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Man muss Vallinders Gegenüberstellung nicht in ihrer Gänze überzeugend finden.
Zumindest aber kann mit ihr festgehalten werden, dass sich Verfassungsgerichte und
politische Akteure offenbar so wesentlich in ihren Strukturen und Handlungsorientierungen unterscheiden, dass eine Gleichsetzung von verfassungsgerichtlichen und
politischen Vetoakteuren inadäquat erscheinen muss. Verfassungsgerichte können,
müssen aber nicht als Vetospieler in Erscheinung treten, und wenn sie es tun, agieren sie mit einer anderen Handlungsorientierung als politische Vetospieler.
Allerdings haben die Urteile der Gerichte unter Umständen erhebliche Auswirkungen auf politische Prozesse und Inhalte. Auch als „konditionale Vetospieler“ mit
eigener Handlungslogik beeinflussen sie die Politiken gewählter Regierungen und
parlamentarischer Mehrheiten und üben damit einen erheblichen Einfluss auf die
Verfassungswirklichkeit liberaler Demokratien aus. Damit drängen sich zwei Fragen
auf, die im Mittelpunkt der hier vorgelegten Untersuchung stehen werden: Erstens
muss analytisch die Frage gestellt werden, ob Verfassungsgerichte überhaupt als
„demokratische Akteure“ verstanden werden können oder ob sie ein Fremdkörper
demokratischen Regierens sind. Zweitens muss untersucht werden, wie sich das
Handeln von Verfassungsgerichten faktisch auf den demokratischen Regierungsprozess auswirkt und welche Auswirkungen verfassungsgerichtliches Agieren auf die
Qualität von Demokratien hat. Allgemein muss damit nach der demokratischen
Rolle von Verfassungsgerichten gefragt werden, spezifisch nach dem besonderen
Kooperationsverhältnis zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber.
Bevor die diese Untersuchung anleitenden Fragestellungen näher präzisiert werden, soll ein kurzer Blick auf die politikwissenschaftliche Debatte zu diesem diffizilen Verhältnis die Relevanz des hier diskutierten Problemkomplexes unterstreichen.
1.2 Stand der (sozialwissenschaftlichen) Diskussion
Die sozial- und politikwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Themenkomplex
Recht und Politik, konkreter mit der Rolle und dem Einfluss von Verfassungsgerichten auf Politikprozesse, hat in den letzten Jahren wieder eine erhöhte Aufmerksamkeit erfahren, nachdem dieses Thema Jahrzehnte lang eine fast ausschließliche Domäne der Rechts- und Staatswissenschaften gewesen ist. Die lange Vernachlässigung dieser Thematik in den Sozialwissenschaften überrascht insofern, als gerade
die Analyse von Politikprozessen und Policyzyklen eine Beschäftigung mit dem
Einfluss von Gerichten auf diese nahe gelegt hätte (vgl. zu den „Versäumnissen“ der
politik- wie der rechtswissenschaftlichen Debatte van Ooyen/Möllers 2006b). Da
zudem wichtige, für demokratische Gesellschaften elementare Politiken nicht selten
von Gerichten (mit)entschieden worden sind – man denke nur an das Abtreibungsrecht, Fragen der Finanz- und Steuerpolitik oder die Ermöglichung oder Verhinderung von Politiken zur Minderheitenförderung (affirmative action) – verwundert es
umso mehr, dass gerade die (europäische) Politikwissenschaft, von einigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen (z. B. Beyme 1985, Landfried 1984; Stone 1992; Stone
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Sweet 2000; Massing 2005), sich nicht eher mit dem Wirken von Gerichten in Demokratien beschäftigt hat. Spätestens im Zuge einer stärker institutionalistisch ausgerichteten Analyse von Policyprozessen in den letzten Jahren hat aber auch die
Politikwissenschaft verstärkt Gerichte (und Verfassungsgerichte) als „Spieler“ im
politischen Prozess wahrgenommen und ihr Handeln zu analysieren begonnen (z. B.
