischen“ Verfassungsgerichtstheorie problematisch: Ein Gericht, das sich in
seinen Urteilen am „Median-Willen“ der Bürger orientiert, ist letztlich überflüssig,
da in diesem Fall auch dem politischen Prozess alleine die Lösung politischer und
rechtlicher Streitfragen überlassen werden könnte. Beide Positionen überzeugen
also letztlich nicht; vor allem aber erhärten sie nicht die Annahme, dass Verfassungsgerichte undemokratische Organe seien und judicial review per se antidemokratisch.
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3.1.2 Demokratie-Kompatibilität von Judicial Review
Überzeugender muten da schon die Positionen an, die von einer grundsätzlichen
Demokratie-Kompatibilität verfassungsgerichtlicher Normenkontrollen ausgehen.
Drei Hauptpositionen aus der US-amerikanischen Debatte lassen sich zunächst unterscheiden: Ein Modell „aufgeklärter Präferenzen“, ein „partizipationsorientiertes
Modell“ und ein „Rechte-Orientiertes“ (so jedenfalls Haltern 1998: 253 ff.).
Aufgeklärte Präferenzen
Eine erste Position versucht, Verfassungsgerichte über die Aufgabe der Sicherung
der grundlegenden Präferenzen und Werte der Bürger eines demokratischen Gemeinwesens zu legitimieren (ebd.). Wenn zwischen den kurzfristigen Interessen und
den längerfristigen Werten einer Bürgerschaft unterschieden wird, sind aus dieser
Sicht Verfassungsgerichte für die Sicherung der Werte gegenüber den Interessen
zuständig (Bickel 1986). Die counter-majoritarian difficulty (ebd.: 16 ff.) wird dadurch aufgehoben, dass Verfassungsgerichte zwar gegen Interessenmehrheiten entscheiden (können), dabei aber die grundlegenden Werte einer demokratischen Gemeinschaft schützen. Sie vermitteln also durch ihr Handeln zwischen den kurzfristigen Präferenzen einer Mehrheit von Bürgern und den geteilten langfristigen Werten,
die Ausdruck gefunden haben in den grundlegenden Verfassungsnormen (Haltern
1998: 254). Auch Bickel rechtfertigt judicial review daher vor allem funktionalistisch:
„The search must be for a function which might (indeed, must) involve the making of policy,
yet which differs from the legislative and executive functions; which is peculiarly suited to the
capabilities of the courts; which will not likely be performed elsewhere if the courts do not assume it; […] which will be effective when needed; and whose discharge by the courts will not
lower the quality of the other department’s performance by denuding them of the dignity and
burden or their own responsibility” (Bickel 1986: 24).
Interessant an Bickels Argument ist vor allem, dass er kein grundlegendes Problem
darin erkennt, dass Verfassungsgerichte auch policies beeinflussen und prägen –
genau dies, so kann man Bickel lesen, ist schließlich im Konfliktfall erstens unvermeidlich und zweitens ihre Aufgabe. Zugleich benennt er aber auch – wenn auch in
eher allgemeiner Form – die Grenzen eines solchen Vorgehens: Das Gericht muss
einen Fall faktisch entscheiden können, keine andere demokratische Instanz darf
diese spezifische Funktion ebenfalls übernehmen können, und diese anderen Instanzen dürfen nicht ihrer Verantwortlichkeit beraubt werden.
Mit einem ähnlichen Argumentationsmuster operiert auch Bruce Ackerman (vgl.
Ackerman 1991, 1998). Wie oben (Kap. 2.1.2.) bereits kurz skizziert, differenziert
Ackerman zwischen normal politics und higher politics. Normale oder alltägliche
Politik beinhaltet beispielsweise den Aushandlungsprozess zwischen unterschiedlichen Interessen, während die „höhere“ Verfassungspolitik grundlegende Entschei-
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Verfassungsgerichte sind machtvolle Akteure und zentrale Mitspieler in fast allen liberalen Demokratien. Gleichwohl wird ihre Demokratiekompatibilität mitunter in Frage gestellt, wenn sie – demokratisch vergleichsweise schwach legitimiert – in demokratische Prozesse intervenieren.
Der vorliegende Band analysiert die spezifischen Funktionen, die Verfassungsgerichte für demokratische Regierungssysteme erbringen und argumentiert, dass Verfassungsgerichte nicht nur keine Gegenspieler demokratischer Politik sind, sondern dass sie für demokratisches Regieren schlichtweg konstitutiv sind. Anhand einer umfassenden Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der letzten 55 Jahre wird empirisch belegt, dass das höchste deutsche Gericht in der Vergangenheit überaus demokratiefunktional agiert und damit wesentlich zur hohen Qualität der bundesdeutschen Demokratie beigetragen hat.
Sascha Kneip ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Demokratieforschung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).