Jackson/Tate 1992; Alivizatos 1995; Cooter/Ginsburg 1996; Baum 1997; Epstein/
Knight 1998; Gibson et al. 1998; Clayton/Gillman 1999; Lijphart 1999; Stone Sweet
2000; van Geffen 2001; Segal/Spaeth 2002; Tsebelis 2002; Ginsburg 2003; Vanberg
2005a). Was zunächst vor allem für die Beobachtung des US-Supreme Court galt,
gilt nun auch für die Analyse von (Verfassungs-)Gerichten außerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika: Ihr Wirken wird als politischer Faktor antizipiert, den es
auch und gerade aus Sicht der Sozialwissenschaften zu untersuchen gilt. So sind in
den letzten Jahren auch analytisch aufschlussreiche Arbeiten über Gerichte in Europa (z. B. Landfried 1988; Stone 1992; Volcansek 1992; Shapiro/Stone 1994b; Tate/
Vallinder 1995; Schwartz 2000; Stone Sweet 2000; Sadurski 2002; Vanberg 2005a),
Asien (z. B. Ramseyer 1991; Ginsburg 2003) und auch Afrika (vgl. z. B. die Analysen bei Beatty 2004 oder Sunstein 2001) zu der schon umfangreichen Bibliothek
über den US-Supreme Court hinzu gestoßen.
Allerdings wird vor allem die theoretische Diskussion nach wie vor von der USamerikanischen politikwissenschaftlichen Debatte dominiert. Dies führt unter anderem dazu, dass auch die zentralen Theorien und Modelle so sehr vom Forschungsobjekt des US-Rechtssystems und seinem Obersten Gericht geprägt sind, dass manche
Annahmen und Überlegungen auch nur für diesen spezifischen Fall aussagekräftig
erscheinen. Da diese Debatte aber in der Vergangenheit für die Politikwissenschaft
so prägend gewesen ist, sollen ihre zentralen Fragen und Annahmen hier kurz perzipiert werden. Für einen breiteren Überblick über die unterschiedlichen (USamerikanischen) Ansätze bietet sich eine Unterscheidung in zentrale Forschungsfragen, prominente Theorien und verwendete Methoden an (die Darstellung folgt hier
Epstein/Knight 2004).11
Zentrale Forschungsfragen
Die zentralen Forschungsfragen kreisen vor allem um die Themen der Richterwahl
(Auswahl und Dauer des Amtes) und den Zugang zu Gerichten, den Begrenzungen
richterlicher bzw. gerichtlicher Macht und der Frage richterlicher Entscheidungsfindung (vgl. ebd.: 170).
Die Auswahl der Richter und die Dauer ihres Amtes sind u. a. deshalb in den Fokus des Interesses getreten, weil die Art und Weise der Richterrekrutierung Auf-
11 Die sich hier anschließende Darstellung soll in aller Kürze die Relevanz des Problemkontextes
unterstreichen. Eine ausführliche Diskussion der relevanten Positionen findet sich in Kapitel 3
dieser Untersuchung.
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schluss darüber verspricht, wie die Richter in ihrem Amt arbeiten und urteilen werden. Die dahinter stehende Annahme lautet, dass die Regeln der Auswahl und die an
dieser Auswahl beteiligten Akteure nicht unwesentlich das Abstimmungsverhalten
der Richter beeinflussen können – sei es über die persönliche Loyalität, wenn etwa
ein Staatspräsident alleine die Richter bestimmen kann, oder sei es über einen etwaigen Wiederwahlmechanismus, der das Abstimmungsverhalten von Richtern
zugunsten derjenigen beeinflussen könnte, die über eine Wiederwahl zu befinden
haben. So scheint beispielsweise im Falle des US-Justizsystems ein Mix aus persönlichen, parteilichen und Policy-orientierten Motiven für die Auswahl von Richtern
durch den Präsidenten ausschlaggebend zu sein (vgl. ebd.: 176). Zugleich konnte
gezeigt werden, wie strategisch Nominierungsprozesse vonstatten gehen, wenn institutionelle Beschränkungen von den Handelnden antizipiert werden (Moraski/Shipan
1999; siehe auch Rhode/Shepsle 2007). Allerdings herrscht in der Forschung keine
Einigkeit darüber, ob diese Faktoren tatsächlich aussagekräftig für das faktische
Abstimmungsverhalten von Richtern sind. Manche Untersuchungen kommen zu
dem Schluss, dass Richter, die von Parlamenten (oder auch Bevölkerungen) gewählt
werden, eher zugunsten der Mehrheitsmeinung der wählenden Körperschaften urteilen (vgl. Brace/Boyea 2008); ebenso viele Untersuchungen verneinen dies jedoch
und können keinen entsprechenden Zusammenhang nachweisen (vgl. die Übersicht
bei Epstein/Knight 2004: 177).
Umstritten bleibt in der Literatur auch, ob Verfassungsgerichte durch ihre Agenda-Setting-Macht (wenn sie aus einer Fülle von Verfahren manche zur Erledigung
heraussuchen und andere unbehandelt lassen, wie dies etwa der US-Supreme Court
durch sein freies Annahmeverfahren tun kann) Policies gezielt beeinflussen können
oder nicht. Dahinter steht die Frage, aus welchen Gründen Gerichte bestimmte
Streitfragen zur Verhandlung aussuchen; ein Teil der Forschung stützt die Annahme,
dass in der Regel vor allem Fälle von „öffentlicher Relevanz“ (‚public importance
rule‘) den Weg zu höchstrichterlicher Verhandlung finden und dass Agenda-Setting
durch die Gerichte insofern nur bedingt Policy-geleitet ist (ebd.: 180). Ein anderer
Ansatz (das ‚sincere policy model‘) unterstellt Richtern aber gerade dieses Interesse
an der Durchsetzung bestimmter Policies. Träfe dies zu, führte der Agenda-Setting-
Prozess dazu, dass gerade solche Fälle als relevant aufgefasst werden, in denen die
eigene (richterliche) Position durchgesetzt werden kann (oder ein Urteil niederer
Instanz annulliert werden kann, das nicht der eigenen Position entspricht).12
12 Unabhängig davon, welche dieser Positionen der Realität am nächsten kommt: Wenn öffentliche Relevanz, formell oder informell, offensichtlich oder instrumentell definiert, eine Rolle bei
der Annahme bestimmter Rechtsfälle spielt, lässt sich diese Regel als constraint bzw. Antrieb
für richterliches Handeln begreifen. Dies lenkt den Blick auf die Tatsache, dass bei der Untersuchung verfassungsgerichtlichen Agierens sowohl formelle als auch informelle Regeln und
Institutionen zu beachten sind – und dass die ausschließliche Betrachtung formeller Regeln der
Erklärung verfassungsgerichtlichen Agierens nicht gerecht würde (vgl. hierzu auch Kapitel 2.2
dieser Untersuchung).
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Ein zweiter großer Themenkomplex betrifft die Grenzen und Beschränkungen
richterlicher Macht. Hier sind insbesondere solche Beschränkungen relevant, die
durch das (mögliche) Handeln anderer Akteure, vor allem der Legislative, der Exekutive oder einzelner Streitparteien, auftreten können. Auch hier ist bereits die
grundlegende Annahme umstritten, ob richterliche Akteure überhaupt von Handlungen politischer Akteure beeinflusst sein können. So argumentieren etwa Segal und
Spaeth (2002), dass unter bestimmten Umständen die Handlungen von Richtern
nicht von anderen Akteuren beeinflusst seien: Dies sei dann nicht der Fall, wenn
Richter auf Lebenszeit gewählt sind oder nicht wiedergewählt werden können, wenn
sie nicht von einer höheren Instanz überstimmt werden können (wenn sie also beispielsweise Mitglieder eines höchsten Gerichtes oder eines Verfassungsgerichtes
sind) und wenn es ihnen an politischen Ambitionen für die Zeit nach ihrer richterlichen Tätigkeit mangelt. Andere Arbeiten wiederum (z. B. Epstein/Knight 1998)
behaupten, dass selbst unter diesen Umständen die Präferenzen politischer Akteure
für Richter relevant sind – zumindest dann, wenn diese fürchten müssen, dass ihre
Urteile von politischen Akteuren ignoriert oder auf anderen Wegen sabotiert werden
könnten.
Zudem scheint für die Beschränkung richterlicher Macht relevant, welche institutionellen Möglichkeiten politische Akteure haben, Handlungsmöglichkeiten von
Gerichten einzuschränken oder Urteile durch Neufassung verfassungsrechtlicher
Normen zu umgehen. Die Reaktion politischer Akteure auf unliebsame Urteile kann
– je nach institutionellen Möglichkeitsstrukturen – vielfältig sein: Politische Akteure
können unter Umständen eine Veränderung der Zusammensetzung eines Gerichts
vornehmen, Verfassungsänderungen veranlassen, Richter aus ihrem Amt entfernen,
Zuständigkeiten und Verfahrensregeln eines Verfassungsgerichts über die Neufassung von Verfassungsgerichtsgesetzen verändern, die budgetäre Ausstattung eines
Gerichts beschneiden oder auch die Größe eines Gerichtes und seiner Kammern
verändern, um darüber eine Änderung des Abstimmungsverhaltens eines Gerichtes
zu erreichen (vgl. Rosenberg 1992).
Allerdings stehen die hier angesprochenen Möglichkeiten politischen Akteuren
nicht ohne weiteres zur Verfügung; die institutionellen Handlungsmöglichkeiten
variieren von Land zu Land beträchtlich. Und nicht immer ist eine so harsche Reaktion wie im Falle Boris Yeltsins in Russland zu erwarten (und institutionell möglich), der im September 1993 gleich das gesamte Verfassungsgericht per Dekret
wegen unerwünschter Urteile suspendierte, nachdem er zuvor schon versucht hatte,
über den Entzug von Dienstwagen und Datschen die Richter des russischen Verfassungsgerichtes gefügig zu machen (vgl. hierzu Schwartz 2000: 140 ff.). Insgesamt
bietet auch hier die vorhandene Literatur kein einheitliches Bild, weder theoretisch
noch empirisch. Grenzen und Beschränkungen richterlicher Macht müssen daher
durch tiefer gehende Fallstudien und vergleichende Analysen geklärt und in ein
klareres Bild gesetzt werden. Die vorliegende Studie will hierzu einen Beitrag leisten. Das Gleiche gilt auch für den umgekehrten Fall des Einflusses, den richterliches
Handeln auf politische Akteure ausübt oder die Beeinflussung eines Gerichts durch
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die öffentliche Meinung. Auch hier stehen klare empirische Befunde bislang noch
aus und harren weiterer Aufklärung (vgl. Epstein/Knight 2004: 184).
Ebenso ungeklärt ist bislang auch die dritte Frage nach den Mechanismen richterlicher Entscheidungsfindung. Die Antwort auf die Frage, wie Richter zu ihren Urteilen finden und welchen Beitrag hierfür Auslegungsmethoden und (im US-Fall) Präzedenzfälle leisten, ist nach wie vor offen. Die Debatte um den Einfluss von Präzedenzfällen beispielsweise hat im US-amerikanischen Diskussionskontext kuriose
Antworten erbracht: Präzedenzfälle spielen, so die bislang vorliegenden Ergebnisse,
keine, kaum eine oder auch eine große Rolle (vgl. ebd.: 185). Unterschiede lassen
sich allenfalls zwischen Gerichten niederer Instanz und höchster Instanz feststellen:
Gerichte niederer Instanz respektieren häufiger Präzedenzfälle, da sie entweder von
höherrangigen Gerichten überstimmt werden können, oder weil sie es als ihre professionelle Aufgabe ansehen, Präzedenzfälle wegen ihrer prinzipiellen Bedeutung
für das Rechtssystem insgesamt aufrecht zu erhalten. Diese dem „historischen Institutionalismus“ verpflichtete Sichtweise ist allerdings selbst wiederum höchst umstritten, da hier die Policy-Orientierung von Richtern implizit in Frage gestellt wird.
Dass Policy-Orientierungen keine Rolle spielen, bestreiten aber gerade die Anhänger
des oben angesprochenen „strategischen Modells“. Sie glauben entweder, dass Richter ausschließlich Policy-Ziele verfolgen (z. B. Segal/Spaeth 2002) oder zumindest,
dass Präzedenzfälle bestenfalls externe Beschränkungen bei der Erreichung dieses
Policy-Zieles sind. Durch Präzedenzfälle kann nach dieser Auffassung eine Policy-
Position allenfalls strategisch angepasst werden, um möglichst nah an das eigentlich
präferierte Ergebnis zu gelangen (z. B. Epstein/Knight 1998). Aber auch hier bieten
die vorliegenden empirischen Studien keinen eindeutigen Rückhalt für eine dieser
Positionen (vgl. für eine Übersicht Clayton/Gillman 1999).
Theorien und Methoden
Diese grundlegenden Fragen sind, insbesondere für die Rechtswissenschaft, nicht
unbedingt neue, sondern werden seit vielen Jahrzehnten gestellt und – mit unterschiedlichem Erfolg – beantwortet. Neuerungen sind in den letzten Jahren hingegen
im theoretischen Zugang festzustellen: Noch vor 50 Jahren kamen Studien über die
Arbeit von Verfassungsgerichten ganz überwiegend ohne jeglichen theoretischen
Zugang aus, da sie vor allem dogmatische Interpretationen von Gerichtsurteilen
pflegten oder rein normativen Betrachtungen nachgingen (vgl. Epstein/Knight 1998:
173). Dies änderte sich erst in den frühen 1960er Jahren, als mit der behavioralistischen Revolution in den Sozialwissenschaften und dem Aufkommen von Rollentheorien, Verhaltenstheorien, Theorien der sozialen Herkunft und vielem mehr eine
„Theorienexplosion“ auch in der Untersuchung gerichtlicher Entscheidungsfindung
zu verzeichnen war. Insbesondere die im US-Kontext weit rezipierte Theorie des
attitudinal approach (Segal et al. 1995; Segal/Spaeth 2002) ist zu diesen Neuerungen zu zählen, die auf Basis eines behavioralistischen Theorienverständnisses vor
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allem daran interessiert ist, die Policy-Präferenzen der handelnden Richter herauszuarbeiten und darüber das Handeln und die Wirkung von Verfassungsgerichten zu
erklären. Insbesondere die individuellen Wertpräferenzen der einzelnen Richter
sollen Aufschluss über die Urteilsfindung eines Gerichtes geben. Nach dieser Auffassung betreiben Richter in erster Linie judicial policy-making.
Erweitert worden sind diese Zugänge in den letzten 20 Jahren vor allem durch die
Arbeiten der Rational-Choice-Theorie und der modernen Institutionentheorie, die
Präferenzen von richterlichen und politischen Akteuren und ihre Einbettung in institutionelle Kontexte in die theoretischen Erklärungsmodelle mit einfließen lassen
(sehr einflussreich z. B. Eskridge 1994; siehe auch Clayton/Gillman 1999; Stone
Sweet 2000; Vanberg 2001, 2005a).
Methodisch lassen sich mit Epstein und Knight (2004: 175) zwei Dimensionen der
Forschung unterscheiden: die erste Dimension beschreibt die unterschiedliche Art der
empirisch erhobenen Daten, die zweite Dimension die Werkzeuge, mit denen diese
Daten analysiert, verarbeitet und interpretiert werden. Die Daten selbst können quantitativer oder qualitativer Art sein, vergangene Zeiträume betreffen oder gegenwärtige,
sie können über Interviews, über die Auswertung von Sekundärdaten oder als Primärdaten erhoben worden sein. Die Auswertung der Daten wiederum kann in einer
einfachen Kategorisierung bis hin zu komplexen multivariaten Modellen erfolgen.
Hinsichtlich der zentralen Forschungsfragen, der zugrunde liegenden Theorien
und der angewandten Methoden ist also eine große Vielfalt festzustellen. Vor allem
bei den gewählten theoretischen Zugängen ist bislang kein zentraler Forschungsansatz ersichtlich, der in seiner Erklärungs- oder Prognosefähigkeit anderen Ansätzen
überlegen und deswegen vorzuziehen wäre. Die Ergebnisse der Untersuchungen
unterscheiden sich zum Teil erheblich oder kommen sogar zu gänzlich konträren
Resultaten. Andererseits zeichnet sich ab, dass neo-institutionalistisch argumentierende Ansätze sowohl in der Politikwissenschaft generell als auch in der Analyse
verfassungsgerichtlichen Handelns eine zunehmende Attraktivität gewinnen.
Inhaltlich ist auffällig, dass sich viele der vorliegenden Arbeiten zwar mit Fragen
der Richterwahl, der institutionellen Begrenzung richterlicher Macht oder dem institutionellen Zusammenspiel von Gerichten und Gesetzgeber auseinandersetzen, dass
aber kaum Studien zu der Frage vorliegen, welche Auswirkung und Bedeutung Verfassungsgerichte faktisch für das Funktionieren von modernen Demokratien haben;
es wird selten untersucht, ob Verfassungsgerichte in bestimmten Politikbereichen
häufiger aktiv werden als in anderen, worauf dies zurückzuführen sein könnte und
welche Auswirkungen dies auf das Zusammenspiel der Gewalten und das Funktionieren der Demokratie hat. Bislang noch gar nicht empirisch untersucht worden ist
die Frage, ob die Arbeit von Verfassungsgerichten die Qualität von Demokratien
beeinflusst und ob Gerichte durch ihre konkreten Entscheidungen positive oder
negative Auswirkungen auf das Funktionieren eines demokratischen Institutionensystems haben.
Mit Christoph Hönnige lässt sich die bislang vorliegende Literatur zu Verfassungsgerichten folgendermaßen klassifizieren (Hönnige 2007: 30 f.): Die juristische
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Literatur beschäftigt sich entweder mit rein normativen Fragen der Verfassungsgerichtsbarkeit (z. B. Badura/Scholz 1998) oder beschränkt sich auf die institutionelle
Beschreibung einzelner oder mehrerer Gerichte (z. B. Starck/Weber 1986). Die europäische Politikwissenschaft hingegen untersucht vor allem entweder die These einer
zunehmenden „Justizialisierung der Politik“ (z. B. Landfried 1984; Stone Sweet 2000)
oder gerade die Grenzen dieser Justizialisierung (z. B. Vanberg 2005a).13 Und die
amerikanische Forschung zum US-Supreme Court lässt sich vor allem in solche Untersuchungen unterscheiden, die dem attitudinal approach (z. B. Segal/Spaeth 2002),
der Rational-Choice-Theorie (z. B. Epstein/Knight 1998) oder eher soziologischinstitutionalistischen Ansätzen (z. B. Clayton/Gillman 1999) folgen. Für alle drei Kategorien von Untersuchungen gilt, dass sie entweder die Präferenzen einzelner Verfassungsrichter untersuchen, die intrainstitutionellen Spielregeln eines Gerichtes betrachten (z. B. die Mechanismen der Entscheidungsfindung innerhalb des Gerichts) oder die
interinstitutionelle Beziehung zwischen Verfassungsgerichten und anderen Akteuren
(Politik, Öffentlichkeit) zum Gegenstand haben (vgl. Hönnige 2007: 33 ff.).
Der interinstitutionellen Beziehung zwischen Verfassungsgericht und anderen Akteuren widmet sich auch diese Untersuchung, da sie nach der Abgrenzungsproblematik
zwischen Verfassungsgerichten und Politik im engeren sowie der Rolle von Verfassungsgerichten im demokratischen Prozess im weiteren Sinne fragt. Keine der bislang
vorliegenden Studien verbindet die normativ-demokratietheoretische mit der institutionell-analytischen Untersuchungsebene. Genau dies strebt die vorliegende Arbeit an,
da gerade hier eine Lücke in der politik- wie rechtswissenschaftlichen Forschung vorzuliegen scheint. Dass sich bisherige Arbeiten gerade zur Frage des Beitrags von Verfassungsgerichten zur Qualität der Demokratie zurückhaltend geäußert haben, ist
durchaus erklärbar: Normative Annahmen sind nur begrenzt wahrheitsfähig, und die
Sozialwissenschaft betritt mit normativen Schlussfolgerungen meist vermintes Gelände. Nichtsdestotrotz (oder vielleicht gerade deshalb) ist die Frage nach dem Beitrag
von Verfassungsgerichten zur Qualität von Demokratien aber eine überaus relevante.
Auf dem bislang wenig beackerten Feld des qualitativen Zusammenspiels von Verfassungsgerichten und Politik verspricht sie neue Einsichten und, wenn schon nicht
wahrheitsfähige, so doch zumindest plausible neue Erkenntnisse.
1.3 Fragestellung(en) und methodisches Vorgehen
Eine Untersuchung der demokratischen Rolle von Verfassungsgerichten und der
„Abgrenzungsproblematik“ zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht impliziert
13 Unter „Justizialisierung“ lässt sich eine zunehmende Produktion verfassungsgerichtlicher
Entscheidungen verstehen, durch die in der Folge die Ausübung legislativer Macht begrenzt
wird und die von politischen Akteuren auch als Begrenzung wahrgenommen wird. „Politisierung“ meint das bewusste Einschalten eines Verfassungsgerichts durch politische Akteure mit
dem Ziel einer nachträglichen Änderung der Gesetzgebung (siehe auch Stone Sweet 2000:
194 f.).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Verfassungsgerichte sind machtvolle Akteure und zentrale Mitspieler in fast allen liberalen Demokratien. Gleichwohl wird ihre Demokratiekompatibilität mitunter in Frage gestellt, wenn sie – demokratisch vergleichsweise schwach legitimiert – in demokratische Prozesse intervenieren.
Der vorliegende Band analysiert die spezifischen Funktionen, die Verfassungsgerichte für demokratische Regierungssysteme erbringen und argumentiert, dass Verfassungsgerichte nicht nur keine Gegenspieler demokratischer Politik sind, sondern dass sie für demokratisches Regieren schlichtweg konstitutiv sind. Anhand einer umfassenden Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der letzten 55 Jahre wird empirisch belegt, dass das höchste deutsche Gericht in der Vergangenheit überaus demokratiefunktional agiert und damit wesentlich zur hohen Qualität der bundesdeutschen Demokratie beigetragen hat.
Sascha Kneip ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Demokratieforschung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).